# taz.de -- Leben mit Behinderung: Der blinde Fleck
       
       > Menschen mit Assistenzhund haben im Alltag jede Menge Probleme, denn
       > nicht überall dürfen ihre Tiere rein. Nun soll ein Gesetz helfen.
       
 (IMG) Bild: Teurer Freund: Katharina und ihr Hund Buddy
       
       BERLIN taz | Treffen sich ein Blinder, ein Traumatisierter und eine
       Epileptikerin mit ihren Assistenzhunden zum Einkaufen. Sagt das
       Supermarktpersonal: Ihr dürft hier nicht rein. Ein fiktives Szenario – aber
       eines, das genauso eintreten könnte.
       
       Denn bis heute gibt es in Deutschland kein Gesetz, das den Zutritt für
       Assistenzhunde an Orten regelt, wo Hunde generell nicht zugelassen sind:
       Lebensmittelläden, Krankenhäuser oder Arztpraxen etwa. Im Alltag entstehen
       so vielfach Probleme: Das Personal der Einrichtungen ist nicht instruiert,
       wie mit den Assistenzhunden umzugehen ist, andere Kund*innen oder
       Patient*innen ekeln oder fürchten sich, manche fühlen sich ungleich
       behandelt, weil ihre Hunde draußen bleiben müssen. Und das ist nicht das
       einzige Problem.
       
       „Ich glaube, jeder Assistenzhundehalter ist schon mal irgendwo
       rausgeflogen“, sagt Hannah Reuter. Die Sprachwissenschaftlerin aus Berlin
       ist blind, seit ihrem 18. Lebensjahr hat sie einen Assistenzhund. Ohne
       dessen Begleitung, vor allem am Anfang, als sie ihn bekam, wäre sie heute
       kaum so selbstständig, glaubt die 36-Jährige. „Gerade nach den Irrungen und
       Wirrungen der Pubertät war das eine zusätzliche Sicherheit. Ich habe mich
       mit dem Hund Sachen getraut, die ich mich sonst nicht getraut hätte.“ Etwa
       für ein Praktikum ein halbes Jahr nach Litauen zu ziehen.
       
       Hannah Reuter wollte eigentlich schon ab 14 Jahren einen Assistenzhund
       haben – die Krankenkasse zahlte aber erst ab der Volljährigkeit. Immerhin:
       Blindenführhunde sind eine Kassenleistung. Andere Arten von Assistenzhunden
       sind dagegen noch nicht gleichgestellt: Ihre Halter*innen müssen sich um
       Ausbildung und Finanzierung selbst kümmern.
       
       ## Die Hunde sind teuer
       
       Aber es kommt etwas in Bewegung. Gerade erst lud das Bundesministerium für
       Arbeit und Soziales Betroffene und Initiativen ein, um Ziele für einen
       Gesetzentwurf zu formulieren. Dazu zählen neben den Zutrittsrechten auch
       die Finanzierung und eine Institutionalisierung der Ausbildung. Die kostet
       bis zu 25.000 Euro. Für Betroffene wie [1][Epileptiker*innen,
       Traumatisierte oder Mobilitätseingeschränkte] bedeutet das: Sie müssen
       bislang auf Spenden hoffen oder einfach finanziell gut dastehen.
       
       Eine der Teilnehmer*innen des Workshops im Ministerium war Katharina
       Schmidt aus München. Die Schülerin hat eine posttraumatische
       Belastungsstörung und wird von ihrem Assistenzhund Buddy begleitet. Seit
       sie Buddy hat, kann die 15-Jährige wieder entspannter in die Schule gehen,
       den öffentlichen Nahverkehr nutzen, am Leben teilhaben. Ihre Schule sei da
       sehr tolerant, Buddy begleite sie meistens, erzählt Katharina H. „Die
       Klassenkameraden gehen da auch positiv mit um und wollen ihn immer
       kuscheln.“
       
