# taz.de -- Türkischer Einmarsch in Syrien: Verlogene Rechtfertigung
       
       > Erdoğans Angriff auf Nordsyrien ist völkerrechtswidrig. Eine
       > terroristische Bedrohung gibt es nicht – aber sie wird durch den Krieg
       > wahrscheinlicher.
       
 (IMG) Bild: Nach Luftschlägen setzt die Türkei ihre Offensive in Nordsyrien mit Bodentruppen fort
       
       Der [1][Krieg der Türkei] gegen die Kurden im benachbarten Syrien ist ein
       eindeutiger Verstoß gegen das in Artikel 2.4 der UN-Charta verankerte
       Gewaltverbot. Und damit ein schwerwiegender Bruch des Völkerrechts. Das
       Recht auf militärische Selbstverteidigung aus Artikel 51 der Charta kann
       die Regierung Erdoğan nicht für sich reklamieren, denn die Türkei wurde
       nicht angegriffen. Es drohte nicht einmal ein militärischer Angriff – weder
       unmittelbar noch mittelbar –, den es zu verhindern galt.
       
       Daher muss zur Rechtfertigung die Behauptung einer angeblichen
       „terroristischen Bedrohung“ herhalten, die man durch Krieg „beseitigen“
       wolle. Mit dieser willkürlichen Behauptung haben seit Beginn des globalen
       „Kriegs gegen den Terrorismus“, den die USA nach den Anschlägen vom 11.
       September 2001 ausgerufen hatten, schon eine Reihe von Regierungen
       versucht, völkerrechtswidrige militärische Interventionen, Folter und
       andere schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen zu rechtfertigen. Auch im
       konkreten Fall hält die Behauptung einer „terroristischen Bedrohung“ einer
       Überprüfung nicht stand. Die Volkverteidigungseinheiten (YPG) haben sich
       auf den Aufbau und die Verteidigung der Selbstverwaltung in den kurdischen
       Region Syriens beschränkt.
       
       In den letzten vier Jahren waren sie zudem der effektivste Verbündete der
       USA bei der Bekämpfung und Vertreibung der Terrororganisation „Islamischer
       Staat“ (IS). Von der Regierung Erdoğan wurde der IS zumindest in den ersten
       Jahren des seit Frühjahr 2011 währenden Syrienkonflikts logistisch sowie
       mit Waffen und Öllieferungen unterstützt. Das macht Erdoğans Rechtfertigung
       für den Krieg gegen die YPG [2][besonders verlogen].
       
       Doch selbst wenn Erdoğans Behauptung von der „terroristischen Bedrohung“
       durch die YPG zuträfe: Sein Krieg wird kontraproduktiv wirken und die
       „terroristische Bedrohung“ in mehrfacher Hinsicht verstärken. Zum einen ist
       damit zu rechnen, dass die YPG im Laufe des eskalierenden Kriegs mit der
       Türkei schon bald die Hafteinrichtungen, in denen sie rund 12.000 gefangen
       genommene IS-Kämpfer nebst Familien festgesetzt haben, nicht mehr bewachen
       und kontrollieren können. Dann werden die IS-Kämpfer in Syrien und den
       Nachbarländern oder auch in Europa untertauchen und dort möglicherweise
       terroristische Anschläge verüben.
       
       ## Wachsende Gewaltbereitschaft unter den Kurden
       
       Zum Zweiten wird Erdoğans Krieg zu einer Radikalisierung und eventuell
       wachsenden Gewaltbereitschaft unter den Kurden führen – sowohl in ihren
       historischen Siedlungsgebieten in Syrien, der Türkei, im Irak und in Iran
       wie auch in der kurdischen Diaspora in Europa. Die [3][Forderung nach einem
       eigenen Staat], der ihnen vor 100 Jahren von den damaligen Kolonialmächten
       Frankreich und Großbritannien versprochen wurde, dürfte wieder lauter
       werden. Die Alternative, ein weitgehendes Autonomiemodell, wie es seit 1991
       im Nordirak existiert, von den Kurden in Nordsyrien bislang angestrebt
       wurde und auch für die Südosttürkei vorstellbar wäre, dürfte hingegen an
       Unterstützung verlieren.
       
       Auch die neue Flüchtlingsbewegung innerhalb Syriens sowie in die
       Nachbarländer und bis nach Europa, die Erdoğan mit diesem Krieg auslöst,
       hat destabilisierende Folgen. Zu einem Nährboden von Verzweiflung,
       Radikalisierung, Extremismus und Gewaltbereitschaft könnte die
       „Sicherheitszone“ in der bisherigen kurdischen Region in Nordsyrien werden,
       in der nach Erdoğans Plänen künftig die 3,5 Millionen syrischen Flüchtlinge
       in der Türkei leben sollen – bewacht von türkischen Soldaten.
       
       Ob es zu dieser „Sicherheitszone“ kommt und damit auf unbestimmte Dauer zu
       einer Präsenz türkischer Truppen auf syrischem Territoriums, hängt
       allerdings auch vom Verhalten der Regierung Assad in Damaskus ab. Bis zum
       Redaktionsschluss dieses Kommentars hat sie sich noch nicht einmal zu der
       völkerrechtswidrigen Invasion durch den Nachbarn Türkei geäußert. Wird
       Assad die kurdischen StaatsbürgerInnen seines Landes im Stich lassen und
       ihre Vertreibung zulassen? Oder wird er sie militärisch gegen die Invasoren
       unterstützen, was zu einem offenen Krieg zwischen Syrien und der Türkei
       führen könnte? Was das größere Übel wäre, fällt schwer zu entscheiden.
       
       10 Oct 2019
       
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