# taz.de -- Ski fahren in Zeiten des Klimawandels: Die letzte Abfahrt
       
       > Unser Autor stand schon als Kind auf Skiern. Irgendwann empfand er statt
       > Skispaß nur noch Skischam – wegen der Umwelt. Ein Abschied von der Piste.
       
 (IMG) Bild: Schlechte Aussichten: Die Zukunft des Skifahrens in Deutschland
       
       Die Skier stehen in einem großen Schrank des Hobbyraums, links neben der
       Modelleisenbahn. Noch hinter den Rollerblades, von denen ich nicht weiß,
       wem die mal gehört haben sollen. Der Skianzug auf dem Bett meines
       Kinderzimmers ist AfD-blau. Kein Mensch würde sich heute so einen Skianzug
       kaufen. So ein Blau wäre viel zu obszön. Aber anziehen muss ich ihn heute
       wohl oder übel, denn es ist mein Skianzug. Er ist ein Relikt aus meiner
       Jugend, als ich an Wintermorgen wie diesem in den Keller ging, meine Skier
       und Skischuhe holte, und in das Auto einer meiner Schulfreunde stieg – in
       Richtung Skigebiet – in die blaue, naive Freiheit. Es waren schöne Zeiten.
       Ohne AfD. Ja auch die große Koalition gab es noch nicht. Und wenn, dann
       wäre das alles sowieso völlig egal gewesen.
       
       Vor uns der Berg, die erste Gondel, die ersten Schwünge auf dem riesigen
       knirschenden Teppich der Pistenraupe, angeschienen von der frühen kalten
       Wintersonne. Ski fahren war eine Liebe, schüchtern zwar, mit komplexen
       Anläufen, aber immer wieder sehr leidenschaftlich.
       
       Ich ließ immer alle vorfahren, und dann kam ich. Ich stieß mich ab, warf
       mich in die Kanten, ließ mich hinauskatapultieren. Zeichnete in das weite
       Weiß meine Schwünge. Aus dem leuchtenden Gipfelmorgen in das Blau des Tals.
       Mein Atem und das Pfeifen des Winds. Und im Wald dann nur noch Stille. Eine
       Jugend in Oberbayern, eine Jugend im Schnee.
       
       Zum Studium 2006 zog es mich in die Ferne, ins Flachland. Und die Welt
       wurde eine andere. Bis auf ein-, zweimal mit Freunden habe ich meine Skier
       nicht mehr benutzt – erst wegen des Geldes und dann aus Überzeugung. Heute
       lade ich das Zeug in meinen Golf, kratze den dünnen Eisfilm von meiner
       Windschutzscheibe und frage mich, ob die Überwindung je größer war als in
       diesem Moment, einem großen Vergnügen entgegenzufahren. Was für ein
       Blödsinn!
       
       In das folgende Experiment willigte ich nur unter der Bedingung ein, dass
       die taz die Fahrtkosten und den Skipass zahlt. Es ist mir ernst. Es sind
       ein paar Dinge sehr ernst geworden. Und so etwas wie Ski fahren ist Teil
       dessen, was ich als ernsthaftes Problem betrachte. Menschen, die für ihren
       Freizeitspaß sehr viel Geld ausgeben, sehr viele Kilometer zurücklegen, um
       dann auf Millionen Litern gefrorenen Wassers die fragilsten Naturräume
       Mitteleuropas zu durchschneiden.
       
       Massentourismus in den Alpen ist Gift für den Artenschutz, und er steckt in
       einer Sackgasse. Denn in etwa dreißig Jahren wird wohl an den meisten Orten
       Schluss damit sein. [1][Ski fahren ist Blödsinn in gleich mehreren
       Dimensionen.] Und gerade deshalb fahre ich heute Ski. Ich will wissen, oder
       besser spüren, was einen dazu treibt, diesen Mist Winter für Winter zu
       wiederholen. Und ob es einen Plan gibt – für die Zeit nach der großen
       Sause.
       
       „Ich sage Ihnen mal was.“ Peter Lorenz, ein gemütlicher Mann mit rundem
       Gesicht und Nickelbrille, sitzt am bäuerlichen Holztisch in seinem Büro
       unterhalb der Brauneck-Bahn. „Es gibt so viele Leute, die einen Plan für
       den Klimawandel haben. Wir haben keinen.“ Lorenz ist Geschäftsführer von
       zwei Skigebieten in den bayerischen Voralpen. [2][Das Brauneck ist der
       Hausberg der Münchner*innen, 1.555 Meter hoch] – die erste Skigelegenheit
       in den Voralpen.
       
