# taz.de -- Provinz Aceh in Indonesien: Im Traumland der Islamisten
       
       > In Indonesiens Provinz Aceh gilt die Scharia. Die Region steht
       > beispielhaft für einen Gottesstaat. Die Radikalisierung greift auf andere
       > Landesteile über.
       
 (IMG) Bild: Volksfeststimmung: Vollstreckung einer Prügelstrafe Ende April vor einer Moschee in Banda Aceh
       
       BANDA ACEH taz | Ein Schlag – und der Kopf ist ab. Ali Mohammed tötet im
       Akkord. Dutzende von Fischen enthauptet der 37-Jährige im Verlauf eines
       Morgens mit seinem schweren Messer. Vor ihm auf dem Tresen, an seinem
       Marktstand in Banda Aceh, zucken die kopflosen Tiere in einer schleimigen
       Mischung aus Blut und Wasser, als Mohammed klarmacht, was er von
       Homosexuellen hält. „Mit denen sollten sie es auch so machen“, sagt
       Mohammed lachend, „Kopf ab.“
       
       Man muss lange suchen, bis man in der konservativsten Provinz Indonesiens
       jemanden findet, der Ali Mohammeds Abscheu vor Homosexuellen nicht teilt
       und sich nicht fast enthusiastisch für die archaischen Strafen ausspricht,
       die jenen drohen, die der gleichgeschlechtlichen Liebe beschuldigt werden.
       
       In der Provinz Aceh im Norden der Insel Sumatra gilt, wovon indonesische
       Islamisten träumen: die Scharia, das islamische Gesetz. Wer gewisse Regeln
       verletzt, dem droht die Rute. Homosexueller Kontakt gehört dazu. Und
       Ehebruch. Und das Zusammensein unverheirateter Männer und Frauen;
       nichteheliches Küssen sogar.
       
       „Unislamisches Verhalten“ sei das alles, erklärt im Fernsehen Ritasari, die
       Chefin der Islamischen Polizei, die wie viele Indonesierinnen und
       Indonesier nur einen Namen trägt. Ihre Leute – unter ihnen viele junge
       Frauen – patrouillieren in dunkelgrünen Uniformen durch die Stadt. Die
       Beamten weisen Frauen zurecht, die ihr Kopftuch nicht korrekt tragen. Sie
       belehren Männer, die am Freitagnachmittag im Restaurant Tee trinken, statt
       in die Moschee zu gehen.
       
       ## Bis zu 100 Schläge
       
       Besonders sind ihnen auch „Leggings“ ein Dorn im Auge, eng anliegende
       Hosen. Wer sie trägt und von der Polizei erwischt wird, kommt in der Regel
       mit einer Verwarnung davon, einem „Hinweis“, wie die Polizeichefin es
       ausdrückt. Bei schwereren „Vergehen“ wird Meldung an das Scharia-Gericht
       erstattet. Bei Ehebruch und Glücksspiel etwa. Und homosexuellem
       Geschlechtsverkehr. Dafür droht der Stock. Bis zu 100 Schläge.
       
       85 Prozent der rund 260 Millionen Indonesierinnen und Indonesier sind
       Muslime. In dem Land gilt ein Strafrecht, das sich an dem der früheren
       Kolonialherren orientiert, der Niederländer. Doch in Aceh gelten
       Sonderregelungen, aus verschiedenen Gründen, nicht zuletzt der Geschichte.
       
       Früher war die Provinz eines der führenden islamischen Sultanate in
       Südostasien. Der Islam soll aus dem arabischen Raum über Aceh nach
       Indonesien gekommen sein. Seit 1998 hat die Provinz eine Sonderstellung im
       Vielvölkerstaat Indonesien, was Autonomie und Rechtsprechung angeht. Die
       Erlaubnis, Gesetze nach den Regeln der Scharia einzuführen und zu
       vollstrecken, war das wichtigste Zugeständnis der Nationalregierung, damit
       sie 2005 einen jahrzehntealten Unabhängigkeitskampf beenden konnte.
       
       Seit Abschluss der Friedensvereinbarung mit der Rebellengruppe Free Aceh
       Movement (GAM) und Jakarta hat die Provinzregierung von Aceh das
       Scharia-Recht sukzessive ausgeweitet. Weit über 500 Menschen sind mit der
       Rute bestraft worden, seit die Provinzregierung im Oktober 2015 den Islamic
       Criminal Code endgültig eingeführt hat.
       
