# taz.de -- Dagrun Hintze über Verdichtung: „Lyrik macht die Welt kostbarer“
       
       > Mit „Einvernehmlicher Sex“ hat Dagrun Hintze einen fulminanten
       > Gedichtband geschrieben. Ein Gespräch über das Altern und Schäden an der
       > Sprache.
       
 (IMG) Bild: Kann sich schlecht Sachen ausdenken: Schriftstellerin Dagrun Hintze
       
       taz: Frau Hintze, wie schafft man es, einen so wunderbaren Lyrik-Band zu
       schreiben? 
       
       Dagrun Hintze: Oha, was sage ich jetzt dazu! Also: Ich denke, dass die
       meisten Menschen, wenn sie anfangen zu schreiben, mit Lyrik beginnen. Die
       meisten von uns haben vermutlich irgendwelche schlimmen Pubertätsgedichte,
       wo sie sich das Herz herausgerissen haben, im Giftschrank liegen. Lyrik ist
       die ursprünglichste Form, über die Menschen sich schriftlich äußern, wenn
       sie eine literarische Form suchen – und das war bei mir auch so. Es gibt
       eine lange Geschichte mit mir und der Lyrik und wenn ich mein
       Selbstverständnis beschreiben sollte, dann ist es das einer Lyrikerin,
       wahrscheinlich sogar mehr als das einer Theatermacherin, die ich ja auch
       bin. Insofern bin ich da ganz bei mir selbst – wenn man so eine
       schreckliche Formulierung wählen möchte.
       
       Was kann Lyrik? 
       
       Sie kann den Moment festhalten, und sie kann ein Gefühl festhalten, das in
       diesem Moment das Absolute und auch das Überwältigende ist. Darin ist Lyrik
       unschlagbar. Sie geht manchmal auch sehr geniale Verbindungen mit der Musik
       ein – in Form eines Textes für einen Song. Und sie kann das Alltagsleben
       erhöhen; Lyrik macht die Welt ein bisschen kostbarer.
       
       Für Ihre Gedichte muss man nicht Goethe gelesen haben oder mindestens
       Ingeborg Bachmann. Man denkt: Hey, was da beschrieben wird, das kenne ich … 
       
       Das war auch die Idee. Als ich mit Lyrik anfing, habe ich schon an diesem
       hohen Ton herumprobiert – das finde ich auch legitim. Ich habe nur
       irgendwann gemerkt, dass mir persönlich diese Lyriklesungen auf die Nerven
       gehen, wo alle anderthalb Minuten abgesetzt und umgeblättert und ein
       Schluck Wasser getrunken wird. Ich suche eine gewisse
       Selbstverständlichkeit in der Literatur. Lyriker wie Charles Bukowski haben
       mich immer sehr fasziniert, die auch mal aus dem dreckigen Alltag kommen.
       Wobei die Alltagssituation überhöht werden muss, sie muss zur Metapher
       werden. Auf dem Weg dahin produziert man eine Menge Ausschuss, weil nicht
       alles, was man gerade fühlt oder erlebt, auf dem Papier am Ende standhält.
       
       Beim Titel Ihres Buches – „Einvernehmlicher Sex“ – musste ich sofort an die
       #MeToo-Debatte denken … 
       
       Ich hatte eigentlich einen feuilletoneskeren Titel im Kopf, aber dann hat
       einer meiner Verleger den Titel mal in die Runde geworfen, weil eines der
       Gedichte so heißt. Wir haben uns erst mal erschrocken, und ich sagte: „Auf
       gar keinen Fall!“ Das war mir viel zu knallig, viel zu kaperig. Aber dann
       hat sich der Titel irgendwie verhakt – bei uns allen. Der Gedichtband ist
       nicht im Zusammenhang mit der #MeToo-Debatte entstanden, aber wir erleben
       da schon eine weibliche Erzählerin, die sich sehr klar in jeder Situation
       behauptet und souverän bleibt. Von daher finde ich es gar nicht so
       verkehrt, die Texte auch in diesem Kontext zu denken.
       
       Ihre Heldin ist knapp unter der Lebensmitte. Das Leben war bisher gut –
       aber die Frage ist: Was kommt? Liege ich mit der Lesart richtig? 
       
       Es wird in der Tat eine Art Resümee gezogen: Die erste Hälfte hat sie mit
       Anstand und Würde bewältigt. Aber wie jetzt Älter-werden geht, ob am Ende
       das Anlachen gegen den Tod funktioniert, was ich tatsächlich als einziges
       Mittel sehe, das uns zur Verfügung steht? Wird es noch mal lustig? Oder
       eher nicht?
       
       Sie schreiben „Auf der Mitte des Lebens kann Liebe/verdammt beunruhigend
       sein.“ Liebe ist schon ein Thema, oder? 
       
       Was Lyrik angeht, ist das jetzt nicht so überraschend, würde ich sagen. In
       meinen Gedichten geht um verschiedene Formen von Liebe, um tiefe
       Freundschaft, Verbundenheit, Verbindlichkeit. Und um die Kollision einer
       Lebensform, die man gefunden hat und die gut ist, mit den Angriffen von
       außen, vom Leben selbst. Das Tolle an meiner Erzählerin ist, dass sie das
       zulässt. Ich glaube, in jedem von uns steckt der Wunsch nach Sicherheit und
       Verlässlichkeit, aber auch die Sehnsucht nach Abenteuer, nach Neuem, nach:
       alles Umkrempeln.
       
       Wie privat sind Ihre Gedichte? 
       
