# taz.de -- Wahlerfolg der Grünen: Im Rausch
       
       > Für die Grünen ist es ein historischer Sieg. Sie haben die SPD überholt.
       > Noch wichtiger ist, dass dieser Erfolg vermutlich dauerhaft sein wird.
       
 (IMG) Bild: Die Grünen sind der große Wahlsieger
       
       BERLIN taz | Für die Grünen, man muss das abgegriffene Wort verwenden, ist
       es ein historischer Sieg. 20,8 Prozent bei einer Europawahl, das ist eine
       kleine Sensation. Zum ersten Mal haben die Grünen in einer bundesweiten
       Wahl ihre Ankündigung wahr gemacht, stärkste Kraft der linken Mitte werden
       zu wollen. Sie haben die SPD weit hinter sich gelassen – und kämpfen nun
       mit der Union um Platz 1.
       
       Den Grünen ist es in dieser Wahl gelungen, sich als Kraft der ökoaffinen,
       weltoffenen und liberalen Mitte zu positionieren. Jeder Zweite – auch in
       anderen politischen Lagern – ist laut der Forschungsgruppe Wahlen heute der
       Ansicht, dass die Grünen für eine „moderne, bürgerliche Politik“ stehen.
       Das Label der ökostalinistischen Verbotspartei, das CDU und FDP den Grünen
       nach wie vor ankleben wollen, haftet nicht. Zwischen der Wahrnehmung der
       BürgerInnen und dieser Diffamierung liegen Welten.
       
       Entscheidend ist: Die Grünen sind die Partei der Jugend. Die Anzeichen
       dafür mehrten sich in den vergangenen Wochen. Die SchülerInnen stellen auf
       ihren [1][Fridays for Future] ja die sehr erwachsene Forderung, dass die
       Pariser Klimaschutzziele eingehalten werden müssten. Der [2][Youtuber Rezo]
       zerstört in seinem Video keineswegs die CDU, wie Konservative jammern –
       sondern er stellt den schrumpfenden Volksparteien beim Klimaschutz ein
       fürchterliches Zeugnis aus.
       
       Spricht es nicht Bände, wenn CSU-Chef Markus Söder sagt, die Union müsse
       daran arbeiten, „jünger, cooler, offener“ zu werden? Für den Konservativen
       mit dem feinen Machtinstinkt sind längst die Grünen der Hauptfeind, nicht
       mehr die Sozialdemokraten. Bei der Bayern-Wahl hat er schmerzhaft zu spüren
       bekommen, dass die Ökopartei in konservativen Milieus bestens ankommt.
       
       Die ureigenen Themen der Grünen, die sie seit Jahrzehnten vorantreiben,
       dominieren heute den Diskurs. Klimaschutz ist eine Bewegung geworden, von
       der die Grünen als selbsternannte Bündnispartei am meisten profitieren. Sie
       schwimmen auf der Welle, die anderen werden überrollt. Luisa Neubauer, das
       deutsche Gesicht der Fridays for Future-Proteste und selbst
       Grünen-Mitglied, hält sich mit Wahlempfehlungen zurück. Aber natürlich
       argumentiert sie grün.
       
       ## An die Wand gefahren
       
       Diese jungen Leute haben zu Recht die Nase voll davon, dass die Groko den
       Karren, auf dem wir alle sitzen, an die Wand fährt. Eine Zahl beeindruckt
       bei dieser Europawahl am meisten: 33 Prozent der unter 30-Jährigen haben
       laut der Forschungsgruppe Wahlen die Grünen gewählt, sie sind in dieser
       Altersgruppe mit Abstand die stärkste Kraft. Zum Vergleich: 13 Prozent der
       unter 30-Jährigen wählten CDU und CSU, gerade mal 10 Prozent die SPD.
       