       ## Uncoole Schlepplifte
       
       „Wir wissen, dass Ski fahren in den nächsten zehn bis fünfzehn Jahren
       möglich ist“, erläutert Lorenz die Fakten. Die sind für den Geschäftsmann
       ziemlich einfach. Zehn bis fünfzehn Jahre dauert es, bis sich die neue
       Sesselbahn auf dem Südhang finanziell lohnt. Zusammen mit der
       Beschneiungsanlage hat sie 10 Millionen Euro gekostet. Offenbar noch
       machbar.
       
       Früher fuhren Wintersportfreunde mit dem Zug die gute Stunde aus München
       nach Lenggries. Und stapften den Berg hoch. 1957 eröffnete dann die
       Kabinenbahn, die bis heute die Wanderer*innen und Skifahrer*innen von
       ganz unten auf den Gipfel bringt. Dazu kamen weitere kleine
       „Aufstiegshilfen“, meistens Schlepplifte, die in meiner Kindheit in den
       Neunzigern vorherrschten. Ziemlich uncool damals, gegenüber Österreich mit
       seinen Express-Sesselbahnen.
       
       Im Skikursbus karrte man uns Münchner Vorstadtkinder morgens in den
       Isarwinkel. Und als meine Familie an den Alpenrand zog, waren wir
       samstagmorgens in zwanzig Minuten an der Gondel – vor allen Münchner*innen,
       die sich teils über eine Stunde in der Schlange stauten. An Wochenenden
       kommen heute zwischen 5.000 und 8.000 Menschen zum Brauneck. Im Vergleich
       zu Skigebieten in Tirol ist der Parkplatz riesig. Die meisten hier sind
       Tagesgäste.
       
       Peter Lorenz greift sich seinen Helm und seine Skier und schiebt mich aus
       dem Büro, nach oben zur Gondel. Wir fahren hinauf. Die Wipfel der Fichten
       tragen eine dünne Schneeschicht. Die Woche war durchwachsen. Vorgestern hat
       es bis auf 2.000 Meter hinauf geregnet. Dazu Orkanböen. „Wir haben das
       Skigebiet zwei Tage lang zugemacht und den Schnee nicht angerührt.“ Dann
       schneite es einen halben Tag lang und sie halfen in zwei kalten Nächten mit
       Schneekanonen nach. „Sie werden sehen, die Schneebedingungen sind optimal.“
       
       Kurz nach der Talstation überquert die Bahn den Garlandkessel. Stolz blickt
       Peter Lorenz auf den ovalen Beschneiungsteich, den sie hier künstlich
       angelegt haben. Ein Speicher für Wasser, der mehr als 100.000 Kubikmeter
       fasst. Früher war dort ein Wäldchen, meine snowboardenden Handballkumpels
       bauten dort Sprungschanzen in den Tiefschnee. [3][Heute gibt es hier
       planierte Pisten um den Teich.] Er ist zu zwei Dritteln leer. Die
       Schneekanonen haben ihn ausgetrunken. In einem Winter, den ich zu Hause in
       München eher als regnerische Pause vom Sommer wahrnehme.
       
       Alfred Ringler ist seit Jahrzehnten Kritiker der künstlichen Beschneiung.
       Der Naturschützer lebt im Voralpenland und hat nichts gegen Skifahren an
       sich: „doch sollten die Berge von oben bis unten verschneit sein“. Auf
       natürliche Weise. Den Biologen stören vor allem die vielen Wasserleitungen,
       die in die Hänge gegraben wurden, um Schneekanonen zu versorgen. Damit
       zapfe man empfindlichen Feuchtgebieten das Wasser ab – in denen sogar
       Bachforellen überwintern könnten.
       
