# taz.de -- 68er-Proteste in Polen: Alles Zionisten
       
       > Antisemitismus war in Polen ein Rezept gegen die Krise des Kommunismus.
       > Die Juden wurden aus dem Land gejagt. Einer kehrt Jahre später zurück.
       
 (IMG) Bild: 2018: Eine Demonstration gegen Antisemitistmus und Rassismus in Warschau
       
       Blau ist das Reisedokument, das sich Polens Juden 1968 bei den Behörden
       abholen müssen. Es berechtigt sie zur Ausreise. Beim Überschreiten der
       Staatsgrenze verlieren sie aber zugleich die Staatsbürgerschaft. Michał
       Sobelman besitzt die als Pass getarnte Ausbürgerungsurkunde bis heute.
       Anders als die meisten der rund 13.000 polnischen Juden, die Ende der
       1960er Jahre ihre Heimat verlassen müssen, ziehen Sobelman und sein Vater
       nicht in die USA, nach Kanada, Schweden oder Großbritannien, sondern nach
       Israel. Sobelman ist damals 16. „Wir reisten aus, weil Polen das einzige
       Land war, in dem wir weder Juden noch Polen sein durften“, sagt er.
       
       Heute ist Michał Sobelman 65 und Presseattaché der israelischen Botschaft
       in Warschau. „Dennoch kann man nicht von einer ‚Rückkehr‘ im vollen
       Wortsinne sprechen“, sagt er. „Denn ich bin heute vor allem ein Israeli.“
       Nach dem Militärdienst studiert er Geschichte an der Hebräischen
       Universität in Jerusalem, anschließend arbeitet er in der
       Holocaustgedenkstätte Yad Vashem.
       
       „Ich fing relativ spät an, mich für mein Judentum und die Geschichte meiner
       Familie zu interessieren“, sagt er. Nach dem Tod seines Vater 1983 findet
       er im Nachlass ein Foto mit einem Datum auf der Rückseite: 23. Juni 1943.
       Die lächelnde und gut aussehende junge Frau neben seinem Vater war dessen
       erste Ehefrau, erfährt Sobelman. Sie ist wenig später in den Gaskammern von
       Auschwitz gestorben, ebenso wie die Eltern des Vaters und dessen
       Geschwister. Er selbst überlebte nur, weil ein Deutscher ihn und sechs
       andere Juden als „kriegswichtige Arbeiter“ in seiner Firma beschäftigte.
       
       ## „Die fünfte Kolonne“
       
       „1968 hatte ich davon keine Ahnung“, sagt Sobelman. „Ich war 15 und zum
       ersten Mal verliebt.“ Dabei braut sich damals für Polens Juden etwas
       Ungutes zusammen. Schon im Juni 1967, als die meisten Ostblockländer nach
       dem Sechstagekrieg die diplomatischen Beziehungen zu Israel abbrachen, hat
       der Generalsekretär der Kommunistischen Partei Polens Władysław Gomułka
       eine erste antisemitische Rede gehalten. „Er bezeichnete uns als fünfte
       Kolonne und stellte unsere Loyalität infrage“, so Sobelman.
       
       Trotz der Erfolgspropaganda nimmt die Wirtschaftsmisere zu, die
       Lebensmittelpreise steigen – und es kommt zu ersten Streiks. In der
       Parteiführung beginnt ein Konkurrenzkampf zwischen Gomułka und dem
       Innenminister Moczar. Zwar verständigen sie sich auf ein gemeinsames
       Konzept – die Schaffung eines polnischen Sozialismus mit
       patriotisch-nationalistischem Einschlag –, doch im Machtgerangel will der
       eine antisemitscher sein als der andere. Zu den gefährlichsten äußeren
       Feinden erklärt die Parteipropaganda Westdeutschland und Israel, im Innern
       sind es „die Zionisten“, die als angebliche Handlanger der
       „imperialistischen Mächte“ bekämpft werden müssten. Zugleich müssen Polens
       Juden als Alleinschuldige für die Verbrechen der polnischen Stalinisten
       herhalten.
       
       „Dass die Partei Ende Januar 1968 das Theaterstück ‚Die Totenfeier‘ von
       Adam Mickiewicz in Warschau absetzen ließ, es danach zu Protesten kam und
       im März die ersten Studenten verhaftet wurden, erfuhren wir in Schlesien
       mit einem gewissen Zeitverzug“, sagt Sobelman.
       
       Die antisemitische Hetze in den Staatsmedien und auf „spontanen
       Arbeiterkundgebungen“ erfasst das ganze Land. Am 19. März 1968 hält Gomułka
       vor 3.000 Parteiaktivisten im Warschauer Kulturpalast eine antisemitische
       Hetzrede, die live übertragen wird. „Diese Rede hat unser Leben
       erschüttert. Es war plötzlich klar, dass es für uns keinen Platz mehr in
       Polen gab.“
       
       Von den 3,5 Millionen Juden im Vorkriegspolen überlebten nur 300.000 den
       Holocaust. Heute leben in Polen rund 5.000 bis 20.000 Juden.
       
       Von den 1968er-Emigranten kehrte kaum jemand zurück.
       
       7 Apr 2018
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Gabriele Lesser
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Schwerpunkt 1968
 (DIR) Polen
 (DIR) Antisemitismus
 (DIR) Holocaust
 (DIR) Dokumentarfilm
 (DIR) Auschwitz-Prozess
 (DIR) Schwerpunkt 1968
 (DIR) Schwerpunkt 1968
 (DIR) Schwerpunkt 1968
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Wahrheitsfindung in Polen: Vergangenheit glätten
       
       Ein Urteil in Warschau gegen zwei renommierte Holocaustforscher
       gefährdet die weitere Geschichtsaufarbeitung in Polen.
       
 (DIR) Dokumentarfilm über Stil um 1940: Mit Mutwillen und Terrier
       
       Stil ist dort, wo auf die Umstände erst gar nicht geachtet wird. Das zeigt
       ein Dokumentarfilm, der sich der Gutsherrin Lona von Lieres widmet.
       
 (DIR) Prozess gegen Auschwitz-Wachmann: Wegen Beihilfe zum Mord angeklagt
       
       Das Landgericht Mannheim muss entscheiden, ob es den Prozess gegen einen
       94-Jährigen eröffnet. Derzeit laufen mehrere Verfahren gegen Nazi-Greise.
       
 (DIR) Literat Domenico Starnone über 68: „Lügen ist leichter“
       
       Der italienische Autor Starnone beschreibt in seinem Roman „Auf immer
       verbunden“ die Folgen von 1968 fürs Private und die selbst gewählten Käfige
       der Moral.
       
 (DIR) 68er-Proteste in Japan: Ausufernde Gewalt auf allen Seiten
       
       Wer in Japan zum Studieren in die Städte zieht, muss enge Unterkünfte und
       volle Hörsäle ertragen. 1968/69 entlud sich die Wut darüber in der Revolte.
       
 (DIR) 68er-Proteste in Mexiko: „Die Schläge haben mich politisiert“
       
       Vor der Olympiade 1968 sah man Demos der Studierenden in Mexiko als
       imageschädigend an. Polizei und Militär schlugen sie brutal nieder.