# taz.de -- Klimawandel und Ethik: Gesetze statt Scham
       
       > Alle reden von Flugscham. Aber kaum eine oder einer ändert sein
       > Verhalten. Das sollte niemanden überraschen, denn Scham ist eine
       > schlechte Strategie.
       
 (IMG) Bild: Ab in den Hangar! Und schäm dich!
       
       Urlaubszeit [1][ist Klimakrisenzeit] ist Zeit, sich mal wieder richtig zu
       schämen. Genauer: Zeit, sich fürs zwanghafte, im Grunde perverse
       Ständig-in-den-Urlaub-Fliegen zu schämen. Denn klar ist: Das Individuum,
       dieses ungezügelte, schamlose, dieses dauernd Wollende schlechte Wesen ist
       für die drohende Klimakatastrophe verantwortlich, weshalb es sich nun
       schämen sollte. Es soll „Flugscham“ empfinden. Dabei ist „Shaming“ eine
       ausgesprochen kontraproduktive Strategie, wenn das Ziel ist, unser
       Verhalten zu ändern.
       
       Ursprünglich aus dem oberprotestantischen Schweden stammend und
       transportiert über das politkulturelle Symbol „Greta“, beschreibt der
       Begriff Flugscham das Gefühl, das Menschen aus einem bestimmten Kulturkreis
       empfinden können, wenn sie trotz ihrer Sorgen um das Klima immer noch in
       den Urlaub oder auf Dienstreise fliegen.
       
       Jetzt wird aber der Begriff zur Strategie: Scham ist ein negatives Gefühl,
       und wir möchten, um kognitive Dissonanz zu vermeiden, die Quelle dieses
       negativen Gefühls beseitigen, also (das ist zumindest die Hoffnung) mit dem
       vielen Fliegen aufhören. In diesem Sinne schreibt Svenja Bergt, dass, bis
       politische Lösungen für die Klimakrise gefunden würden, wir doch alle bitte
       [2][„mehr Scham“ empfinden sollten], „und das nicht nur, wenn es ums
       Fliegen geht“.
       
       Jedoch: Es wird immer noch geflogen. Einen Tag, bevor in Berlin bis zu
       einer Million Menschen beim CSD ausgelassen den Widerstand queerer Menschen
       gegen Scham und Unterdrückung feierten, eben unseren Stolz, unsere „Pride“,
       lese ich, dass zwar alle von Flugscham reden, lustigerweise aber kaum
       jemand sein Verhalten ändert.
       
       Aha. Alle Schämen sich. Und niemand ändert sein Verhalten. Das sollte aber
       niemanden überraschen, denn um besser zu verstehen, warum Shaming keine
       gute Strategie ist, um Menschen klimafreundliches Verhalten beizubringen,
       könnte man sich einfach nur unter all den queeren Menschen umhören, die
       dieser Tage (um den CSD herum) in Berlin so sichtbar waren.
       
       Während Scham nämlich eine in (fast) allen Unterdrückungsverhältnissen
       auftauchende Kontrollstrategie ist, bedeutet die Tatsache, dass Queerness,
       dass sexuelle Devianz in den meisten Fällen nicht „von außen“ sichtbar ist,
       dass internalisierte Kontrollmechanismen wie eben Scham eine
       dementsprechend größere Rolle in der Kontrolle des unterdrückten Subjekts
       spielen müssen.
       
       ## Sich schuldig fühlen
       
       Scham, dem Duden zufolge „das Bewusstsein, (besonders in moralischer
       Hinsicht) versagt zu haben, (eine) durch das Gefühl, sich eine Blöße
       gegeben zu haben, ausgelöste quälende Empfindung“, ist ein autoritäres, vom
       Über-Ich produziertes, das sich schämende Subjekt infantilisierendes
       Gefühl. Die Scham unterscheidet sich vom „schlechten Gewissen“, das ein
       reflektierendes und entscheidungsfähiges Subjekt anruft: „benutz nicht das
       N-Wort, weil es Rassismen reproduziert“, ist eine völlig andere Aussage als
       „schäm dich für dieses rassistische Wort“.
       