       [4][Die Bergbahnbetriebe verschleierten mit ihren Schneekanonen die
       Realität]: „Wir unterhalten da künstlich Skizentren, obwohl die
       Schneeverhältnisse vielleicht schon seit zwanzig Jahren gar nicht mehr
       ausreichen.“
       
       Schneekanonen haben die Bäume ersetzt 
       
       Peter Lorenz, der Geschäftsführer der Bergbahn am Brauneck, sieht es
       andersherum: „Wir haben viel bessere Winter als vor zwanzig, dreißig
       Jahren.“ Er meint damit die Schneeverhältnisse, die sich heute künstlich
       regulieren lassen. Das kann ich bestätigen. Früher fuhr ich hier oft auf
       braunen Pisten, über die immer wieder Steine rieselten, die die Skier
       zerkratzen. Heute fährt es sich auf allen Abfahrten solide. Der Schnee ist
       griffig und idiotensicher.
       
       Ich werfe mich in die zuckerguss-weiße Wonne. Und weiß doch, es ist ein
       künstliches Paradies. An manchen Waldstücken, durch die ich früher so gern
       fuhr, weil sie etwas Verwunschenes hatten, [5][haben Schneekanonen die
       Bäume ersetzt.] Ich fühle Skischam. Oder ist das nur mein urbaner
       Lebensstil, mit dem ich so was wie SUVs, Plastik und Ski fahren verachte?
       
       Meine Skifahrerkarriere gehörte zu einer Kleinstadtjugend, in der man sich
       den Freundeskreis nicht nach politischer Haltung aussuchte. Auf den Sport
       konnten wir uns einigen. Gemeinsam waren uns vor allem die Eltern, die uns
       den Skipass sponserten. Und: Auf Skiern war ich nicht annähernd so ungelenk
       und kraftlos wie beim Schulsport. Ich wurde respektiert.
       
       Heute arbeitet einer meiner besten Ski-Freunde bei einer Bank, ein anderer
       kandidiert gerade auf der CSU-Liste für den Gemeinderat seines Heimatdorfs
       am Fuß des Braunecks. Wir treffen uns noch auf Geburtstagen und mögen uns
       irgendwie. Aber wir teilen fast nichts mehr. Habe ich mich von ihnen
       entfremdet? Steckt in der Skischam in Wahrheit auch das
       Überlegenheitsgefühl, es rausgeschafft zu haben aus meiner langweiligen
       Kleinstadt, in der das Skifahren vor allem für unkritischen Konformismus
       stand?
       
       Meine Skischam bekommt auf der Piste nun Gesellschaft, auf der
       Finstermünz-Abfahrt treffe ich Claudia Stamm. Sie war Landtagsabgeordnete
       bei den bayerischen Grünen, bis ihr die Partei 2017 zu stark in die Mitte
       rückte. Sie gründete die linksökologische Partei „Mut“ und scheiterte an
       der Fünfprozenthürde. Keine Politikerin kämpfte so erbittert gegen das neue
       bayerische Polizeiaufgabengesetz wie sie. An diesem Vormittag schwingt
       Stamm über die Piste wie eine Schneekönigin.
       
       Ein paar Tage, bevor der Kommunalwahlkampf beginnt, entflieht sie kurz dem
       Münchner Alltag – „weil es so schön ist“, sagt sie. Nach zwei Liftfahrten
       sind wir per Du. Auch für sie ist das Skifahren ein Konflikt. Sieben Jahre
       lang pausierte sie. „Ich wollte dann nur noch dort Ski fahren, wo es keine
       künstliche Beschneiung gibt. Doch das geht nicht mehr.“ Dass die bayerische
       Staatsregierung den Ausbau von einigen Skigebieten auch weiterhin mit
       Steuergeld unterstützt, Projekte die ökologisch keinen Sinn machten, sei
       für sie „ein No-go“.
       
       Beim gemeinsamen Einkehren auf der sonnenüberfluteten Panoramaterrasse
       bestelle ich eine Gulaschsuppe. Wer Ski fährt, kann auch Fleisch essen.
       Sonst mache ich das so gut wie nie. Hand aufs Herz: Was machen wir hier
       eigentlich? Karneval? Claudia Stamm antwortet entschieden. Sie fühle sich
       gerade nicht schlecht. „Ich war nie der Öko bei den Grünen“, sagt sie. Da
       muss ich nicken. Ich bin kein Öko. Aber muss ich deshalb Ski fahren?
       
