# taz.de -- Menschen mit Behinderung und Sex: Enttabuisierung durch Leitlinien
       
       > Schleswig-Holstein will sexuelle Selbstbestimmung für Menschen mit
       > Behinderung durch Leitlinien für Einrichtungen garantieren.
       
 (IMG) Bild: Wie umgehen mit sexuellen Bedürfnissen? Küssen ist eine Möglichkeit, Konzepte erstellen eine andere
       
       NEUMÜNSTER taz | Gewichst wird am Samstagnachmittag: Nur dann ist der
       Aufenthaltsraum frei, damit der junge Mann mit Behinderung seine Porno-DVD
       schauen darf. Aber wie umgehen mit dem Rollstuhlfahrer, der in der
       Behindertenwerkstatt gern mal blankzieht und zu onanieren beginnt? Oder wie
       soll eine Therapeutin reagieren, wenn sie im Bett eines Betreuten ihren
       Badeanzug findet? Menschen mit Behinderung und Sex – ein schwieriges Thema
       für alle Seiten.
       
       In Schleswig-Holstein gibt es nun Leitlinien für Wohnheime, Werkstätten und
       andere Einrichtungen, in denen Behinderte leben. Nachdem das Konzept im
       Landtag vorgestellt wurde, geht es nun an die Umsetzung. Ein erster Schritt
       war ein Treffen in Kiel, an dem Fachleute und Menschen mit Behinderungen
       teilnahmen.
       
       „Uns ist wichtig, den Schutz vor sexuellen Übergriffen und die sexuelle
       Selbstbestimmung gleichzeitig zu betrachten“, sagt Sonja Steinbach,
       Referentin beim Paritätischen Wohlfahrtsverband und Mitglied der Gruppe,
       die die Leitlinien erarbeitet hat. Denn viele Probleme entstünden, weil
       „Menschen mit Behinderung schon in der Pubertät beim Thema Sex außen vor
       gelassen werden“, sagt der psychiatrieerfahrene Thomas Bartels. Gerade wer
       in Heimen und Gruppen lebt oder noch im Erwachsenenalter von seinen Eltern
       betreut wird, habe kaum eine Chance, eine normale Sexualität zu entwickeln.
       
       Menschen mit Behinderung haben ein deutlich erhöhtes Risiko, Opfer von
       sexuellen Übergriffen zu werden: Laut einer Studie von 2014 erleben
       behinderte Frauen in der Kindheit und der Jugend zwei- bis dreimal häufiger
       eine Belästigung als nichtbehinderte. Bei erwachsenen Frauen, die in Heimen
       leben, finden die Übergriffe „überwiegend durch Mitbewohnerinnen und
       Mitbewohner“ statt, heißt es in der Studie.
       
       „Viele denken, die Behinderung selbst sei der Grund, warum jemand
       übergriffig wird“, sagt Ralf Specht von der Kieler Opfer-Beratungsstelle
       „Petze“, die ebenfalls an den Leitlinien mitarbeitet hat. „Aber die Leute
       haben nur nie lernen können, wie sie mit ihren Bedürfnissen umgehen.“
       
       Bis vor wenigen Jahren war das Thema Sex in Einrichtungen vollkommen tabu,
       und auch Eltern seien eher ablehnend gewesen, sagt Ann-Kathrin Lorenzen,
       ebenfalls bei der Petze beschäftigt: „Da hieß es: Sex gleich
       Geschlechtsverkehr gleich Schwangerschaft – eher erschreckend für Eltern,
       die bereits ihre behinderte Tochter betreuen.“ In vielen Fällen würden
       diese Frauen dazu gedrängt, mit Drei-Monats-Spritzen oder Spirale
       vorzusorgen oder sich gar sterilisieren zu lassen. Genaue Zahlen dazu gibt
       es nicht, „aber ich denke, dass da Druck ausgeübt wird“, sagt Sonja
       Steinbach.
       
       Fast drei Jahre hat die Arbeitsgruppe, an der auch die Kieler Universität
       und die drei Ministerien für Soziales, Bildung und Justiz beteiligt waren,
       an den Leitlinien gearbeitet. Ministerpräsident Daniel Günther (CDU) ist
       Schirmherr. Gesetzliche Kraft haben die Regeln nicht, aber „wir sind schon
       der Meinung, dass es verbindliche Leitlinien sind“, sagt Steinbach.
       
       Einrichtungen sollen nun Konzepte entwickeln, wie sie mit sexuellen
       Übergriffen, aber auch mit sexuellen Bedürfnissen der BewohnerInnen oder
       Beschäftigten umgehen. „Es geht nicht um ein Stück Papier für die
       Schublade, sondern darum, sich ständig damit zu befassen“, betont
       Steinbach. So müssen Einrichtungen unter anderem eine Risikoanalyse
       erstellen und ein Beschwerdeverfahren festlegen.
       
       Dafür soll es einen finanziellen Ausgleich geben – das Thema wird im
       künftigen Landesrahmenplan benannt, der Grundlage für die Berechnungen der
       Personalkosten und Arbeitsstunden in Behinderteneinrichtungen ist.
       Bundesweit ziemlich einmalig seien dieses Konzept und auch die große
       politische Unterstützung, sagt Arne Braun aus dem Büro des
       Landesbehindertenbeauftragten.
       
       Doch die Praxis-Probleme sind nicht mit Geld allein leicht zu lösen: „Ich
       würde den Frauen in meiner Wohngruppe schon gern Tipps geben, wie sie sich
       selbst befriedigen können“, sagte eine Frau bei dem Treffen. „Aber ich weiß
       nicht, wie ich das Gespräch anfangen soll.“
       
       13 Jun 2019
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Esther Geißlinger
       
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