# taz.de -- Wahlkampf in Großbritannien: Labour sucht Basis
       
       > Im Nordosten Englands wählt man Labour. Aber diese Wahl ist anders. Eine
       > Spurensuche bei einer Partei, die sich ihrer selbst nicht mehr sicher
       > ist.
       
 (IMG) Bild: Die Brexit-Party macht sich Hoffnungen, ist aber wenig sichtbar: Parteibüro in Hartlepool
       
       SUTTON-IN-ASHFIELD/HARTLEPOOL/SUNDERLAND taz | Natalie Fleet sitzt im
       Leopardenmantel mit roter Rosette in ihren Wahlkampfbüro, ein
       umfunktionierter Laden in der Stadt Sutton. Die 35-Jährige ist
       Labour-Kandidatin für Ashfield in Nottinghamshire.
       
       Es ist einer jener Wahlkreise im Norden Englands, die seit Jahrzehnten fest
       in Labour-Hand sind, aber jetzt an die Konservativen fallen könnten. Das
       legen zahlreiche Gespräche in Regionen nördlich von Nottingham bis hoch
       nach Sunderland nahe.
       
       Ashfields bisherige Abgeordnete Gloria De Piero, mit italienischen Wurzeln,
       stand beim Brexit-Referendum 2016 auf der Remain-Seite. 70 Prozent des
       Wahlkreises aber stimmten für den EU-Austritt. Das müsse man respektieren,
       sagte sie, anders als viele in ihrer Partei. Bei den Wahlen 2017 schrumpfte
       ihre 9.000-Stimmen-Mehrheit auf 441. Im Juli beschloss die einstige
       Journalistin, sich nicht mehr aufstellen zu lassen, „wegen fehlender
       Toleranz in der Partei“, wie sie schrieb.
       
       Ihr Mitarbeiter Lee Anderson ist jetzt Kandidat der Konservativen. Der
       52-jährige ehemalige Bergarbeiter muss sich nicht mal groß anstrengen, um
       am 12. Dezember Kreuzchen von Brexit-Befürwortern für die Tories zu
       ergattern.
       
       ## Die harte Arbeit bringt nicht nur Sympathie
       
       Nun soll Natalie Fleet, Mutter von vier Kindern, Labour in Ashfield
       retten. „Wir versuchen die Leute aufzuklären und Themen anzusprechen wie
       die Kürzungen, mit denen die Tories Schulen und Gesundheitssystem
       schadeten“, schildert sie ihren Wahlkampf. Sie erwähnt einen Mord in der
       Nähe und die Schließung von zwei Polizeiwachen.
       
       Die harte Arbeit bringt ihr nicht nur Sympathie. Vor einer Woche versuchte
       jemand, die Fensterscheibe ihres Parteibüros mit Ziegelsteinen einzuwerfen.
       Es missglückte, doch die Einschlagstellen sind klar sichtbar. „Ich bin von
       der Labour-Politik überzeugt, weshalb ich mich überhaupt als Mutter auf all
       das einlasse“, sagt sie über den Gewaltakt mit einer Menschlichkeit, die
       vergessen lässt, dass auch sie Politikerin ist.
       
       Im Einkaufszentrum nebenan dominieren Discountläden, die Kundschaft ist
       übergewichtig. Auf einer Bank im grellen Neonlicht ruhen sich Arthur
       Pickaver, 73, Pauline Wood, 67, und Janet Straw, 60, vom Einkaufen aus. Die
       drei ehemaligen Fabrikarbeiter und Pflegekräfte geben an, früher Labour
       gewählt zu haben. Aber am 12. Dezember, sagen sie, erhält Johnson ihre
       Stimmen.
       
       „Ich will die EU verlassen, Jeremy Corbyn hat das blockiert!“, sagt
       Pickaver, pensionierter Bergarbeiter. Die drei sprechen vom Recht, ihr Land
       zurückzubekommen, von Sozialsiedlungen voller Migranten auf einstigen
       Grünflächen, von Arbeits- und Aussichtslosigkeit. Ihr Ziel? Mit Johnson
       werde Großbritannien wieder Nummer eins auf der Welt, wie früher.
       