       Aus Sicht des Bergbahngeschäftsführers veredelt das Skifahren die Bergnatur
       erst so richtig. Dass der Kunstschnee den Berg aufweiche und zu mehr
       Bergrutschen führe, sei „ein Schmarrn“, sagt Peter Lorenz. Am Brauneck habe
       es schon immer kleine Bergrutsche gegeben. Daher ja auch der Name:
       Brauneck. Lorenz ist überzeugt: Mit dem Kunstschnee schütze man die
       Grasnarbe, weil die Skifahrer*innen sie jetzt nicht mehr durch die
       Skikanten verletzen.
       
       Vom sogenannten sanften Tourismus hält Peter Lorenz nicht viel. Dass
       jenseits des massenhaften Fremdenverkehrs eine Zukunft liegt, glaubt er
       nicht. Er weiß, dass es in einigen Jahrzehnten auf dem Brauneck vorbei ist
       mit dem Skifahren. „Aber sicher ist auch, dass da weiter eine Bahn
       hochgeht.“ Das Geschäft gehe weiter. Schon heute sei man ein beliebtes
       Wanderziel.
       
       Wie der Bergtourismus im Sommer aussieht, habe ich im vergangenen Jahr
       erfahren. Vor ziemlich genau acht Monaten drückte die Luft gewittrig über
       den Allgäuer Alpen, tintenblaue Wolken schoben sich vor die Sonne, und ich
       irrte mit Lucia Böck über Almwiesen, auf der Suche nach einem Weg zum
       Gipfel des Grünten. Lucia Böck ist das Gesicht von Fridays for Future in
       Kempten. Auf dem Grünten hat sie Ski fahren gelernt – wie viele im
       schwäbischen Teil von Bayern.
       
       Die 19 Jahre alte Studentin hatte ihre Fridays-for-Future-Demopappe auf den
       Rucksack geschnallt, sie wollte „einen weiteren Schlag ins Gesicht des
       Klimaschutzes verhindern“. Immer wieder passierten wir auf unserem Weg die
       Relikte von Schleppliften, verbarrikadierte Lifthäuschen, rostige
       Stützpfeiler, um die herum sich Schmetterlinge jagten.
       
       2017 hat das Skigebiet hier Pleite gemacht. Eine Familie, die im Ort am Fuß
       des Grünten wohnt, wollte den Berg wieder flottmachen: die Schlepplifte
       abreißen, stattdessen eine moderne Sesselbahn.
       
       [6][Gerade weil der Klimawandel ansteht], wollte die Familie die Sesselbahn
       auch im Sommer betreiben. Und um den Action-Faktor für die
       Besucher*innen zu erhöhen, wollte sie den Grünten-Glider bauen, eine Art
       Hänge-Sommerrodelbahn, die an Bäumen befestigt gewesen wäre. Weil Fridays
       for Future protestierte und mit anderen Umweltschutzverbänden eine
       Menschenkette um den Berg herum organisierte, sprach die Investorenfamilie
       bald nicht mehr vom Grünten-Glider, sondern nur noch von einer
       „Walderlebnisbahn“. Mit einer Höchstgeschwindigkeit von 50 Kilometern pro
       Stunde. „Der Grünten ist kein Rummelplatz“, sagte Lucia Böck damals.
       
       Die Bergachterbahn wurde im Dezember 2019 abgeblasen, weil sich vor allem
       an diesem Teil des Projekts die Geister schieden. Für die einen, wie Lucia
       Böck, wäre die Hängeachterbahn durch den Bergwald der maximale Affront
       gegen die Tierwelt gewesen. Für die anderen eine Weltneuheit – und damit
       ein Leuchtturm für die Urlaubsregion. Von weit her wären die Leute gekommen
       wegen eines Nervenkitzels, den es in vergleichbarer Stärke nur auf Skiern
       und Snowboards zu erleben gibt. Der Grünten-Glider wäre eine
       Adrenalinreserve für die Zukunft des Allgäuer Bergtourismus gewesen:
       klimawandelsicher.
       
       Der Wirt auf der winzigen Gipfelalm berichtete von guten Verkäufen im
       Winter. Es kämen jetzt statt der Alpinskifahrer*innen
       Skitourengeher*innen auf den Grünten. Nette Gäste. Alle sind aus
       eigener Kraft hochgekommen, haben sich angestrengt, alle sind zufrieden.
       Mit dem sanften Tourismus ohne Lifte komme er gut klar.
       
