# taz.de -- Demographin über Bremer Nachwuchs: „Das haben wir nicht kommen sehen“
       
       > Die Demographin Eva Kibele vom Landesamt für Statistik erläutert, warum
       > so viele Kita-Plätze fehlen und wieso niemand mit einer steigenden
       > Geburtenrate rechnete.
       
 (IMG) Bild: Verkalkuliert: Die Leine ist nicht lang genug für alle T-Shirts und Strampler
       
       Frau Kibele, in Bremen fehlen in den kommenden zwei Jahren 3.800
       Kita-Plätze, künftig soll es 18 Prozent mehr Grundschüler geben. Warum
       haben Sie das nicht kommen sehen? 
       
       Eva Kibele: Wenn man die Geburtenzahlen anschaut, gibt es verschiedene
       Entwicklungen. Wir wussten, dass es derzeit eine hohe Anzahl von Frauen im
       gebärfähigen Alter gibt – nämlich die Kinder der Baby-Boomer. Aber dass
       dazu noch die Geburtenrate ansteigt, haben wir nicht kommen sehen. Der
       Trend ist neu. Ein dritter Faktor ist mehr Zuwanderung. Zusammen führt das
       zu einem deutlichen Anstieg der Geburtenzahlen.
       
       Aber man wusste doch, dass die Kinder der geburtenstarken Jahrgänge, der
       sogenannten Baby-Boomer, irgendwann geschlechtsreif sind. Wieso kann es
       dann überraschend sein, dass es jetzt zu mehr Geburten kommt? 
       
       Den Anstieg der Rate konnte man vor zwei Jahren natürlich auch schon
       erkennen. Aber wir haben Zeitreihen seit 1970 und immer wieder gibt es
       Schwankungen. Auf einen kurzfristigen Anstieg folgte oft ein Rückgang. Und
       vor zwei Jahren war die Frage: Wie konstant würde dieser Trend sein? Heute
       können wir guten Gewissens sagen: Die Rate bleibt wohl auf einem höheren
       Niveau. Aber Vorausberechnungen sind immer mit Unsicherheiten behaftet.
       
       Also: Prognosen sind immer schwer, wenn sie die Zukunft betreffen. Hätten
       Sie nicht mit den aktuellen Zahlen zumindest früher Alarm schlagen können? 
       
       Es ist problematisch und unwissenschaftlich, sich allein auf eine
       kurzfristige Veränderung zu stützen. Nach einem größeren Zeitraum ist das
       etwas anderes.
       
       Aber trotz steigender Geburtenrate wurde die Versorgung seit 2013 nicht
       ausgebaut. Gibt es keinen kurzen Dienstweg in die Behörden oder haben die
       zu langsam reagiert? 
       
       Im Statistischen Landesamt produzieren und veröffentlichen wir Daten, auch
       die Bevölkerungsstatistik. Durch eine bundesweite Verfahrensumstellung
       konnten die aktuellen Bevölkerungszahlen nur mit etwas Verzögerung
       veröffentlicht werden.
       
       Aber es kann doch nicht so schwer sein, Geburten zu zählen. 
       
       Wir erheben ja nicht nur Geburtenzahlen, sondern beschreiben die
       Bevölkerungsentwicklung als Ganzes, das ist schon etwas komplizierter. In
       Bremen kommen auch etwa viele Geburten aus dem Umland hinzu, also Menschen,
       welche nur die medizinische Infrastruktur hier wahrnehmen. Wir müssen
       natürlich Daten mit Wohnortbezug erheben und unsere Daten mit den anderen
       Ländern austauschen.
       
       Ist denn jetzt wenigstens das viel zitierte Schreckgespenst vom
       „demografischen Wandel“ hinfällig? 
       
       Als Demografin schmunzele ich immer über den Begriff „demografischer
       Wandel“. Aus wissenschaftlicher Sicht gibt es, seitdem es Menschen gibt,
       auch immer einen demografischen Wandel. Es kommt darauf an, was man
       darunter versteht. Meistens ist damit vor allem Alterung gemeint.
       Demografen nennen das auch nicht „Überalterung“ – und überhaupt ist es erst
       einmal positiv, dass wir länger leben und in besserer Gesundheit sind.
       
       Immerhin wurde mit diesen Worten eine einschneidende Arbeitsmarktreform
       legitimiert. Ist es ein ideologischer Kampfbegriff? 
       
       Nein. Man kann demografischen Wandel als neutralen Begriff werten. Aber
       natürlich ist Politik nicht demografiefest. In den Planungen wird auf die
       nächsten paar Jahre geschaut. Wenn man sich die Bevölkerungspyramide
       anschaut, kann man aber trotzdem ganz gut sehen, was in den nächsten 20 bis
       30 Jahren passieren wird: Die Kinder der Baby-Boomer sind noch eine Weile
       in dem Alter, in dem sie Kinder bekommen. Die Baby-Boomer selbst gehen in
       den nächsten zwei Jahrzehnten in Rente, was sich stark auf den Arbeitsmarkt
       und die Rentenversicherung auswirken wird.
       
       Was bedeutet das für die Alterung der Gesellschaft? 
       
       Die derzeitige Entwicklung mit höheren Geburtenzahlen und Zuwanderung wirkt
       der Alterung entgegen. Auch das Durchschnittsalter ist in Bremen leicht
       zurückgegangen. Aber Trends lassen sich langfristig schwierig vorhersagen.
       Deswegen arbeiten Demografen gerne mit verschiedenen möglichen Szenarien
       und geben eine Spanne mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit an. Damit sind
       Planer natürlich nicht immer zufrieden.
       
       In der Schule habe ich damals gelernt, dass eine Pyramidenform der
       Normalfall einer Gesellschaft und eine Geburtenrate von 2,1 erstrebenswert
       sei. 
       
       Die wenigsten Länder weisen eine pyramidenförmige Altersstruktur mit sehr
       vielen jungen und sehr wenigen alten Menschen auf. Länder mit
       pyramidenförmiger Altersstruktur haben hohe Geburten- und Sterberaten und
       oft massive gesellschaftliche Probleme wie Jugendarbeitslosigkeit.
       
       Also ist es gar nicht zwingend schlecht, wenn eine Gesellschaft altert? 
       
       Nein. Es ist zu kurz gegriffen, die alternde Gesellschaft per se als
       negativ zu bezeichnen. Schauen Sie sich doch mal die heute 65-jährigen an.
       Die meisten sind fit! Viele der heute geborenen Mädchen erleben wohl ihren
       100. Geburtstag. Alter trägt auch zur Vielfalt bei. Der Umgang mit den
       Auswirkungen des demografischen Wandels sollte im gesellschaftlichen
       Diskurs entschieden werden. Unsere Daten bieten dafür eine objektive
       Grundlage.
       
       Aber es ist dennoch seit 20 Jahren Mainstream, dass die Rentensysteme bald
       zusammenbrechen und der Fachkräftemangel unerträglich wird. Ist das also
       Quatsch? 
       
       Der Fachkräftemangel trifft jetzt schon bestimmte Branchen verstärkt,
       während es in anderen hohe Arbeitslosigkeit gibt. Die Rentensysteme können
       sich auf eine größere Zahl Rentner einstellen, indem weniger Rente
       ausbezahlt wird, das Renteneintrittsalter oder die Beiträge erhöht werden.
       Für die meisten sind all diese Anpassungen nicht erstrebenswert. Natürlich
       braucht es auf diesem Gebiet mehr Aufklärung und eine Politik, die weiter
       in die Zukunft denkt.
       
       19 Apr 2018
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Gareth Joswig
       
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