       Das Szenario ist fast immer dasselbe: Der oder die zu Bestrafende kniet am
       Boden, Körper und Kopf meist mit einem weißen Gewand verhüllt. Daneben
       steht der schwarz gekleidete vermummte Vollstrecker. Mit einem Bambusstock
       schlägt er dem Opfer auf den Rücken. Jeder Schlag wird von einem
       Offiziellen mitgezählt, alles muss korrekt ablaufen. Nur selten hört man
       die Bestraften klagen. Einige wimmern, andere weinen stumm ein paar Tränen
       des Schmerzes.
       
       ## Volksfeststimmung bei der Prügelstrafe
       
       Deutlich lauter sind die Zuschauer: Dutzende, manchmal Hunderte wohnen den
       Prügelstrafen bei. Mit ihren Mobiltelefonen filmen sie das Spektakel.
       Volksfeststimmung herrschte auch vor etwas über einem Jahr, als zwei knapp
       20-jährige Männer mitten in Banda Aceh bestraft wurden. Ihr Verbrechen?
       Nachbarn hatten sie zusammen in einem Apartment erwischt. Die beiden waren
       nackt, als Polizisten das Haus stürmten. Bilder von der Verhaftung machen
       in den sozialen Medien bis heute die Runde.
       
       Menschenrechtsorganisationen, die Vereinten Nationen und eine Vielzahl
       humanitärer Gruppen geben jedes Mal lauthals ihrer Empörung Ausdruck, wenn
       Bilder von Prügelstrafen durch die Medien zirkulieren. Die Proteste aus dem
       Westen haben in Aceh aber nicht etwa ein Umdenken ausgelöst.
       
       Provinzgouverneur Irwandi Yusuf verfügte jüngst, Prügelstrafen sollten
       künftig nur noch unter Ausschluss der Öffentlichkeit – und vor allem von
       Smartphones – vollzogen werden. Er hat Angst, die Methoden könnten Anleger
       davon abhalten, in seiner Provinz zu investieren.
       
       Aceh ist besonders reich an natürlichen Rohstoffen wie Öl, Gas und
       Mineralien. Doch die Begeisterung europäischer Geschäftsleute für ein Leben
       in Banda Aceh hält sich in Grenzen. „Ich bin jedes Mal froh, wenn ich hier
       wieder weg bin“, sagt ein Brite. Er hat sich in der einige hundert
       Kilometer südlich liegenden Stadt Medan niedergelassen. „Dort kann ich am
       Abend wenigstens ein Bier trinken.“
       
       Gouverneur Yusuf ist nicht einmal einer der radikalsten Anhänger der
       islamischen Bestrafungsmethoden. Der ehemalige Anführer von GAM hatte sich
       lange gegen die Einführung noch brutalerer Methoden aufgelehnt. So weigerte
       er sich 2009, ein Gesetz zu unterzeichnen, das die Steinigung von
       Ehebrechern ermöglicht hätte.
       
       ## Die zufriedene Christin
       
       „Ich habe kein Problem mit der Scharia“, sagt Sheilisa Pieter, Rektorin an
       der methodistischen Schule SMA, einer der wenigen nichtislamischen Schulen
       in Banda Aceh. Zwar gelten gewissen Paragrafen des islamischen Gesetzes
       auch für Andersgläubige. Doch sie werden deutlich seltener an ihnen
       angewendet.
       
       „Wir können wählen, ob wir nach den indonesischen Gesetzen gerichtet werden
       wollen oder nach der Scharia“, sagt Pieter, die sich als Christin im streng
       islamischen Banda Aceh „immer sehr sicher“ fühle, „nicht zuletzt, weil die
       Leute eben Achtung haben vor der Scharia“. Nicht wenige Nichtmuslime würden
       sich für die Scharia entscheiden, wenn ihnen etwas vorgeworfen wird. Der
       Prozess sei in der Regel schneller als ein Gang durch die traditionellen
       Gerichte.
       
       So erhielt jüngst ein christliches Paar öffentlich die Prügelstrafe, weil
       es ein Kinderspiel als Glücksspiel „missbraucht“ habe, so das Urteil des
       Scharia-Gerichts. Die Verurteilten hatten den Stock den möglichen
       Alternativen vorgezogen: einer heftigen Buße, vielleicht sogar Gefängnis.
       