       ## Industrielle Vergangenheit ist längst Geschichte
       
       Über die Kandidat*Innen vor Ort verlieren sie kein Wort. Man sieht in
       Sutton auch keine Wahlplakate, wie sie normalerweise in Vorgärten oder an
       Fensterscheiben angebracht sind.
       
       Es ist ein Bild, dass sich vielerorts wiederholt, auch in Hartlepool 200
       Kilometer nördlich. Die industrielle Vergangenheit der Stadt ist schon
       lange Geschichte. Das Leben spielt sich in Supermärkten und auf Parkplätzen
       ab. 36 Prozent aller Kinder leben hier in Armut, die Zahl der Drogentoten
       ist dreimal so hoch wie der nationale Durchschnitt. Wer Anwohner zur Wahl
       befragt, erhält eine von drei Antworten: „Weiß nicht“, „Ich wähle nie“ oder
       „Boris Johnson“.
       
       Auch in Hartlepool waren 2016 fast 70 Prozent für den Brexit. Lange Zeit
       war Peter Mandelson hier der Labour-Abgeordnete, ein Vertrauter Tony
       Blairs. 2017 gewann Mike Hill für Labour noch mit einer Mehrheit von 7.000
       Stimmen.
       
       Jetzt mobilisiert sowohl die [1][Konservative Partei] als auch die
       [2][Brexit Party] kräftig. Ihr Kandidat ist Parteivorsitzender Richard
       Tice, Immobilien-Multimillionär aus dem Süden. Man sieht sogar Schilder der
       Brexit Party an den Schrebergärten am Stadtrand.
       
       Für den Eisenbahner John ist die Brexit Party jedoch nicht die Partei
       seiner Wahl. Während der 50-Jährige vor seiner Schrebergartenhütte
       Gemüsereste in einen weißen Eimer kippt – „Frühstück für die Hühner“ –,
       erklärt er seine Philosophie: „Ich stehe auf meinen eigenen Füßen, und so
       muss es auch mit dem Land sein.“ Also Brexit. Früher wählte er Labour, „so
       wie alle hier“, doch nun gehe seine Stimme an Boris Johnson. „Labour ist
       keine Partei mehr für uns Arbeiter, sie dient den Leuten im Süden. Die
       Investitionen, die Labour verspricht, kommen doch hier nie an.“ Johnson
       würde zumindest den Brexit liefern, auch wenn er nur eine unter mehreren
       nicht besonders guten Optionen sei.
       
       Auch Carol Moon hat erwogen, wegen des Brexit die Konservativen zu wählen.
       Die 37-jährige Managerin der traditionsreichen Metzgerei Morrells im Herzen
       Hartlepools – Spezialiät: Schweinepastete mit Ale – tendiert jetzt nach
       Gesprächen mit Kunden wieder zu Labour. „Mit großer Zurückhaltung“, betont
       sie, „denn die Gestalt Corbyns finde ich abstoßend.“ Sie habe aber Sorge
       vor einer Privatisierung des Gesundheitssystems. „Wenn es die Möglichkeit
       gäbe, für niemanden zu stimmen, würde ich das ankreuzen“, versichert sie.
       
       Es wird eine schwierige Wahl, gesteht Jonathan Brush, Labour-Organisator in
       Hartlepool. Doch ein Pochen auf Labours Programm werde zum Sieg führen,
       meint er: „Am Ende kümmert sich Labour, in einer Gegend, die stark unter
       den Kürzungen der Tories leidet.“
       
       Es gibt Labour-Stimmen. Aber sie sind nicht die lautesten. In der
       Nachbarstadt Sunderland diskutieren Sarah und Robert auf einer Bank in der
       Fußgängerzone über Politik. „Nur Boris wird Brexit liefern. Corbyn wird uns
       bankrott machen“, behauptet Robert selbstbewusst. Pflegerin Sarah nickt
       schüchtern, doch gesteht später, dass sie Labour wählen wird. „Labour wird
       den Ärmeren eher helfen, glaube ich. Es ist mehr Gefühl als Wissen.“
       
       28 Nov 2019
       
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