# taz.de -- Semi-Dokfilm von Gabrielle Brady: Ruhelose Geister
       
       > Ästhetische Antworten auf politische Fragen: Gabrielle Bradys Doku „Die
       > Insel der hungrigen Geister“ verhandelt die australische
       > Abschiebepolitik.
       
 (IMG) Bild: Riesenkrabben schwärmen aus
       
       Flucht als Bild: Gabrielle Brady eröffnet ihren halbdokumentarischem Film
       „Die Insel der hungrigen Geister“ mit dem nächtlichen Ausbruch eines Mannes
       aus einem Internierungslager. Die Szene ist geschrieben und gespielt,
       basiert aber auf einer Geschichte, die sich tatsächlich zugetragen hat.
       [1][Auf der Weihnachtsinsel befindet sich eines von mehreren
       Abschiebungslagern] der australischen Regierung, wo Menschen unter absurden
       Bedingungen an der Einreise ins Land gehindert werden. 2015 kam ein Mann
       bei einem Fluchtversuch zu Tode, es folgte ein Aufstand der Inhaftierten.
       
       In den vergangenen 20 Jahren [2][machte Australiens Abschiebepolitik durch
       Dutzende Tote und Selbstmorde Schlagzeilen]. Die Regierung verheimlicht
       davon nichts, sie will weitere Menschen von der Einreise abhalten.
       
       Bradys Film sucht ästhetische Antworten auf politische Fragen. Später hackt
       sich eine Frau mit einer Machete durch den Wald, durch ein
       undurchschaubares Dickicht, auf das Lager zu, um es von einem Hügel aus zu
       betrachten. Die Filmemacherin kennt diese Frau: Poh Lin Lee ist Psychologin
       und steht im Zentrum des Films. Sie spricht mit Menschen aus dem Lager,
       deren Zustand geprägt ist von Fremdbestimmtheit, Freiheitsentzug und
       Verunsicherung. Sie kann nichts daran ändern, wenn Einzelne aus dem Lager
       in ein anderes verlegt werden und von heute auf morgen nicht mehr zu ihren
       Sitzungen erscheinen.
       
       ## Inszenierte Therapiesitzungen
       
       Im Film sind Sitzungen zu sehen, die für den Film mit ehemaligen
       Inhaftierten in einer erfundenen Praxis inszeniert und gedreht wurden.
       Diesen Umstand offenbart Brady jedoch nicht. Die Schicksale und Geschichten
       sind real und erscheinen real. Ebenso das menschliche und zivilisatorische
       Scheitern, das sich darin ausdrückt.
       
       „Die Insel der hungrigen Geister“ ist ein Film über gefühlte Wahrheiten und
       Grenzbereiche des Erfahrbaren. Und so verschränkt Brady die aktuellen
       Fragen mit vergangenen, das Sichtbare mit dem Unsichtbaren: Die
       Weihnachtsinsel wird als Ort entblößt, dem eine extreme
       Ausbeutungsgeschichte zugrunde liegt. So holte England im frühen 20.
       Jahrhundert unzählige chinesische Zwangsarbeiter in die dortigen Minen und
       ließ sie Phosphate abbauen.
       
       Bis heute hält der chinesische Teil der Bevölkerung auf der Insel
       Gedenkfeiern für die vielen damals ausgebeuteten und verstorbenen Menschen
       ab. Es ist dann von ruhelosen Geistern die Rede und von Menschen, die nie
       bestattet wurden. Auf den Straßen ziehen indes Hundertschaften nicht minder
       geisterhafter Krebstiere ihre Bahnen, suchen die Nähe zum Meer und zu den
       felsigen Klippen. In den eindrucksvollsten Bildern des Films wirkt es
       beinahe, als würde der Boden der Insel selbst zum Leben erwachen und in
       Wallung geraten. Keine einzige der tausenden Krabben soll umkommen und in
       ihrer Wanderung gestört werden, dafür sperrt die Polizei ganze Straßen ab.
       
       ## Faszination Krabbe
       
       Poh Lin Lee tritt mehrmals mit ihrer Familie auf, die Erkundung der Insel
       prägt die Freizeit. Ihre Kinder sind von den Krabben fasziniert, trauen
       sich jedoch nicht, sie anzufassen. Die großen Exemplare werden fast 100
       Jahre alt, erklären die Eltern. Beinahe haben die Tiere also noch erlebt,
       wie die Insel Ende des 19. Jahrhunderts besiedelt wurde, trafen vielleicht
       die ersten Menschen.
       
       Die Familie setzt sich der Kamera beim Betrachten eines Tiers selbstbewusst
       aus und lässt die Filmemacherin auch sonst wie selbstverständlich am Leben
       teilhaben. Alle sind sich freundschaftlich verbunden, betont Brady in
       Interviews. Die Alltagsmomente aus Poh Lins Leben treten mit den
       Therapiesitzungen und den sonderbaren Inseltieren in ein wundersames
       Verhältnis.
       
       Natürlich war da auch der Anfang des Films, die Nachinszenierung einer
       Flucht. Und so schleicht sich beim Sehen das Gefühl ein, eine inszenierte
       Realität vorzufinden. Die Realität zu akzeptieren, mehr noch, sich durch
       sinnstiftende Geistererzählungen mit ihr zu versöhnen, wird zur
       eigentlichen Perspektive, zur Drohung und mitunter zum Fehltritt des Films.
       Brady lotet Grauzonen aus und will die völlige Nähe zum Gefühl, sucht ein
       Weltgefühl. Ihre Kamera will bei Therapiesitzungen Tragik in Gesichtern
       zeigen, begleitet Poh Lin in eine Krise. Auch dann: ein langer Blick aufs
       Meer, den sich die Kamera bestimmt nicht entgehen lässt.
       
       „Die Insel der hungrigen Geister“ tendiert bei aller motivischen
       Faszination für das Übernatürliche zum gestalterisch-Autoritären, zum
       Privilegierten. In einer Kernszene vermischt sich alles: Ein Mann spricht
       vom Protest im Lager, vom Vernähen von Mündern und Augen. Poh Lin wühlt
       dazu in dem Sandkasten, den sie zur Therapie benutzt. Dichte, dröhnende
       Klänge spülen die Erzählung endgültig zusammen mit Geisterkitsch. Vom Kino
       angesichts einer unfassbaren Realität den Verzicht aufs Sinnliche zu
       fordern wäre verquer. Aber eine Haltung, die sich im richtigen Moment als
       Zurückhaltung manifestiert und nicht das Extrem zum ästhetischen Spiel
       verklärt, wäre doch das Mindeste.
       
       23 Oct 2019
       
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