       Es ist daher die Scham, nicht das Gewissen, mit dem heteronormative
       Mehrheitsgesellschaften seit Beginn der kapitalistischen Moderne versuchen,
       queere Menschen zu kontrollieren und von abweichendem Verhalten abzuhalten.
       
       Dazu zwei Gedanken: Erstens, wer Shaming zu einer verallgemeinerten
       Kontrollstrategie aufwerten will (trotz Kritiken zum Beispiel am Slut-,
       Fat- oder Body-Shaming), sollte zuerst einmal mit queeren Menschen ins
       Gespräch kommen, denn wir haben erhebliche Erfahrung damit, wie es sich
       anfühlt, im Zustand des dauernden Geshamt-Werdens zu leben. [3][Es fühlt
       sich scheiße an] („quälende Empfindung“). Nur ändern wir deswegen nicht
       dauerhaft unser Verhalten – wir spalten ab: Abschottung
       („compartmentalization“) wird das genannt; und machen munter weiter mit der
       kollektiven, jetzt aber unsichtbaren Devianz.
       
       Denn, zweitens: Shaming führt gerade nicht zur souveränen ethischen
       Reflexion, welche die Partisan*innen der Flugscham gerne erzielen würden.
       Fragen Sie mal all die vielen queeren Menschen, die sich jahrelang für ihr
       Verhalten, für ihre von der Norm abweichenden Wünsche und Begierden
       geschämt haben. Natürlich haben viele von uns sich schlecht, sich schuldig
       gefühlt, und mit Sicherheit hat diese Scham viele von uns in die
       Verzweiflung, den Wahnsinn, vielleicht sogar den Suizid getrieben.
       
       Was diese Gefühle aber ganz klar nicht getan haben, ist, uns davon
       abzubringen, das eigene Geschlecht oder noch Ungewöhnlicheres zu begehren.
       Stattdessen befeuerte das Shaming unseren Kampfgeist, und wir begannen, uns
       gegen die Scham, gegen die Ausgrenzung, zur Wehr zu setzen: stellten
       unseren Stolz („Pride“), unsere Riots (Stonewall), gegen die
       schlagstockbewehrte Scham.
       
       ## Abbau von Privilegien
       
       Wer Scham zur allgemeinen Klimaschutzstrategie machen will, läuft nicht nur
       Gefahr, eine Art Victorian Age der repressiven Umweltpolitik zu
       produzieren, sondern produziert darüber hinaus noch viele kleine
       Rechtspopulist*innen. Pride, Stolz, ist eine vorhersagbar-kämpferische
       Antwort auf Shaming, ebenso wie das sarrazinesque „Das wird man ja wohl
       noch (x) dürfen“ eine nachvollziehbar-bockige Antwort darauf ist.
       
       Wer keine Diesel-Fahrer- und Vielflieger-Pride-Paraden in unseren Städten
       sehen will, sollte schleunigst einen Diskurs entwickeln, der nicht
       versucht, Menschen zu infantilisieren, sondern sie als souveräne ethische
       Subjekte anzurufen, mit ihnen darüber zu diskutieren, wie wir uns in einer
       Welt mit begrenzten Ressourcen verhalten sollen, in der die historische
       Verantwortung für Klimawandel et al. beim reichen Norden liegt.
       
       Denn es geht beim „Abbau von Privilegien weder um Moral […] noch um
       Umerziehung. Sondern darum, umzuverteilen.“ Überzeugt Scham Sie davon, Ihre
       Steuern zu zahlen? Nein. Das Gesetz tut dies. Also lassen Sie uns lieber
       über Ethik und Gesetze reden, als die gesamte Gesellschaft zu verschämten
       und/oder bockigen Kleinkindern zu machen.
       
       3 Aug 2019
       
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