# taz.de -- Kommentar Schülerproteste: Zukunft? Es geht um die Gegenwart!
       
       > Der Begriff Klimawandel erweckt die Illusion, wir hätten Zeit. Die
       > Katastrophe findet aber jetzt statt. Unser Autorin sagt, es braucht
       > Veränderungen. Sofort.
       
 (IMG) Bild: „Natürlich sind unsere Forderungen radikal“, sagt Lucia Parbel
       
       Als ich vor zwei Wochen am Freitag vom Stuttgarter Ableger der
       [1][FridaysForFuture-Großdemo] zur Bahn lief, da war mein Hals kratzig vom
       Rufen und Johlen und ich befand mich stimmungsmäßig irgendwo zwischen
       euphorisiert und vollkommen erschöpft. Hier ist sie, die Jugend, dachte
       ich! Hier sind wir.
       
       Ja, es geht hier [2][um die Schülerproteste], die in den letzten Wochen
       Schlagzeilen gemacht haben. Aber dies ist kein Essay über eine Bewegung und
       ihre Wurzeln, kein Bejubeln der Geschwindigkeit, mit der eine [3][Welle
       jugendlichen Protestes] uns alle erstaunt, und es ist erst recht kein Text,
       der Zweifel äußert an der Legitimation der gewählten Protestform. Damit
       beschäftigen sich zurzeit viele Journalist*innen.
       
       Das ist schlimm, denn es geht um etwas ganz anderes. Es geht um die
       Transformation der Gesellschaft im Angesicht einer Krise, namentlich der
       Klimakrise. Ich begreife nicht, warum das nur so wenige Leute zu verstehen
       scheinen. Wir Kinder und Jugendlichen sagen ungern Klimawandel, denn dieser
       Begriff impliziert, wir hätten es mit einem langsamen Prozess zu tun. Er
       lässt die Illusion zu, wir könnten kleine Schritte machen, um dann in
       vielen Jahren das Ziel einer nachhaltigen Gesellschaft erreicht zu haben.
       
       So hätte eine Anpassung vielleicht funktionieren können, wenn sich die
       Menschheit schon früher des Problems angenommen hätte. In Wirklichkeit aber
       borgen wir seit dem Ende der Achtziger Jahr um Jahr mehr Kohlenstoff
       künftiger Generationen. Daten, die einmal als Deadlines für die Umsetzung
       klimaschützender Maßnahmen galten, sind so nah – 2020, 2030. 2038, also das
       Jahr, für das die Kohlekommission den [4][Ausstieg aus der Kohlekraft] in
       Deutschland empfiehlt, ist so eine neue Zahl.
       
       ## Eine düstere Zukunft
       
       Diese Zahlen reihen sich ein in eine Schlange von Daten und Versprechen,
       die in meinen Ohren wie Hohn klingen. Denn man muss kein Pessimist sein, um
       zu erkennen, dass wir unsere Klimaziele mit der bisherigen Strategie nicht
       erreichen werden. Jedes neue Abkommen macht mich nicht zuversichtlicher,
       sondern nur noch aufmerksamer für die Untätigkeit danach. Wir fühlen uns
       ignoriert von einer Politik, die am völlig antiquierten Fahrplan des
       stetigen Wachstums festhält.
       
       Natürlich sind unsere Forderungen radikal. Natürlich verlangen wir viel,
       wenn wir sagen: Wir brauchen augenblicklich Reformen, Richtlinien,
       Grenzwerte ohne Wenn und Aber, wenn wir uns rechtzeitig nachhaltig stellen
       wollen. Aber wer kann das in Frage stellen oder als Alarmismus abstempeln?
       
