# taz.de -- Freundschaft über Generationengrenzen: In deinen Augen
       
       > Sich selbst finden, zwischen der Familie und neuer Autonomie? Eine
       > geflüchtete junge Frau macht sich auf die Suche. Eine ältere Freundin
       > hilft.
       
 (IMG) Bild: Sie will, wie sie das nennt, frei leben, wie die Deutschen
       
       „Es war Hochsommer. Du warst gerade angekommen.“ Vor vier Jahren haben sich
       die beiden im Theater kennengelernt, in Wilhelmshaven, in der Stadt, in die
       Rola Sami damals gerade mit ihrer Familie gezogen war. Gisela Reichmann
       gießt Tee ein und erinnert sich: „Zufällig trafen wir uns kurz darauf
       wieder in der Stadtbibliothek“. Rola Sami ist da 23 Jahre alt und gerade
       erst mit Vater und Schwester aus dem syrischen Aleppo nach Deutschland
       geflohen. Im Kopf habe sie nur eins gehabt, erinnert sie sich heute: „Ich
       muss in Deutschland Wurzeln schlagen. So schnell, wie es geht.“
       
       Ich lerne die beiden vier Jahre nach ihrer ersten Begegnung in
       Wilhelmshaven kennen. Rola Sami ist heute 27. Gisela Reichmann ist 70.
       Zwischen ihnen liegen, wie man so sagt, zwei Generationen. In den letzten
       Jahren sind die beiden so vertraut miteinander geworden, dass Rola Sami
       ihrer deutschen Freundin alle Geheimnisse anvertraut. „Ich rede mit Gisela
       über alles!“, sagt sie. Und Reichmann sagt: „In deinen Augen und deiner Wut
       kann ich mich wiedererkennen!“
       
       Wir sitzen beisammen in Samis kleiner Wohnung. Sami macht inzwischen eine
       Ausbildung zur Krankenschwester in einer anderen Stadt, 15 Minuten mit dem
       Zug entfernt, Gisela Reichmann sieht sie aber weiter regelmäßig. Die
       Freundschaft der beiden fasziniert mich. Ich will wissen, was die beiden
       zusammenhält, noch nach Jahren.
       
       Überall auf die Wänden von Rola Samis Wohnung hängen kleine bunte
       Notizzettel – deutsche Wörter mit der arabischen Übersetzung. Ein
       selbstgezeichnetes Schema des menschlichen Blutkreislaufs, gemalt mit Rot
       und Blau, hängt unter einem Familienfoto.
       
       „Und mein Name taucht nicht auf?“, fragt Rola Sami und schmiert ein Brot.
       Rola Sami will keinen Ärger mit ihrer Familie bekommen. Was sie mir
       erzählen muss, damit ich ihre und Gisela Reichmanns Freundschaft verstehe,
       ist intim. Deswegen habe ich die Namen der beiden geändert. Auch den Namen
       der Stadt, in der Rola Sami mittlerweile lebt, verrate ich nicht. Weil es
       besser so ist. Und weil es in gewisser Weise egal ist. Die Geschichte der
       beiden, da bin ich überzeugt, könnte sich ebenso gut irgendwo anders
       zwischen zwei anderen Frauen wiederholen.
       
       ## Bloß die Adresse ist neu
       
       Das neue Leben, das Rola Sami vor vier Jahren in Wilhelmshaven beginnt,
       sieht ihr damals, wie sie sagt, „dem alten in Aleppo zu ähnlich“. Nach und
       nach fliehen weitere Familienmitglieder Samis nach Deutschland, versammelt
       sich fast die ganze Familie in der kleinen deutschen Küstenstadt. Auch die
       Onkel und die Tanten. Stein auf Stein baut die Familie ihr Leben in
       Deutschland wieder auf. „Als hätte sich gar nichts geändert. Nur die
       Adresse.“ Samis Familie ist konservativ, in Deutschland hat sie einen
       anderen Lebensstil entdeckt, den sie faszinierend findet.
       
       Sie will, wie sie das nennt, frei leben, wie die Deutschen. Eine eigene
       Wohnung, eine eigene Karriere, Beziehungen, vor allem aber: keine
       Rechenschaft der Familie gegenüber. In der konservativen Community, in der
       sie zuhause ist, eckt sie damit an. Die Menschen, die ihr nahe stehen, sagt
       sie, hätten keine bessere Übersetzung von „frei leben“ als das arabische
       Dialektwort „falatan“ – „Hurerei“.
       
