# taz.de -- Erinnerungen an Tage mit Schnee: Früher war mehr Winter. Oder?
       
       > Unser Autor hat das Gefühl, dass in seiner Kindheit andauernd Schnee lag.
       > Immer war alles weiß. Nun hat er überprüft, ob es stimmt.
       
 (IMG) Bild: Eddigehausen, Landkreis Göttingen, im Januar 2014. Auch damals: kein Schnee im Winter
       
       Wäre ich jetzt das Kind, das ich einst war, dann würde ich schon abends
       beim Insbettgehen den Schnee herbeisehnen, und am nächsten Morgen würde ich
       als Erstes aus dem Fenster gucken, und sehr wahrscheinlich wäre der Garten
       hinterm Haus und die Straße vor dem Haus weiß bedeckt, die ganze Nacht
       hätte es geschneit in Eddigehausen, dem Dorf unter der Burg Plesse im
       Landkreis Göttingen, und ich würde es plötzlich sehr eilig haben,
       aufzustehen, würde hastig meinen Becher Milch herunterstürzen, ein paarmal
       ins Marmeladenbrot beißen, um möglichst schnell draußen zu sein, draußen im
       Schnee.
       
       Und nach der Schule, mittags, würde ich mich wieder beeilen, um bei den
       anderen zu sein, wieder draußen im Schnee. Wir würden uns die Schlitten
       schnappen und in den Wald gehen, den Weg neben unserer Wohnsiedlung, dem
       „Neuen Dorf“, hoch, oben rechts Richtung Bovenden, dann links ab in den
       Wald. Die beste Rodelbahn, den ganzen Tag über waren wir da, bis abends,
       wenn es längst dunkel war. Kalt, verfroren, glücklich, zu Hause gab es
       heißen Kakao.
       
       Oder wir sind durchs Dorf gezogen; einige von uns, die Größeren, hatten aus
       Holzresten einen Schneepflug gebaut, den wir zogen und schoben, um die
       Bürgersteige freizuräumen. Natürlich klingelten wir an den Häusern und
       hofften auf ein paar Mark, bei G.s gab es Pistazien, die waren besonders,
       er war Perser. Stundenlang waren wir unterwegs, jeden Winter, täglich im
       Schnee.
       
       War es nicht so, Ende der 70er, Anfang der 80er?
       
       Zumindest in meiner Erinnerung waren die Winter schneereicher und weißer,
       „streng“, wie es meine Mutter unter die Winterbilder in mein Fotoalbum
       schrieb. Heute vermisse ich diese Wintertage, hoffe auf Schneefall,
       tanzende Flocken die ganze Nacht, und morgens ist alles weiß. Ich besuche
       Wettervorhersageseiten und scanne die Vier-Tage-Vorschau, die wohl noch
       einigermaßen seriös ist. Und ich sehe dort nur Temperaturen zwischen sieben
       und zehn Grad und Wolken, die sich vor eine Sonne schieben, manchmal
       Regentropfensymbole.
       
       Meine Töchter, sieben und zehn Jahre alt, kennen kaum Schnee, der Winter
       nach der Geburt der älteren war „streng“, zumindest schneereich, 2010, ich
       weiß es noch, sie nicht. Lange her. Sie wünschen sich Schnee, so wie ich
       damals. Sie sehnen ihn herbei; die Vorstellung, alles würde weiß sein, muss
       noch magischer sein für sie, als sie es für mich war. Ich habe ja Schnee
       erlebt, jeden Winter, sie noch kaum. Aber stimmt das? Und ist das der
       Klimawandel? Bleibt der Schnee aus, weil es wärmer wird?
       
       Ich habe beim Deutschen Wetterdienst nachgefragt, die sehr nette Frau Haase
       und der sehr nette Herr Weiner haben mir Datenreihen geschickt für die
       Jahre meiner Kindheit und für heute. Damals, als ich Kind war, ist jeden
       Morgen um sieben einer vom Deutschen Wetterdienst, Messstation Bovenden,
       rausgegangen und hat die Schneehöhe gemessen.
       
       Und, ja, es gab Tage mit Schnee, aber es gab auch Tage, an denen lag kein
       Schnee. Dann muss es genauso ausgesehen haben, wie es heute, am 9. Januar
       2020, die [1][Plesse-Cam] zeigt, die die Gegend von der Burgruine oberhalb
       des Dorfes aus täglich ablichtet: grün-braun liegt die Feldmark da, dunkel
       der Wald, die Ziegeldächer rot. Weiß blitzen nur die Fassaden einiger
       Häuser auf.
       
       Zwar gab es in den zehn Jahren von 1979 bis 1988 insgesamt 654 Tage mit
       Schneedecke, und in den Jahren 2010 bis 2019 nur 411, aber eben
       zwischendurch immer, damals wie heute, Wochen, an denen der
       Wetterdienstmessbeauftragte nichts zu messen hatte.
       
       Meine Erinnerung täuscht ganz einfach; die Tage mit Schnee, die ich mir in
       den Wintermonaten so gewünscht habe, haben sich zu langen, weißen,
       „strengen“ Wintern verdichtet. Wunsch und Erinnerung sind eins geworden,
       unfair gegenüber jedem schneelosen Tag von heute. Der Klimawandel, der
       auch durch andere Kennzahlen dokumentiert wird, lässt sich daraus aber
       sicher nicht ablesen, dafür ist der Messort zu klein und der Zeitraum zu
       kurz, die Schneedeckenlage zu wenig aussagekräftig. Die Temperaturen
       steigen, auch in Niedersachsen, das zeigen die Daten des Deutschen
       Wetterdienstes deutlich. Schnee kann jederzeit im Winter wieder fallen. Auf
       die schneearmen Jahre folgen -reiche. 1979 gab es in meinem Dorf 68
       Schneetage, 1989 nur einen.
       
       In der Großstadt, in der wir heute leben, sehen die Winter ohnehin anders
       aus als damals im Mittelgebirge. Wer weiß, vielleicht fahren wir demnächst
       einfach mal in die Berge.
       
       11 Jan 2020
       
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