       Meine Zukunftsaussichten, die von zahlreichen Studien beschrieben werden,
       empfinde ich als eine Zumutung. So, wie heute Klimapolitik gemacht wird,
       werde ich in fünfzig Jahren meinen siebzigsten Geburtstag in einer Welt
       feiern, die mit den Folgen des Zerbrechens der Ökosysteme zu kämpfen hat.
       Sie wird von humanitären Katastrophen, Kriegen um Ressourcen, von Flucht
       geprägt sein. Das sind die Szenarien, die hinter der Formulierung „schwer
       abschätzbare Folgen“ stecken. Sie beschreiben den Zusammenbruch der
       Zivilisation. Sie malen heute ein düsteres Bild von meinem Leben in einigen
       Jahrzehnten, sollte die Politik sich nicht zusammenreißen.
       
       ## Keine Alternative zu radikalem Klimaschutz
       
       Das Einzige, das ich über diese Version der Zukunft jetzt schon sagen kann,
       ist, dass ich keine Kinder haben werde. Denn meine Kinder würden noch über
       2100 hinaus leben – was davor schon außer Kontrolle geraten ist, wird
       danach noch bedrohlicher. Es gibt keine Alternative zu radikalem
       Klimaschutz. Vorausgesetzt, wir können uns darauf einigen, dass der Kollaps
       der Zivilisation keine Wahlmöglichkeit ist. Polemisch? Nein, so klingen
       ernstzunehmende Äußerungen in dieser Sache.
       
       Überhaupt haben wir hier im globalen Norden gut reden, wenn wir sagen: „Es
       geht um unsere Zukunft.“ In vielen Ländern der Südhalbkugel und vielen
       Inselstaaten geht es um die Gegenwart. Im letzten Semester wohnte ich ein
       paar Monate mit einer Doktorandin aus Nairobi zusammen, die sich mit den
       Folgen des Klimawandels für die kleinbäuerliche Landwirtschaft in Kenia
       beschäftigt.
       
       Sie erzählte, dass es dort bereits Kämpfe um rar werdendes fruchtbares Land
       gibt, dass ein Dorf dem anderen eine Ziege stahl, weil die eigenen Tiere
       kein Futter mehr fanden. Es ist ein Privileg, dass wir protestieren können.
       Ich empfinde es deshalb als meine moralische Pflicht, am Bildungsstreik
       teilzunehmen.
       
       ## Nichts tun ist teurer und falscher
       
       Vor Kurzem las ich auf der Internetseite des Deutschlandstipendiums,
       Deutschland brauche „kluge Köpfe“ ob der Herausforderungen, die die Zukunft
       an uns stellen werde. Dass es nicht die Zukunft ist, die uns als Menschheit
       fordert, das ist ja wohl ausreichend deutlich, aber das ist nicht der
       einzige Grund, aus dem mir dieser Satz aufstieß. Er ist eine Floskel und
       ein schlechter Dank all denen, die bereits zukunftsfähige Technologien und
       Wirtschaftsweisen erdacht haben.
       
       Was wir jetzt so viel mehr brauchen, ist Mut zum gesellschaftlichen Wandel.
       Wir müssen uns ganz klar machen, was auf dem Spiel steht, und
       augenblicklich anfangen, das einzig Logische zu tun: nachhaltige Lösungen
       implementieren, nicht um jeden Preis, aber wenn nötig um einen hohen.
       Nichts zu tun ist auf jeden Fall teurer und falscher. Wir junge Menschen
       haben diese Klarheit, und den Mut haben wir auch. Aber nur gemeinsam mit
       Erwachsenen können wir genug öffentlichen Druck erzeugen, um eine andere
       Politik zu erwirken.
       
       Viele Erwachsene nehmen schon an unseren Aktionen teil und das ist
       großartig. Andere Erwachsene müssen mit dem Unfug aufhören, [5][Sanktionen
       für das Fehlen] im Unterricht auszusprechen oder zu empfehlen. Denn diese
       werden ohnehin nichts bringen. Für uns geht es um so viel, dass wir
       trotzdem protestieren werden.
       
       3 Feb 2019
       
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