       [7][Ski fahren oder nicht?] Bei dieser Frage geht es nicht nur um Skifans
       wie mich, Pistenbetreiber wie Peter Lorenz und einzelne Wirte hoch oben auf
       dem Berg – meistens hängen ganze Regionen am Skitourismus.
       
       ## Die Skischulleiterin schaut neidisch über die Grenze
       
       Michi Gerg leitet eine Skischule mit 60 Skilehrer*innen am Fuß des
       Brauneck. „Die Wetterextreme sind heute viel stärker, und die Schneegrenze
       hat sich nach oben entwickelt“, sagt sie. Ist hier in zwanzig Jahren
       Schluss? „Das könnte realistisch sein.“ Michi Gerg trägt ihre blonden Haare
       offen und blickt beim Gespräch immer ein bisschen nach oben, bergwärts,
       erhaben, strahlend, wie alle Skiprofis beim Interview in der „Sportschau“.
       
       1989 holte sie Bronze bei der Weltmeisterschaft beim Super-G in Vail. Ihr
       Großvater baute den ersten Schlepplift im Isarwinkel. „Er war ein Künstler,
       ein Visionär“, sagt sie. Manche glaubten damals, er sei übergeschnappt. Bis
       sie erkannten, dass er mit dem Schlepplift eine Geldquelle aufgetan hatte.
       
       Auch Gerg würde „hier gern was ganz Großes hinbauen“. Klimawandel hin oder
       her. Lohnen würde es sich noch. Doch die Baugenehmigungen für den Zielhang
       sind in Bayern schwer zu bekommen. Sie schätze das ja, dass man hier nicht
       alles „zubaut wie in Tirol“. Aber irgendwie schaut sie auch neidisch über
       die Grenze. „Wenn man dort beim Tourismus A sagt, sagt man auch B.“
       
       Was kommt nach dem Skifahren? Da könne man Wander- oder Mountainbiketouren
       anbieten, ist sich Michi Gerg sicher. „Man muss halt umdenken. Das Leben
       bietet viele Chancen.“ Sagt sie und lächelt wie nach einer Siegerehrung.
       Was würde dieser Ort verlieren mit dem Skigebiet? Michi Gerg zögert nicht:
       „Viele Kinder würden nicht mehr Ski fahren lernen, wenn ihre Eltern dafür
       bis nach Österreich fahren müssten.“
       
       Doch was, wenn diese Kinder gar nicht wüssten, was für ein Glück ihnen
       entgeht? Ich habe noch keine. Nachfrage bei Jonas, meinem Bruder,
       Umweltingenieur und Vater von zwei Kindern. Er sagt: Sollte der Nachwuchs
       beim Besuch von Oma und Opa am Alpenrand mal den Wunsch äußern, Ski zu
       fahren, „dann werden wir das nicht verhindern“. Aber ihn aktiv in den
       Skikurs zu stecken – „das macht keinen Sinn.“
       
       Wie unterscheidet sich das doch von meinen Eltern, die uns frühmorgens zum
       Skikurs karrten, ob wir wollten oder nicht. Die ersten Skitage sind kalt
       und hart und ziemlich steil. Ich musste mich überwinden. Freiwillig hätte
       ich es nie angefangen. Aber Ski fahren, das gehörte dazu wie
       Schwimmenkönnen oder den Führerschein machen. Überall mitmachen zu können,
       das war das bürgerliche Projekt meiner Eltern. Und unser bürgerliches
       Projekt ist es, unseren Kindern die Autonomie zu vermitteln, nicht alles
       mitmachen zu müssen.
       
       Meine Familie tut sich schwer bei der Frage: [8][Klima versus Urlaubsspaß.]
       „Na, wie war’s am Arlberg?“ Diese Frage an meinen Vater hat sich
       ritualisiert. Mein Vater schwärmt in unseren Telefonaten meistens von dem
       griffigen Schnee und der Sonne da oben. Ich bade dann selbst für die
       Sekunden seiner Antwort in einer imaginären Höhensonne – umgeben von weiß
       gezackten Zweieinhalbtausendern. Vielleicht reicht mir das, denke ich: die
       Erinnerung an etwas sehr Schönes.
       