       Für die ehemaligen Volksparteien sind die Zahlen ein fürchterliches Omen,
       nämlich Todesboten. Für die Grünen sind sie ein Zukunftsversprechen.
       „Welche Chance, welche Verantwortung“, twitterte Reinhard Bütikofer, der
       Chef der Europa-Grünen, dazu. In der Vergangenheit gab es immer wieder
       grüne Hochphasen, zum Beispiel 2011 nach dem Atomunfall in Fukushima. Diese
       Phasen endeten relativ schnell. Doch dieses Mal könnte das grüne Wachstum
       nachhaltig sein. Die Jungen denken grün, und die SchülerInnen, die erst in
       ein, zwei Jahren wählen dürfen, auch.
       
       Wenn [3][90 bekannte YouTuber] ihren Fans öffentlich raten, weder für die
       Union noch für die SPD zu stimmen, kann man sich darüber lustig machen. Man
       kann sie für ihren Lebensstil und ihre Flugreisen kritisieren. Man kann
       auch Dagi Bee, die die Zerstörung unseres Planeten anprangert, vorwerfen,
       dass sie ihren 380-PS-Mercedes gut findet, wie es viele Twitter-NutzerInnen
       taten. Solche Reaktionen belegen aber eher die Hilflosigkeit der
       Kritisierten, als dass sie der Kritik die Wucht nehmen könnten.
       
       Klüger wäre es vielleicht zu kapieren, dass sich da ein neuer, junger
       Mainstream zu Wort meldet. Und dass die Grünen die Profiteure sein werden,
       wenn die anderen Parteien nicht schnell reagieren. Nach der Trump-Wahl in
       den USA kursierte eine These, die von manchen allzu gerne auch auf deutsche
       Verhältnisse übertragen wurde. Die Linke habe sich gesamtgesellschaftlich
       gesprochen zu wenig um die Jobs der Stahlarbeiter oder Kohlekumpel
       gekümmert. Stattdessen habe sie sich auf Chichi-Quatsch wie Klimaschutz
       fokussiert, um einer selbst ernannten Öko-Boheme zu gefallen.
       
       ## Gabriel sagt Goodbye
       
       Ein prominenter Vertreter dieser These ist übrigens Sigmar Gabriel, der
       ironischerweise just gerade seinen Abschied aus dem Bundestag angekündigt
       hat. Vielleicht ist Gabriels Goodbye nur konsequent. Seine Zeit ist
       endgültig vorbei. Und diejenigen, die die Interessen der Arbeiterschaft
       gegen den Klimaschutz ausspielten, müssten vor Scham erröten – und stille
       schweigen.
       
       Denn diese Wahl hat einen Beweis erbracht: Ohne Klimaschutz ist alles
       nichts. Die Europawahl war tatsächlich die Klimawahl, auf die die Grünen
       gehofft haben. Dazu noch ein paar interessante Zahlen: 59 Prozent der
       WählerInnen glauben laut der Forschungsgruppe Wahlen, dass die Grünen die
       Probleme beim Klimaschutz am besten lösen. Nur 10 Prozent trauen dies der
       Union zu. Wer ist da der Mainstream?
       
       Dazu passt, dass die Grünen im Vergleich zur Europawahl 2014 laut Infratest
       dimap je mehr als eine Million WählerInnen von Union und SPD zu sich
       herüberziehen konnten. Außerdem mobilisierten sie relevant bei
       NichtwählerInnen. Der Klimaschutz politisiert Leute auf eine Weise, wie es
       noch vor Kurzem niemand vorhergesagt hat.
       
       Das Interessante ist, dass sich die Grünen seit gut einem Jahr, also seit
       dem Start des Spitzenduos Robert Habeck und Annalena Baerbock,
       programmatisch nach links bewegt haben. Sie setzen auf den Abschied von
       Hartz IV, auf Plastikverbote und auf härtere ordnungspolitische Ansagen –
       geben sich aber habituell offen gegenüber der ganzen Gesellschaft.
       
       Das heißt: Die Grünen bewegen sich inhaltlich nicht auf die Mitte zu. Es
       ist umgekehrt. Die Mitte bewegt sich auf die Grünen zu.
       
       27 May 2019
       
       ## LINKS
       
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 (DIR) Ulrich Schulte
       
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