       Aber auch Katharina Schmidt berichtet von Problemen im Alltag. „Meine
       Erfahrungen mit Supermärkten sind teilweise gut, teilweise schlecht.
       Manchmal werde ich rausgeschmissen. Manchmal heißen die mich aber total
       willkommen und helfen beim Einkauf“, erzählt die Schülerin. „Und dann
       passiert es, dass Kunden mir erzählen, dass ich auch mit Assistenzhund
       nicht reindürfe, das ist am schlimmsten.“
       
       Katharina Schmidt berichtet, dass im Workshop des Ministeriums nun eine
       gesetzlich verankerte, staatliche Prüfstelle für Assistenzhunde als Ziel
       vereinbart wurde. Geprüfte Qualität schafft Vertrauen und könnte
       bestenfalls auch die Zugangsprobleme in öffentlichen Einrichtungen beheben.
       So gibt es bereits eine Sonderfallregelung des
       EU-Lebensmittelhygienerechts, die das Mitführen ausgebildeter
       Assistenzhunde erlaubt. Auch Anette Kramme, Staatssekretärin im
       Sozialministerium, betont: „Um unabhängiger und mobiler leben zu können,
       muss sich ein Assistenzhundehalter überall dort aufhalten dürfen, wo man in
       Straßenkleidung auch sein darf.“
       
       ## Vier Arten von Assistenzhunden
       
       Bislang ist in Paragraf 39 a des österreichischen Bundesbehindertengesetzes
       der Umgang mit Assistenzhunden definiert: welche Funktionen Assistenzhunde
       haben können, welche Voraussetzungen sie und ihre Halter*innen erfüllen
       müssen, um staatliche Fördermittel zu bekommen, oder wie die Qualität in
       Ausbildung und Prüfungen sicherzustellen ist. Unterschieden werden vier
       Arten von Assistenzhunden:
       
       Blindenführhunde, die als Navigator dienen, Hindernisse anzeigen oder etwa
       Sitzplätze suchen können.
       
       Servicehunde, die Menschen mit Mobilitätseinschränkung bei Aufgaben wie dem
       Abkleiden oder Aufheben von Gegenständen unterstützen.
       
       Signalhunde, die Menschen mit Hörbehinderung, Diabetiker*innen,
       Epileptiker*innen oder Traumatisierten helfen. Etwa wenn diese
       Krampfanfälle erleiden und stürzen. Ein Notarzt kann dann in einem
       Informationsetui des Hundes die richtige Behandlung und Medikation
       erfahren. Signalhunde sind zudem trainiert, gesundheitsgefährdende
       Situationen frühzeitig zu erkennen – um so Anfälle bestenfalls gar zu
       verhindern. Und Therapiebegleithunde, die mit ihrer Anwesenheit positiv auf
       die Betroffenen einwirken und so Teil eines therapeutischen Konzepts sein
       können.
       
       ## Auch wichtig: Tierrechte
       
       Bereits im Februar 2017 hatte der Bundesrat auf Initiative Niedersachsens
       die Gleichstellung aller Assistenzhunde gefordert. Zumal die
       [2][UN-Behindertenrechtskonvention] Hilfen durch Tiere als geeignete
       Maßnahme erklärte, um Menschen mit Behinderung die Mobilität zu
       erleichtern. Die Bundesrepublik hat die Konvention bereits 2009 ratifiziert
       und sich damit zu deren Umsetzung verpflichtet.
       
       Im aktuellen Koalitionsvertrag heißt es: „In allen Bereichen des Lebens
       sollen Menschen mit Behinderungen selbstverständlich dazugehören – und zwar
       von Anfang an.“ Daraus ließe sich auch ein Assistenzhundegesetz ableiten.
       SPD-Sozialexpertin Kerstin Tack teilt diese Einschätzung. Sie weist aber
       auch darauf hin, dass ein Gesetz nicht explizit im Koalitionsvertrag steht:
       „Deshalb müssen wir hierüber mit unserem Koalitionspartner verhandeln.“
       
       Im Workshop des Sozialministeriums spielte auch ein anderer Aspekt eine
       Rolle: die Tierrechte. Schon heute werden in Prüfungen nicht nur der Hund,
       sondern auch der oder die Halter*in auf ihre Tauglichkeit getestet,
       berichtet Katharina Schmidt. So eine Prüfung beginnt zu Hause, später geht
       es in ein Geschäft. Fünf bis sechs Stunden begleiten Prüfer*innen einen
       Assistenzhund und Assistenznehmer*in in Alltagssituationen.
       