       Doch ausgerechnet in diesem Jahr hängt mein Vater noch etwas an. Er und
       meine Mutter haben sich beim Treffen mit meinen drei Brüdern darauf
       verständigt, im kommenden Jahr zusammen in den Skiurlaub zu fahren. So
       richtig mit ordentlichen Abfahrten, Sauna, schönem Abendessen und Bier in
       der urigen Dorfbar.
       
       Ich schaffe es, das Gespräch zu beenden und dabei weder meinen Vater in
       seinem Enthusiasmus zu vergrätzen noch „toll“ zu sagen.
       
       Meine Brüder, denke ich, was ist denn mit denen los? Vor allem mit Jonas.
       Er berät in Leipzig Betriebe, wie sie die Energiebilanz verbessern können,
       und wohnt zusammen mit seinen Kindern und seiner Frau, die ihre
       Doktorarbeit zur juristischen Durchsetzung von Windrädern geschrieben hat,
       in einer Mehrfamilien-WG. Zusammen mit Menschen, die in NGOs daran
       arbeiten, das Postwachstum gesellschaftsfähig zu machen.
       
       Die Windeln sind aus Stoff, der Kohlrabi aus der Kooperative. Seinen
       Arbeitsplatz hat sich Jonas auch nach der Erreichbarkeit mit dem Rad
       ausgesucht. Einer wie Jonas muss gute Gründe haben, warum er aktiv für
       einen Skiurlaub eintritt. Zeit für ein ernsthaftes Telefonat.
       
       Er wird nachdenklich, als ich das Thema anspreche. „Skifahren braucht man
       tatsächlich nicht“, sagt Jonas, er, der Ingenieur, sieht die Dinge gern
       analytisch. Skifahren sei ein „Tick Hedonismus Plus“. Wir schweigen. „Wie
       seid ihr auf die Idee gekommen?“, will ich wissen. In Jonas’ Antwort bricht
       nun immer wieder ein schalkhaftes Lachen durch. Es sei beim letzten Treffen
       mit unseren beiden Brüdern passiert, bei dem ich nicht dabei war. Man hätte
       getrunken, gelacht, Kindheitserinnerungen ausgetauscht – und dann: „Wir
       hatten einfach mal wieder richtig Bock auf Skifahren“, sagt mein Bruder.
       
       Wünsche gegen Moral. Herz über Kopf. Es ist der Gegensatz unserer Zeit.
       Jeder muss damit umgehen – denn völlige Enthaltsamkeit ist schwierig.
       Interessant ist, welche Strategien Menschen finden, um mit den
       Widersprüchen umzugehen. Manche kaufen sich einen SUV und treten
       gleichzeitig bei den Grünen ein. Manche fliegen nicht mehr, um weiterhin
       Rindfleisch zu genießen. Kompromisse eben.
       
       Gerade Skifahren sei doch eine ideale gemeinsame Aktivität. „Man ist
       draußen, kann im Lift miteinander reden – auf der Piste kann wieder jeder
       sein Ding machen“, sagt Jonas. Natürlich könne man im Skiurlaub ja auch mit
       Mama langlaufen. Oder einfach nur spazieren gehen. „Aha“, sage ich. Das
       klingt nach Kompromiss.
       
       Meine vier Stunden am Brauneck sind um. Ich bin am Parkplatz, die Sonne
       steht tief. Vereinzelt treffen noch Leute ein, die zur Bergbahn stiefeln
       und die Frau am Schalter um eine Nachmittagskarte bitten: „Einmal Happy
       hour.“
       
       Ich schaue zurück, die Hänge des Bergs hoch, die immer noch so
       herzzerreißend wenig befahren sind. Ich greife zu meinem Autoschlüssel. Da
       fällt es mir wieder ein. Nach dem Interview im Büro der Bergbahn, hat mir
       der Geschäftsführer Peter Lorenz da nicht etwas zugesteckt? Ich suche in
       den Taschen, da spüre ich eine zweite Karte: ein Tagespass. Mein Herz
       schlägt schneller. Ich kehre um, stapfe zur Bergbahn, poltere durch das
       Drehkreuz und sitze wieder in der Gondel.
       
       Mir gegenüber sitzt ein Snowboarder mit Rauschebart. Er kommt aus einem
       Nachbarort und hat eine Saisonkarte. Ich weihe ihn in meinen
       Gewissenskonflikt ein. Seine Antwort kommt schnell: Gott will es so. Gott
       will, dass wir uns an der Natur erfreuen. Und wollte er es nicht, dann
       hätten die Menschen auch nicht das Skifahren erfunden. Eine bequeme
       Antwort.
       