       Doch, ja, ein wenig habe sich die Familie an die Gepflogenheiten der neuen
       Gesellschaft angepasst, gibt sie zu. Ihre Mutter trage jetzt Hosen statt
       nur Röcke. Wenn es warm werde, lege sie ihr Kopftuch ab. Rola Sami darf
       enge Kleider anziehen. Ihre Beine darf sie zeigen ohne dieses riesige
       Theater, das es früher immer gab. Aber der Vater fürchte, dass über seine
       Tochter schlecht geredet wird, sagt sie. Er wolle sie beschützen. Denn er
       glaube, dass man das Gerede über eine Frau lauter hört als ihren Erfolg.
       
       Als der Vater ihr verbieten will, eine eigene Wohnung zu suchen, rebelliert
       sie. Im Streit mit ihm rennt sie eines Tages aus dem Haus. In Wilhelmshaven
       hat sie damals keine Freunde, zu denen sie gehen kann. Der Weg führt sie in
       die Stadtbibliothek – dort trifft sie Gisela Reichmann.
       
       Nach dem Zusammentreffen in der Bibliothek lädt Gisela Reichmann Rola Sami
       zu sich nach Hause ein. „Bist du verrückt! Du kennst sie ja kaum“, habe
       ihre Schwester gesagt, erinnert sich Sami. Die Schwester kommt
       sicherheitshalber mit zum ersten Treffen. Die drei unterhalten sich über
       Bücher, Politik und Religion. „Obwohl wir kaum Deutsch verstehen konnten“,
       lacht Sami, „vielleicht haben wir damals übereinander hinweggeredet – wer
       weiß?“ Danach besucht Gisela Reichmann Rola Sami regelmäßig zu Hause. Oft
       bringt sie eine Zeitung mit. Gelb markiert sie interessante Angebote und
       berichtet in einer einfachen Sprache, was Wilhelmshaven einer jungen Frau
       zu bieten hat. Reichmann ist es auch, die ihr hilft, eine eigene Wohnung zu
       finden.
       
       Zum ersten Mal hat Rola Sami jetzt ein eigenes Zimmer. Das Zuhause und da
       draußen, das seien zwei Welten, sagt sie. Es sei, als wache sie jeden Tag
       in einer Welt auf und trinke ihren Kaffee in einer anderen. Für ihre Eltern
       sei sie eine Revolutionärin. Ihre deutschen Mitschülerinnen hielten sie
       dagegen für altmodisch und in sich gekehrt.
       
       In der Ausbildung ist sie umgeben von vielen jungen Frauen in ihrem Alter.
       Aber sich den Gleichaltrigen anvertrauen, wie sie es bei Gisela Reichmann
       vermag, möchte sie nicht. Sie erzählt ihnen zwar, dass sie einen
       sympathischen jungen Mann kennengelernt hat – aber sie verschweigt, dass
       sie mit ihm keinen Sex hat, weil sie Jungfrau bleiben will. Für ihre
       Familie ist die Jungfräulichkeit das Allerheiligste. Bei der jungen
       Generation in Deutschland kommt der Begriff nicht einmal im Wortschatz vor.
       
       In Aleppo war sie in einen Mann verliebt, erzählt sie. Ein Kopftuch habe
       sie getragen, um ihm zu gefallen. Verhaftet wurde er bei einer
       Demonstration und verschwand. Seitdem hat sie nichts mehr von ihm gehört.
       Als sie mit der Familie in die Türkei flieht, trifft sie einen wohlhabenden
       Kurden. „Der war religiöser Muslim, wenn er wollte, und ein Ungläubiger,
       wenn es ihm besser passte.“ Wenn sie sich trafen, habe er die Knöpfe an
       ihrer Bluse geschlossen, um sie vor fremden Blicken zu schützen. Wenn sie
       aber zu zweit waren, öffnete er die Knöpfe bis zum letzten. Seine Hände
       hätten immer einen Weg unter ihre Bluse gefunden. Rola Sami findet diese
       Doppelmoral zum Verzweifeln.
       
