# taz.de -- Kolumne Nachbarn: Damit ich nicht vergesse
       
       > Jeden Morgen schaue ich mich im Spiegel an und frage mich, ob ich
       > wirklich lebe. Unsere Lebensjahre wurden von Kugeln getroffen.
       
 (IMG) Bild: „Die Friedhöfe in Berlin sind so schön, ordentlich mit wunderbaren Rosen; sie erwecken in mir die Lust zum Sterben“, sagte mein Freund
       
       Seit zwei Jahren schreibe ich hier regelmäßig eine Kolumne, ohne zu wissen
       oder zu ahnen, was das für mich bedeutet. Heute schaue ich auf die letzten
       zwei Jahre, lese die Leserinnen- und Leserbriefe und empfinde Freude und
       Genugtuung.
       
       Diese Kolumne war nicht nur eine Brücke zwischen den Lesenden und mir,
       sondern vielmehr eine Möglichkeit der Verbindung mit dem anderen Ort, eine
       Brücke in mein Herkunftsland. Ich schreibe jedes Mal etwas aus meinem
       Gedächtnis, damit die Nabelschnur zum Mutterleib, den ich vor mehr als vier
       Jahren verließ, nicht abreißt. Ich schreibe, damit ich nicht vergesse.
       
       Wir überquerten das Meer schwimmend oder auf den Booten des Todes,
       gelegentlich gemütlich mit dem Flugzeug. Ich denke, die meisten von uns
       kamen lebend an. Die Zeit wird unsere Kriegswunden heilen, die Narben an
       unseren Körpern und Seelen werden verschwinden und unser Gedächtnis, das
       zum Friedhof der Liebenden wurde, wird mit vielen schönen Erfahrungen in
       diesem Land gefüllt sein. Die unheimlichen Friedhöfe werden in schöne
       Gärten umgewandelt.
       
       Als ich mit einem Freund in einer parkähnlichen Anlage in Berlin spazierte,
       stellten wir fest, dass es sich um einen Friedhof handelte. Der Freund
       sagte: „Die Friedhöfe in Berlin sind so schön, ordentlich mit wunderbaren
       Rosen; sie erwecken in mir die Lust zum Sterben. Aber weißt du; ich will
       auf dem Hügel hinter meinem Dorf begraben werden. Denn von dort aus blickt
       man immer auf die Ruinen des Krieges. Nur dort bin ich nah bei meinen
       Lieben.“
       
       ## „Das ist der Krieg“
       
       Ich sagte: „Sollte ich noch länger hier leben müssen, werde ich
       testamentarisch festlegen, dass ich auf einem unserer unheimlichen
       Friedhöfe begraben werde. Ich will nicht, dass meine Seele in der Fremde
       herumirrt, wenn mein Körper nicht mehr lebt.“
       
       Wir verließen lachend den Friedhof. Ich sagte: „Wir sind wirklich verrückt!
       Wir sind nicht einmal vierzig Jahre alt und reden schon über den Tod, als
       wären wir hundert Jahre alt.“ Er sagte mit trauriger Stimme: „Das ist der
       Krieg. Jedes Jahr wie fünf Jahre.“
       
       Jeden Morgen schaue ich mich im Spiegel an und frage mich, ob ich wirklich
       lebe. Die Kugeln, die andere zufällig trafen, hätten mich auch treffen
       können. Sicher ist, dass viele unserer Lebensjahre von den Kugeln getroffen
       wurden. Sie hinterließen Spuren, weshalb wir heute älter erscheinen, als
       wir es sind.
       
       Meine Freundin, die noch in Damaskus lebt und alles, was ich schreibe,
       verfolgt, sagte neulich: „Die Texte, die du geschrieben hast, kurz nachdem
       du Damaskus verlassen hattest, sind sanfter. Sie tragen in sich mehr
       Sehnsucht und Wärme, als was du später geschrieben hast.“
       
       Meine Freundin befürchtet, dass ich vergesse. Ich sage ihr, dass ich nicht
       emotional schreibe, weil ich das Gleichgewicht zwischen dem Hier und Dort
       in meinem Alltag nicht verlieren will. Vergessen will ich nicht und werde
       ich niemals tun. Ich will alle meiner Freunde in lebender Erinnerung
       behalten.
       
       5 Jun 2018
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Kefah Ali Deeb
       
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