# taz.de -- Antisemitismusbewusste Jugendarbeit: Nicht mit uns
       
       > Antisemitismus zu kritisieren ist in der Jugendarbeit besonders wichtig.
       > In der Neuköllner Schilleria bilden sich junge Frauen zu Expertinnen aus.
       > Veranstaltung am Dienstag.
       
 (IMG) Bild: Solidaritätsaktion nach Angriff auf einen Kippa-Träger, Berlin 2018
       
       Die jungen Frauen haben es sich auf den breiten Sofas gemütlich gemacht.
       Vier Fragen stehen auf dem Whiteboard in dem Mädchenklub Schilleria im
       Nordneuköllner Schillerkiez: Was gefällt dir an deiner Stadt? Woran glaubst
       du? Woran denkst du bei den Begriffen Jude, Jüdin oder Judentum? Und: Was
       ist dein Lebenstraum? Eine junge Frau steht vorn und notiert mit rotem
       Edding, was den anderen einfällt. Sie mögen die Parks und Cafés an Berlin,
       auch den Nahverkehr mit der voll gepackten U8 oder den Bus M41. Sie glauben
       an sich selbst, an Vielfalt oder Freiheit. Und träumen von Solidarität und
       dem Ende des Patriarchats.
       
       Andere Assoziationen haben die jungen Frauen zum Thema Jüd*innen und
       Judentum. „Nationalsozialismus“, sagt jemand, es folgen „jiddisch und
       hebräisch“, „Religion“ oder „Schoah“. Auch „Verschwörungstheorien“ und
       „Antisemitismus“ werden festgehalten. Die Teilnehmerinnen des Projekts
       #nichtmituns treffen sich an diesem Abend im Mädchenclub, um über
       antisemitische Stereotype zu diskutieren. Zwischen 15 und 25 Jahre sind sie
       alt.
       
       „Wir wollen die Politisierung, die wir selbst erfahren haben, auch an
       Jüngere weitergeben“, sagt Elisabeth Hell, Projektleiterin und pädagogische
       Leiterin in der Schilleria. Nachdem die Teilnehmerinnen während eines
       Seminars zu politischer Bildung im Jahr 2014 das Anne-Frank-Haus in
       Amsterdam besucht hatten, entwickelten sie die Idee zu dem Projekt
       gemeinsam. Etwa ein halbes Dutzend junge Frauen bilden sich zu
       Multiplikatorinnen politischer Bildung weiter. Dabei verfolgen sie einen
       empowernden, also selbstbestimmten Ansatz, um sich gemeinsam mit jüngeren
       Mädchen für Antisemitismus und Rassismus zu sensibilisieren. In eigenen
       Workshops wollen sie die Jüngeren anleiten und diese selbst zu Expertinnen
       machen.
       
       Gefördert wird #nichtmituns vom Jugenddemokratiefonds Berlin. In drei
       Phasen reflektieren die Teilnehmerinnen ihr Denken, nähern sich den Themen
       theoretisch und entwickeln eigene Methoden. Sie haben bereits mehrere
       Workshoptage durchgeführt, unter anderem mit ju:an, der Praxisstelle der
       Amadeu-Antonio-Stiftung für antisemitismus- und rassismuskritische
       Jugendarbeit. Das Projekt, das noch bis nächstes Jahr vom Bundesprogramm
       „Demokratie leben!“ und dem Berliner Landesprogramm „Demokratie. Vielfalt.
       Respekt“ gefördert wird, bietet Beratung und Workshops für Fachkräfte der
       Jugendarbeit zum Thema Antisemitismus und Rassismus in Berlin und
       Niedersachsen an und hat in Hannover ein Empowerment-Netzwerk aufgebaut.
       
