# taz.de -- Die Wahrheit: Kann nicht klagen
       
       > Die Deutschen, einst querulatorische Prozesshanseln, ziehen kaum noch vor
       > Gericht. Was Anwälte jetzt planen, um weiter im Geschäft zu bleiben.
       
 (IMG) Bild: Lähmt massiver Grillgestank wirklich die Klagelust?
       
       Die Zahlen sind erschreckend: Wurden im Jahr 1995 noch 1,75 Millionen
       Verfahren an den hiesigen Amtsgerichten eröffnet, waren es 2017 nur noch
       936.979. Dieser Abwärtstrend war eines der zentralen Themen auf dem
       letztwöchigen Anwaltstag in Leipzig. Denn Deutschlands Advokaten wissen: Wo
       kein Kläger, da kein Klagevertreter. Damit die 163.000 Rechtsanwältinnen
       und -anwälte nicht demnächst ihre Robe an den Nagel hängen müssen, wurden
       Strategien diskutiert, wie man die Bevölkerung wieder verstärkt und
       freiwillig vor den Kadi bringt.
       
       „Es braucht eine neue Lust am Klagen“, erklärt Gabi Redlich, Fachanwältin
       für Miet- und Nachbarschaftsrecht aus Wasserburg am Inn. „Eine Gesellschaft
       ohne Zwist funktioniert nicht. Wohin zu viel Harmonie führen kann, sehen
       wir seit Jahren an der SPD. Da herrscht Friede, Freude, Eierkuchen, aber
       kein Mensch außerhalb dieser Partei interessiert sich für sie.“ Im goldenen
       Zeitalter des zwischenmenschlichen Haders liefen noch Reality-Shows wie
       „Verklag mich doch!“ im Fernsehen und der erste gemeinsame Gerichtstermin
       hatte in der Familienchronik denselben Stellenwert wie Hochzeit oder
       Haustierkauf. In Umfragen wurde als liebstes Hobby damals drei Jahre in
       Folge „Prozessieren“ angegeben, noch vor Briefmarkenlecken und Rasen. Tempi
       passati.
       
       Wo einst mit Androhung vier- bis fünfstelliger Geldstrafen auf die
       Schneeräumpflichteinhaltung gepocht wurde, trifft man sich heute zum
       gemeinsamen Salzstreuen. Aus der urgermanischen Abschiedsformel „Wie sehen
       uns vor Gericht, Arschloch!“ ist ein seelenloses „Schönes Wochenende!“
       geworden. Der Maschendrahtzaun, der Apfel auf Nachbarsrasen und der Koi im
       Karpfenteich: Alles Allegorien aus einer anderen Zeit.
       
       Wieder Zwietracht und Misstrauen säen, nein, das wolle man keinesfalls,
       wurde immer wieder betont auf dem Leipziger Anwaltstag 2019 (Motto: „Sekt
       und Jacht – leicht gemacht“). Aber ein gesundes Gespür dafür, wann das Maß
       verdammt noch mal voll sei, das solle wiederbelebt werden. „Wer sich nicht
       traut, von der unliebsamen Bürogenossin ein Schmerzensgeld wegen ständigen
       Saure-Gurken-Geruchs zu fordern, soll sich erst mal strohpuppenmäßig an
       juristischen Personen üben können“, kündigt Anwältin Redlich an, „zum
       Beispiel an mir. Ein Service, den meine Kanzlei demnächst anbietet: Kommen
       Sie einfach vorbei; zur Begrüßung kriegen Sie heißen Kaffee über die
       Garderobe geschüttet, dann lassen wir Sie zwei Stunden in einem
       abgeschlossenen Kabuff warten, und am Ende kassieren wir 2.000 Euro
       Erstberatungsgebühr.“ Ganz recht: Wer wollte dagegen nicht gerichtlich
       vorgehen?
       
       ## Immer mehr externe Schlichtungsverfahren
       
       Einer der Hauptgründe für die schwindende Klagefreudigkeit der Deutschen:
       Es gibt immer mehr Schlichtungsverfahren. Die Deutsche Bahn, diverse
       Fluggesellschaften und alle Großbanken unterhalten heute eigene
       Schlichtungsstellen, demnächst sogar die ersten Bäckereien. Da ist sich
       Edith Kindel, Professorin für Zivilrecht, sicher: „Sie haben aus Versehen
       einen Schokowuppi bekommen, weil Sie sich zu sehr geschämt haben, einen
       Rosinenschnupsi zu verlangen? Deswegen müssen Sie nicht länger das
       Amtsgericht bemühen. Die filialeigene Bäckerei-Schiedsstelle bemüht sich um
       Wiederherstellung Ihrer Ehre sowie Teil- bzw. Teilchenentschädigung.“
       
       Auch Medienhäuser könnten bald nachziehen: „Wer glaubt, von der Tagesschau
       betrogen worden zu sein, Stichwort Putin oder Wettervorhersage, darf – nach
       einer Wartezeit von wenigen Monaten – vor einem TV-Richter seine eigene
       Sicht schildern und bekommt vom Staat eine Rundfunkgebühren-Erstattung oder
       ein Autogramm von Carmen Nebel“, so Zivilrechtlerin Kindel.
       
       Seit wann ist unser Land derart verbraucherfreundlich? „Der Trend zum
       Schlichten begann unter Justizminister Maas“, weiß der passionierte
       Justitiar Timo Warner, „klar, der ist ja auch ein eher schlichtes Gemüt.
       Das dürfen Sie ruhig drucken, vielleicht verklagt er das nächste Mal ja
       mich, das wäre herrlich!“
       
       Nicht zuletzt spielt das finanzielle Risiko bei der grassierenden
       Klagemüdigkeit eine Rolle, schließlich bleibt der oder die Unterlegene auf
       allen Prozess- und Anwaltskosten sitzen. Aber auch dafür gibt es
       Lösungsansätze. „Sinnvoll“, so Anwältin Redlich in Leipzig, „wäre die
       Einführung eines Bonuspunkte-Systems. Für jedes verlorene Verfahren kommt
       ein Stempel aufs Kärtchen – nach neun Stempeln ist das zehnte Mandat
       gratis.“
       
       Sind wir Deutschen also vielleicht doch nicht komplett klagemüde? „Doch,
       als Nation auf jeden Fall“, resigniert Justitiar Warner. „Wann war denn der
       letzte große Rechtsstreit mit einem anderen Land? Klar, nach Jahrzehnten
       erfolglosen Einsprucheinlegens, beispielsweise gegen den Schandvertrag von
       Versailles oder irgendwelche Reparationsforderungen, verlässt einen eben
       irgendwann der Mut, das ist vergleichbar mit einem Krieg, den man nicht
       gewinnen kann.“
       
       Doch die Branche gibt nicht auf. „Das Bürgerliche Gesetzbuch ist nach wie
       vor ein Bestseller“, so Juristin Kindel. „Die Leute sollten halt öfter
       reingucken. Und wenn Sie nächstens sonntags um sieben die dumme Sau nebenan
       mit dem Rasenmäher weckt, denken Sie doch bitte an die Halbgötter in
       Schwarz.“
       
       21 May 2019
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Torsten Gaitzsch
       
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