       Auch Jens Hilbert ist dieser Aspekt wichtig. Der Berliner sitzt wegen einer
       Nervenkrankheit seit 20 Jahren im Rollstuhl. Ihm hilft sein Assistenzhund
       O’Aquensis. „Die Hunde haben einen Arbeitsmodus und sie haben Freizeit, sie
       sind aber in jeder Beziehung immer Hund“, betont Hilbert.
       
       ## Bisher kein Zeitplan für das Gesetz
       
       Hilberg ist Anfang 60 und schon lange mit Assistenzhund unterwegs.
       O'Aquensis hat er hauptsächlich über Spenden finanziert. Der zieht ihm die
       Schuhe aus, öffnet und schließt Türen. O’Aquensis trägt ihm sogar eine
       volle Tasse Kaffee hinterher. „Er ist sehr arbeitsam, freut sich, wenn er
       was machen darf. Der ist eher beleidigt, wenn es zu langweilig ist.“
       
       Hilbert sieht zumindest Verbesserungen bei den Zutrittsrechten in Gebäude.
       Mit seinem ersten Assistenzhund sei gar nicht daran zu denken gewesen, in
       einen Supermarkt zu gehen. Heute wisse das Personal meistens Bescheid.
       Dennoch sei er mit der Zeit etwas dünnhäutig geworden: „Irgendwann habe ich
       gesagt, dann geh ich halt nicht mehr einkaufen.“
       
       Das geplante Gesetz könnte auch in einem anderen Punkt das Leben vieler
       Betroffener erleichtern: bei der Kassenfinanzierung der Assistenzhunde, die
       bisher nur für Blindenführhunde gilt. Roswitha Warda von der Initiative
       Pfotenpiloten erzählt, dass bereits für deren Finanzierung jahrzehntelange
       Lobbyarbeit nötig war. Und das Modell sei nicht einfach übertragbar, denn
       die Vielfalt der Betroffenen und ihrer Bedürfnisse sei so groß, dass man
       Assistenzhunde nicht pauschal verschreiben könne.
       
       Warda sieht für die Krankenkassen aber auch Einsparmöglichkeiten. Würden
       doch durch verhinderte Anfälle Behandlungskosten gespart. „Beispiel
       Epileptiker: Wenn der Hund ihn eine Viertelstunde vor dem Anfall warnt, und
       der liegt sicher im Bett, statt irgendwo draußen unterwegs zu sein, kann
       eine Aktion schon den ganzen Hund bezahlt machen.“
       
       Von der Politik gibt es bislang keinen Zeitplan für ein
       Assistenzhundegesetz. Eine Sprecherin des Arbeitsministeriums erklärt, auf
       Grundlage des Workshops würden nun Eckpunkte für ein Gesetz erarbeitet und
       in einem weiteren Fachgespräch Experten, Länder- und Ressortvertreter
       befragt. Liegt ein Referentenentwurf vor, müssen sich die
       SPD-Politiker*innen dann mit dem Koalitionspartner, den Krankenkassen und
       vor allem dem Gesundheitsministerium verständigen. Das verweist auf Anfrage
       nur auf die derzeitige Regelung und lässt die Initiative des
       Sozialministeriums unkommentiert.
       
       Sowohl die gut vernetzten Betroffenen als auch die Zuständigen im
       Sozialministerium scheinen aber gewillt, eine baldige Lösung zu
       präsentieren. Dann kleben an Supermarkttüren bald vielleicht Aufkleber mit
       der Aufschrift: Assistenzhunde willkommen.
       
       15 Dec 2019
       
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