       Als sie nach ein paar Monaten nach Deutschland geht, trennt sie sich und
       legt ihr Kopftuch ab. „Für mich war das Befreiung“, sagt sie. Ihre Mutter
       aber mache sich Sorgen. „Rola wird bald dreißig!“ wiederhole sie ständig.
       Sie solle mit einem wohlhabenden Arzt oder Anwalt zusammen sein. Sie solle
       ein Kind im Arm oder mindestens eins im Bauch haben. Sami argumentiert und
       versucht ihre Mutter zu beruhigen. Aber die Zweifel kommen auch ihr. Sie
       erzählt mir von einem Onkel, der seine Tochter in Aleppo mit einem Messer
       angriff, als er erfuhr, dass diese mit einem Araber geschlafen hat.
       
       „Du wirst sterben“, flüstere ihr oft eine innere Stimme in der Nacht zu.
       Manchmal weckt sie ihren Freund auf und erzählt ihm von ihren Ängsten. Oft
       nicht. Warum sollte sie ihm das Leben schwerer machen? Aber was wenn ihre
       Mutter doch Recht hat? Was, wenn ihr Vater jetzt hinter der Tür steht? In
       Ihrer Ausbildung hat sie viel mit älteren Menschen zu tun. Oft wünscht sie
       sich ein mobiles Alarm-Notruf-Gerät mit Verbindung zur Polizei für sich,
       wie es einige von denen tragen. Sie würde den Knopf drücken, wenn ihr Vater
       zu ihr kommt. Sami hat versucht, das Rattern im Kopf in Worte zu fassen.
       Obwohl sie mittlerweile fließend Deutsch spricht und mehrmals Theater auf
       Deutsch gespielt hat, hat sie kaum deutsche Freunde gefunden. Außer Gisela.
       
       ## „Ich musste früher für die gleichen Rechte kämpfen“
       
       Die anderen SchwesternschülerInnen glaubten, dass sie die Sprache nicht
       beherrscht, vermutet sie. Aber in Wahrheit fehlten ihr einfach die Worte –
       aus Angst vor Vorurteilen. „Ich spüre, wie mir das Blut ins Gesicht
       schießt, wenn ich versuche zu reden“. Oft entscheide sie sich deshalb,
       nichts zu sagen.
       
       Und dann sei da die Scham. Sie ist stark. Aber als Frau in einer
       patriarchalen Gesellschaft muss sie ständig Prioritäten setzen und abwägen,
       was sie opfern und was sie dazugewinnen will. Die einzige Person, die sie
       verstehen und die ihr Rat geben kann, ist Gisela Reichmann, die die Mutter
       ihrer Mutter sein könnte. Samis Eltern respektieren Reichmann und vertrauen
       ihr. Aber noch viel wichtiger: Weil Gisela Reichmann wesentlich älter ist,
       kann sie verstehen, was im Kopf von Rola Sami vor sich geht – besser, als
       es die Mittzwanzigerinnen je könnten.
       
       „Ich musste früher für die gleichen Rechte und Ideale kämpfen, für die du
       heute kämpfst.“ Gisela Reichmann versteht, was den jungen deutschen Frauen
       an Rola Samis Geschichte fremd ist. Was Krieg bedeutet und was
       Nachkriegszeiten mit sich bringen. Reichmann kennt auch noch den sozialen
       und sexuellen Konservatismus, der Deutschland in den 50er Jahren und
       darüber hinaus prägte – und der unterscheidet sich wenig von dem, was ihre
       Freundin heute erlebt. Klare Geschlechterrollen, romantisierte
       Häuslichkeit, die patriarchale Familie.
       
       „Die heutige junge Generation in Deutschland weiß kaum etwas über ihre
       Geschichte und Vergangenheit“, sagt Reichmann. „Du verstehst mich besser
       als meine Therapeutin“, erwidert die Freundin. Für Sami und Reichmann war
       ihr Zusammentreffen wie eine Brücke zwischen zwei Welten. Und führte zu
       einer engen Freundschaft zwischen einer 70- und einer 27-Jährigen – einer
       Freundschaft, die nicht etwa trotz des Altersunterschieds funktioniert,
       sondern gerade deswegen.
       
       13 Jan 2020
       
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