# taz.de -- Menschen mit Behinderung: Gleichstellung zurückgestellt
       
       > Am Mittwoch wird Michaela Pries als Landesbehindertenbeauftragten für
       > Schleswig-Holstein gewählt. Menschen mit Behinderung wurden nicht
       > gefragt.
       
 (IMG) Bild: Ein langer Weg: Demonstration für mehr Teilhabe im September 2016 in Hannover
       
       NEUMÜNSTER taz | Am Mittwoch wählt der Kieler Landtag eine neue
       Landesbehindertenbeauftragte, designiert ist Michaela Pries (CDU). Bei der
       Entscheidung bleibt die Politik unter sich, Menschen mit Behinderung wurden
       vorher nicht gefragt. Pikant: In der gleichen Sitzung behandelt das
       Parlament das „Landesbehindertengleichstellungsgesetz“ (LBGG), das genau
       diese Beteiligung vorschreibt.
       
       Das neue LBGG solle ein „wichtiges Signal für Inklusion“ sein, versprach
       Sozialminister Heiner Garg (FDP) Mitte Januar, nachdem das Kabinett dem
       Gesetz zugestimmt hatte. Mitreden dürfen Betroffene künftig bei der Wahl
       des oder der Landesbeauftragten: Der Teilhabebeirat – ein Gremium, dem 17
       Selbsthilfegruppen und Verbände angehören – „ist zu beteiligen“, heißt es
       in Paragraph 21 des Gesetzes. Der oder die Beauftragte solle selbst eine
       Behinderung haben.
       
       Formal ist das Gesetz zwar noch nicht in Kraft, trotzdem findet Thomas
       Bartels von der „Aktionsgemeinschaft Handlungsplan“, einer Selbstvertretung
       von psychisch Kranken, das Vorgehen der Politik „einen Griff ins Klo“. In
       den vergangenen Jahren habe die Beteiligung von Menschen mit Behinderungen
       einen Entwicklungsprozess durchgemacht: „Das war ein langer Weg zur
       Zusammenarbeit, und jetzt ist wieder alles wie früher, wir werden vor
       vollendete Tatsachen gestellt.“
       
       Er ist mit der Kritik nicht allein: „Es grummelt in der sozialen
       Landschaft“, fasst ein*e Kenner*in der Szene die Stimmung zusammen,
       nachdem die CDU per Pressemitteilung ihren Vorschlag bekannt gemacht hatte.
       
       Der Unmut richte sich nicht gegen die Person, sondern es gehe um das
       Verfahren, sagt Janine Kolbig vom „Zentrum für selbstbestimmtes Leben
       Norddeutschland“, einem Selbsthilfeverein von und für Menschen mit
       Behinderung: „Ich kenne Michaela Pries und wünsche ihr viel Glück. Aber für
       uns steht der Wunsch nach Teilhabe und Partizipation ganz oben, und das
       fand nicht statt.“
       
       Dass sie der Person das Amt zutrauen und ihr Erfolg wünschen, sagen alle
       Gesprächspartner*innen. Michaela Pries, Jahrgang 1966, hat Abschlüsse als
       Erzieherin und Fachwirtin im Gesundheits- und Sozialwesen. Die Mutter einer
       erwachsenen Tochter hat als Erzieherin gearbeitet und wechselte 2010 zur
       „Stiftung Drachensee“, die Wohnplätze, Werkstätten und Betreuung für
       Menschen mit Behinderungen anbietet. Seit 2013 ist sie dort in
       Leitungsfunktion.
       
       Politische Erfahrung hat das CDU-Mitglied in der Kieler Ratsversammlung
       erworben, der sie von 2003 bis 2018 angehörte, sowie in zahlreichen
       weiteren Ehrenämtern, darunter im Beirat für Menschen mit Behinderungen der
       Stadt Kiel. 2009 kandidierte sie für den Bundestag, verlor aber.
       
       „Bei Michaela Pries stimmen alle Voraussetzungen“, sagt Katja
       Rathje-Hoffmann. Die CDU-Sozialpolitikerin ist maßgeblich verantwortlich
       für die Nominierung der Parteifreundin, der sie große „Fachlichkeit und
       Erfahrung“ zuschreibt: „Sie kennt sich aus mit der Praxis und mit den
       komplexen Gesetzen.“ Dass Pries die „passende Farbe“, also das
       CDU-Parteibuch, habe, sei gewollt gewesen, aber habe nicht höchste
       Priorität gehabt.
       
       Dass die Wahl ohne Beteiligung des Beirats stattfand, entspreche der
       aktuellen Rechtslage, immerhin sei das LBBG noch nicht in Kraft, sagt die
       Abgeordnete: „Die Verantwortung für die Wahl der Beauftragten trägt nun mal
       der Landtag, und wir als CDU haben das Vorschlagsrecht für den Posten.“
       
       Pries, die sich zurzeit nicht öffentlich äußern will, stellt sich am
       Dienstag, einen Tag vor ihrer Wahl, dem Teilhabebeirat vor. „Das war ihr
       und auch mir wichtig“, sagt Rathje-Hoffmann. „Das wird hoffentlich der
       Beginn einer guten Zusammenarbeit.“
       
       Sie glaubt, dass das Verfahren mit dem Gesetz gar nicht sehr viel anders
       verlaufen würde: „So eine Stelle zu besetzen, ist ein langwieriger
       Prozess.“ In einer Reihe von Gesprächen seien zahlreiche infrage kommende
       Personen „unter die Lupe genommen worden“. Eine Beteiligung des Beirats sei
       dabei schwer vorstellbar.
       
       Wolfgang Baasch, behindertenpolitischer Sprecher der SPD-Fraktion und
       ehrenamtlicher AWO-Landesvorsitzender, sieht das anders: „Es ist zwar
       nichts Ungewöhnliches, in einer Koalition zu vereinbaren, wer das
       Vorschlagsrecht für welche Posten erhält. Aber die Menschen mit Behinderung
       nicht einzubinden, ist nicht mehr zeitgemäß.“ Denn schließlich laute das
       Motto der Behindertenpolitik:,Nichts über uns ohne uns’. Baasch verweist
       auf das Behindertengleichstellungsgesetz, das nach mehrjähriger Debatte
       demnächst in Kraft tritt: „Man verstößt hier gegen den eigenen
       Gesetzentwurf.“
       
       ## Wahl für sechs Jahre
       
       Neben der Beteiligung geht es auch um die Frage der eigenen Betroffenheit.
       „Ich denke, Menschen mit Behinderung können sich besser in Diskriminierung
       hineinversetzen“, sagt Janine Kolbig. „Außerdem ist es ein repräsentatives
       Amt, für das wir Betroffene uns jemanden wünschen, der sich selbst als
       behindert definiert.“
       
       Der aktuelle Amtsinhaber, Ulrich Hase, ist gehörlos und geht offen damit
       um. Michaela Pries hat sich bisher nicht klar zu dem Thema geäußert.
       Gewählt wird sie auf sechs Jahre. Wenn es ähnlich läuft wie beim
       Amtsvorgänger, dauert es lange, bis wieder eine echte Wahl ansteht: Hase,
       der ein SPD-Parteibuch besitzt, ist seit über 25 Jahren im Amt. Damals lag
       die Entscheidung allein bei der Ministerpräsidentin. Heide Simonis hatte
       bei Behindertenverbänden nach einem geeigneten Kandidaten gefragt – ganz
       ohne LBBG.
       
       26 Jan 2021
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Esther Geißlinger
       
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