       Wollte Gott, dass Wasser Hunderte Meter hoch aus Tiefbrunnen gepumpt und
       nächtelang aus Druckdüsen herausdampft wird, um die kargen Hänge seiner
       unwirtlichen Natur mit künstlichem Schnee zu überziehen? Der Snowboarder
       schaut mich verständnisvoll an und empfiehlt die Onlinevideos eines
       bekehrten Astrophysikers, der das mit dem Klimawandel mal etwas anders
       darstellen würde als die Medien. Sorgen um die Zukunft des Skifahrens müsse
       man sich keine machen.
       
       Dann sind wir oben und wünschen einander einen schönen Skitag. Ich steige
       in die Bindung, stoße mich ab und werfe mich in den Hang – zu der
       wahrscheinlich letzten göttlichen Talabfahrt meines Lebens.
       
       19 Feb 2020
       
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       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Im Skiurlaub mit meiner Frau: Das verhängnisvolle Dinner
       
       Meine Frau hat mich zu einem Skiurlaub in den Alpen bei
       Garmisch-Partenkirchen überredet. Es wurden vierzehn schlimme Tage.
       
 (DIR) Wetterbedingte Absagen im Ski-Weltcup: Alles fürs Marketing
       
       Das Novemberwetter hat den überfrachteten Ski-Weltcup-Kalender
       durcheinandergebracht. Mit Reformen ließe sich das Chaos zukünftig
       vermeiden.
       
 (DIR) Alpiner Skisport: Schneekanonenfeuer frei!
       
       Die Vorbereitung auf eine alpine Ski-Saison wird immer aufwendiger. Das
       Training auf Gletschern überall auf der Welt ist Standard – trotz
       Klimakrise.
       
 (DIR) Biathlon im Klimawandel: Suche nach dem echten Schnee
       
       Die Skijäger haben sich eine klimaneutrale Saison zum Ziel gesetzt. Doch
       der Abschied von niedrig gelegenen Skistadien wird erst mal nicht
       vollzogen.
       
 (DIR) Konflikte im internationalen Skisport: Planen gegen die Natur
       
       Beim Weltcup-Auftakt in Sölden gibt es Kritik am Internationalen
       Skiverband. Es geht um den Rennkalender in Zeiten des Klimawandels – und
       TV-Rechte.
       
 (DIR) Falsches Ferienkonzept: Skiferien adé
       
       Klimafeindlich und elitär: Es ist höchste Zeit, dass Hamburg seine
       Skiferien abschafft.
       
 (DIR) Netflix-Serie „Kitz“: Rachsüchtig in Tirol
       
       Einen Vergeltungsplot zwischen schönen jungen Menschen im Skiparadies
       erzählt die Serie „Kitz“. An Komplexität fehlt es, dafür stimmt das Tempo.
       
 (DIR) Ski Alpin Chef über Sport trotz Corona: „Sonst gibt's den Sport nicht mehr“
       
       Ski-Alpin-Chef Wolfgang Maier will mit dem Rennen in Sölden beweisen, dass
       der Weltcup trotz Corona möglich ist. Es gibt ein strenges Hygienekonzept.
       
 (DIR) Heißer Winter: Warm, wärmer, jetzt
       
       Man fühlte es schon: Der meteorologische Winter in Europa war auch laut
       Messungen der wärmste seit Beginn der Aufzeichnungen.
       
 (DIR) Die Wahrheit: Was der Skifahrer schafft
       
       Donnerstag ist Gedichtetag auf der Wahrheit: Diesmal darf sich die
       Leserschaft an einem Poem über die Meriten der Wintersportler erfreuen.
       
 (DIR) Erinnerungen an Tage mit Schnee: Früher war mehr Winter. Oder?
       
       Unser Autor hat das Gefühl, dass in seiner Kindheit andauernd Schnee lag.
       Immer war alles weiß. Nun hat er überprüft, ob es stimmt.
       
 (DIR) Sport in Zeiten des Klimawandels: Im Sommer, wenn es schneit
       
       Mit irren Technologien kämpft der Sport gegen die Hitze. In Tokio sollen es
       Schneekanonen richten, andernorts schlucken Sportlerinnen Mikrochips.