       Sagen wir es so: Ich breite mein Leben nicht in Form von Gedichten aus; das
       ist auch nicht das, was mich interessiert. Aber die Erfahrungen, von denen
       ich schreibe, sind echt – ob sie von mir stammen oder ob ich sie irgendwo
       aufgeschnappt habe, ist unwichtig. Was gilt: Ich kann mir sehr schlecht
       Sachen ausdenken. Und hege eine große Skepsis gegenüber der Fiktion.
       Deswegen könnte ich nicht über etwas schreiben, das mir nicht in
       irgendeiner Form ins Leben gepoltert wäre.
       
       Noch mal ein Zitat: „Wer tagsüber Servicetexte fürs Internet schreibt/ zu
       dem kommt abends kein Gedicht.“ … 
       
       Ja – das ist so. Ich mag diese Zeilen sehr, weil sie geradezu manifesthaft
       etwas über künstlerische Produktion aussagen. Ich zum Beispiel bin jetzt
       seit 20 Jahren in Hamburg und seit 20 Jahren selbstständig. Es wäre eine
       romantische Vorstellung, man käme 20 Jahre durch so einen Beruf, ohne für
       Geld auch irgendwelchen Mist machen zu müssen. Ich habe alles Mögliche
       gemacht, für Werbeagenturen getextet, unter Pseudonym für die Yellow Press
       geschrieben – einfach um mein Leben zu bestreiten. Trotzdem bleibt immer
       die Frage: Wie sehr beschädigt man seine eigene Sprache, wie hält man es
       mit der Unkorrumpierbarkeit, die man haben muss als Künstlerin? Ich finde
       es grundsätzlich gut, wenn KünstlerInnen Realitätskontakt haben, wenn sie
       wissen, wie eine Werbeagentur von innen aussieht und wie sie funktioniert –
       gleichzeitig hat das seinen Preis. Worauf lässt man sich da ein? Wo
       verbiegt man sich? Und was hat das für eine Rückwirkung auf das eigene
       Schreiben?
       
       Sie sind auf vielen Feldern unterwegs: Lyrik und Theater, Sie schreiben
       über bildende Kunst und über Fußball. Gibt es etwas, was der Kern ihres
       Interesses an der Welt ist? 
       
       Ich bin schon sehr Neugier-getrieben. Da kommt mir das dokumentarische
       Theater, für das ich meistens arbeite, natürlich sehr entgegen. Weil es
       mich bei der Recherche immer wieder in Welten führt, die ich sonst nie
       betreten hätte. Außerdem schätze ich die Arbeit im Kollektiv, im ständigen
       künstlerischen Austausch mit Leuten, die einem zwischendrin natürlich auch
       wahnsinnig auf die Nerven gehen. Die Existenz der Lyrikerin ist eine völlig
       andere. Die sitzt allein am Schreibtisch und versucht, Erfahrungen, die sie
       draußen in der Welt gemacht hat, zu verdichten. Ich glaube, ich brauche
       beide Zustände. Gerade habe ich eine Phase, wo ich bis Mai nur am
       Schreibtisch sitzen kann, wahnsinnig angenehm. Andererseits: Ich bin
       schnell anfixbar. Es muss nur eine Handballweltmeisterschaft laufen – und
       ich fange an, mich dafür zu interessieren.
       
       Lassen Sie uns über Lübeck reden; diese entschleunigte, angenehme, kleine
       Stadt … 
       
       Ach …
       
       Ich merke schon … 
       
       Das Hinwenden zu einer kleineren Stadt kenne ich natürlich, weil einem das
       Großstadtgetöse immer mehr die Luft nimmt. Also: Ich bin gerne in Lübeck
       aufgewachsen, ziemlich bürgerlich, war auf einem der Altstadt-Gymnasien,
       mein Schulweg führte jeden Tag an der Marien-Kirche vorbei. Ich habe das
       immer als Privileg empfunden, jeden Tag mit Schönheit und Tradition
       konfrontiert zu sein. Das war schon alles okay: Theater-Abo,
       Klavierunterricht, Thomas Mann lesen. Aber gleichzeitig habe ich mir sehr
       hart erarbeiten müssen, was Gegenwartskultur ist. Dafür habe ich eigentlich
       das ganze Studium gebraucht. Und das laste ich auch dieser Stadt ein
       bisschen an.
       
       Aber nach dem Studium sind Sie zurück ans Lübecker Theater gegangen. Wie
       war das? 
       
       Da lebte man raumschiffartig. Wir waren alle jung und wollten ganz viel vom
       Theater, da hat man die Stadt drumherum gar nicht so wahrgenommen. Wenn ich
       heute dort bin, rührt mich das schon an, diese wahnsinnig schönen Kirchen,
       die Altstadt-Insel. Gleichzeitig wirkt die Stadt auf mich ganz schön
       marzipanisiert, übersaniert, zu sehr als Kulisse für Touristen gedacht wie
       so viele Städte. Da kann einem dann auch mal eng ums Herz werden. Trotzdem
       verstehe ich die Kleinstadtsehnsucht, die gerade grassiert, gut: Ich war
       jetzt schon zwei Mal in Aalen auf der Schwäbischen Alb, um da Theater zu
       machen, eine wirklich kleine Stadt; wahrscheinlich würde man es dort keine
       zwei Monate aushalten und die Flucht ergreifen, wenn man dort wohnen
       müsste. Aber diese Kultur, Samstag ist Markt und dann geht man einen Kaffee
       trinken und trifft alle Leute, die man kennt, das hat schon was; das sind
       wichtige Rituale für eine Stadtgesellschaft, das hält den Laden zusammen.
       
       12 Feb 2019
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Frank Keil
       
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