       Für den Historiker und Aceh-Experten Michel Feener ist klar: Die Einführung
       der Scharia in der Provinz war „nie getrieben von einem nostalgischen,
       utopischen Verlangen nach einer Rückkehr zu einem Arabien des siebten
       Jahrhunderts“, schreibt er. In einer 2013 veröffentlichten Studie kommt er
       zu dem Schluss, die Scharia habe mehr mit „Social Engineering“ zu tun, mit
       einem Bestreben, die Gesellschaft umzustrukturieren, um Aceh nach dem
       langen Unabhängigkeitskonflikt und dem Tsunami von 2004 wiederaufzubauen.
       
       ## Der Tsumami als Zeichen Allahs
       
       Mindestens 280.000 Menschen starben – die meisten von ihnen in der Provinz
       Aceh – , [1][als sich am 26. Dezember 2004 nach einem Unterseebeben vor der
       Nordküste Sumatras eine Flutwelle aufbaute] und weite Teile der
       Küstenregionen des Indischen Ozeans zerstörte, von Thailand über Myanmar
       bis Somalia. Banda Aceh wurde von bis zu 30 Meter hohen Wellen vernichtet.
       
       Die Tatsache, dass mehrere Moscheen als einzige Gebäude dem enormen Druck
       der Fluten standgehalten hatten, galt vielen Menschen in der Region als
       „ein Zeichen Allahs“. Das sagt auch Nurlinda, eine Geschäftsfrau, die bei
       der Katastrophe über hundert Angehörige verloren hat. Keine Einzige ihrer
       Liebsten habe sie begraben können, sagt sie, „das Meer hat sie alle
       verschluckt“.
       
       Nurlinda ist überzeugt, dass der Tsunami „eine Strafe Allahs“ für die
       Sünden der Menschen gewesen sei. „Die Welle hat mich zu einer besseren
       Muslimin gemacht“, meint sie. Dass ihre Provinz Vergehen und Verbrechen
       nach der Scharia verfolge, ist für sie „selbstverständlich und völlig
       normal“.
       
       ## Bedrohter Liberalismus
       
       Noch gilt Indonesien als eines der liberalsten, offensten unter den
       islamischen Ländern. Progressive Kräfte beobachten die Entwicklung in Aceh
       aber mit wachsender Sorge. Denn sie geht mit einer zunehmenden
       Radikalisierung in anderen Teilen dieser großen und ethnisch diversen
       Nation einher.
       
       Vielerorts treten Islamisten forsch und aggressiv auf. Sie fordern – meist
       mit Erfolg – ein Alkoholverbot und feiern Aceh als Vorbild, wie ein
       „islamischer Gottesstaat“ in seinen Anfängen aussehen könnte.
       
       Islamistisch motivierte [2][Angriffe auf christliche Kirchen wie am
       Wochenende auf Java] werden häufiger. Auch in der Politik treten
       Fundamentalisten fordernder und erfolgreicher auf. Die Hoffnungen
       progressiver Kreise, aber auch westlicher Wirtschaftsvertreter, der als
       liberal geltende Präsident Joko Widodo könnte den Trend umkehren, haben
       sich seit seiner Wahl 2014 nicht erfüllt.
       
       Im letzten Jahr führten fundamentalistische Islamparteien einen aggressiven
       Kampf gegen Basuki Tjahaja Purnama, oder Ahok, den christlichen Kandidaten
       für das Amt des Gouverneurs von Jakarta. Der Politiker wurde nicht nur
       nicht gewählt, er kam wegen „Gotteslästerung“ in Haft.
       
       In Banda Aceh könnte sich der Wunsch des Fischhändlers Ali Mohammed bald
       erfüllen. Die Regionalregierung lässt erneut prüfen, ob es das indonesische
       Recht zulassen würde, in der Provinz auch die Todesstrafe durch Enthauptung
       einzuführen.
       
       Schwere Gewaltverbrechen könnten so verhindert werden, argumentieren die
       Befürworter. Kritik seitens Menschenrechtlern weisen sie zurück. Komme der
       Vorstoß durch, drohe schließlich nur Mördern und Vergewaltigern das
       Schwert. So wie es der Koran vorschreibe.
       
       14 May 2018
       
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