       ## Mit Stereotypen vertraut
       
       Eines der Mädchen hat das Kabel gefunden, um den Beamer in der Schilleria
       anzuschließen. Ein Fernsehbildschirm flackert auf, in einem Video spazieren
       Menschen durch Fußgängerzonen in Berlin, Köln, Leipzig und München. Der
       Kurzfilm von Vivian Kanner heißt „AnsichtsSachen“, so wie seine Methode.
       Passant*innen beantworten die gleichen Fragen wie zuvor die Mädchen: Was
       gefällt ihnen an ihrer Stadt? „Vielfalt“, antworten die meisten. Woran
       glauben Sie? „An mich“, sagt ein kleiner Junge. Vor der dritten Frage
       drückt eine der Teilnehmerinnen auf den Pausenknopf am Computer. In
       Kleingruppen wollen die Mädchen jetzt darauf achten, wie Jüd*innen oder das
       Judentum beschrieben werden. Ob das positiv oder negativ klingt oder ob es
       sich um Selbstbeschreibungen von Jüd*innen handeln könnte.
       
       „Ein Befragter sagte, dass Deutsche immer auf die Nazi-Zeit reduziert
       würden“, sagt Duygu Özer. Die 27-Jährige nimmt an den Workshops teil,
       arbeitet neben ihrem Sozialwissenschaftsstudium aber auch als Honorarkraft
       in der Schilleria. Stereotype seien reproduziert worden, dass die
       „normalen“ Deutschen vor dem Holocaust lediglich Angst vor den „reichen“
       Juden gehabt hätten. „Immer noch wird dieser Unterschied von Menschen
       gemacht, die glauben, sie hätten die Geschichte aufgearbeitet“, sagt sie.
       
       Mit solchen Stereotypen ist man auch bei ju:an, der Praxisstelle der
       Amadeu-Antonio-Stiftung, vertraut. „Im Antisemitismus verortet man Juden
       nicht nach unten, sondern spricht ihnen höhere Macht zu“, sagt Rosa Fava,
       die Leiterin des Projekts. Zwar habe der Antisemitismus Parallelen zu
       anderen Formen des Rassismus, sei aber nicht nur eine weitere
       Unterkategorie. In rassistischen Denkformen würden Menschen auch aufgrund
       äußerer Merkmale wie Hautfarbe abgewertet. Juden würden hingegen als „nicht
       sichtbar“ gelten und so zu einer unsichtbaren Bedrohung imaginiert.
       
       In der Schilleria haben die Mädchen Mindmaps gemalt und Stichpunkte
       aufgeschrieben, sie diskutieren über die Aussagen im Film. Papier und
       Filzstifte stapeln sich auf dem kleinen Couchtisch, draußen ist es längst
       dunkel geworden. „Ich finde es problematisch, überhaupt erwähnen zu müssen,
       dass Juden ‚Menschen wie du und ich‘ sind“, sagt eine Teilnehmerin.
       Elisabeth Hell schreibt auf einem Flipchart mit.
       
       Formen des Antisemitismus sind vielfältig. Sie reichen von christlichen
       Erzählmustern über Rassentheorien bis hin zu ökonomischem Antisemitismus.
       Dafür will ju:an vor allem Fachkräfte in der Jugendarbeit sensibilisieren.
       „Dort setzt man direkt an der Lebenswelt der Jugendlichen an“, sagt Rosa
       Fava, anders als vielleicht in der Schule. Da die Situationen und
       Beziehungen mit den Jugendlichen immer verschieden seien, könne man kein
       Patentrezept liefern. Zuerst müsse man also Haltung und Wissen entwickeln,
       um angemessen reagieren zu können.
       
       Um Wege dorthin zu vertiefen, organisiert ju:an am kommenden Dienstag ab 10
       Uhr die Veranstaltung „Blicke zurück nach vorn“ in der Werkstatt der
       Kulturen. In einer Zukunftswerkstatt soll darüber diskutiert werden, wie
       Jugendarbeit antisemitismus-, rassismuskritisch und empowernd ist. Davon
       kann jeder profitieren. Denn: „Antisemitische Denkmuster gehen auch quer
       durch die Milieus“, sagt Expertin Fava.
       
       13 May 2019
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Anima Müller
       
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