# taz.de -- Prozess im Fall Ján Kuciak: Ein System vor Gericht
       
       > Der Hauptprozess zum Mord am slowakischen Journalisten Ján Kuciak
       > beginnt. Er könnte mafiöse Bünde bis in höchste Ebenen des Staates
       > offenlegen.
       
 (IMG) Bild: Marián Kočner, mutmaßlicher Auftraggeber für den Mord an Ján Kuciak, vor Gericht
       
       Am Fuße der Kleinen Karpaten, nicht weit der slowakischen Hauptstadt
       Bratislava, liegt eine Institution, die in Mitteleuropa einzigartig ist:
       Das „Spezialgericht“ im westslowakischen Pezinok ist eigentlich gefallenen
       Staatsdienern vorbehalten. Das streng bewachte Areal gleicht einer Festung:
       Die Richterinnen und Richter des Tribunals leben hier mit ihren Familien
       gut bewacht und abgeschirmt von Einflüssen der Außenwelt.
       
       Wer vor dem Strafgericht in Pezinok steht, hat – unabhängig von der
       eigentlichen Tat und deren strafrechtlicher Relevanz – den Rechtsstaat als
       solchen verhöhnt. An diesem Montag beginnt hier die Hauptverhandlung in
       Sachen Ján Kuciak.
       
       Der Journalist des Webportals [1][aktuality.sk] wurde zusammen mit seiner
       Verlobten Martina Kušnírová am 21. Februar 2018 bei sich zu Hause ermordet.
       Als man die beiden Leichen Tage später auffand, schien es sofort
       naheliegend, dass hier ein Profi seinen Job verrichtet hatte. Einer, der
       kaltblütig genug war, um mit dem Finger am Abzug einer Waffe das Leben
       zweier junger Menschen auszulöschen.
       
       Die Theorie vom Auftragskiller erhärtete sich genauso wie der
       Anfangsverdacht über den möglichen Auftraggeber. Der „Unternehmer“ Marián
       Kočner, eine windige Gestalt ohne Skrupel, dafür aber mit Amigos an den
       höchsten Stellen, steht heute als Hauptangeklagter vor dem Spezialgericht
       in Pezinok.
       
       ## Drohungen am Telefon
       
       Als möglicher Strippenzieher des Doppelmordes stand er als Erster ganz hoch
       im Kurs der Ermittler. Kein Wunder: Kuciak hatte sich im Jahr vor seiner
       Ermordung in seinen Artikeln über zwei Dutzend Mal den Geschäften des
       Marián Kočner gewidmet. „Jetzt fange ich an, mich für Sie zu interessieren,
       Herr Kuciak, für Ihre Mutter, Ihren Vater, Ihre Geschwister, für alles
       werde ich mich interessieren, und dann werde auch ich alles
       veröffentlichen, was ich über sie finde“, hatte Kočner dem Reporter vier
       Monate vor der Tat am Telefon gedroht.
       
       Die Strafanzeige, die Kuciak zwei Tage darauf bei seiner örtlichen
       Polizeidienststelle erstattete, wurde nicht ernst genommen. So eine
       telefonische Drohung erfülle keinen Strafbestand, urteilte die zuständige
       Staatsanwältin damals.
       
       Neben Marián Kočner nehmen heute drei weitere Angeklagte ihren Platz vor
       dem Spezialgericht ein. Der mutmaßliche Täter, Miroslav Marček, und sein
       mutmaßlicher Gehilfe, Tomáš Szábo, beide sind Cousins und stammen aus
       Kolárovo, einem 11.000-Einwohner-Ort in der platten Donautiefebene. Für den
       Mord, der wohl keine vier Minuten dauerte, sollen sie 70.000 Euro bekommen
       haben. Für Erstaunen bei der Vorverhandlung im Dezember sorgte allerdings
       die Vierte der Bande, Alena Zsuzsová. Wie den anderen drei droht ihr eine
       Höchststrafe von 25 Jahren Haft.
       
       Am 6. Februar soll das Urteil gesprochen werden. Bis dahin wird dem Gericht
       noch einiges offengelegt werden über den mafiösen Größenwahn des Marián
       Kočner. Oder von Alena Zsuzsovas virtuellen Jagden auf einflussreiche
       Männer, die sie über Internet-Chats oder Messengerdienste in Gespräche
       verwickelte, mit dem Ziel, dass sie ihr sehr private Fotos schicken. Nur
       sammelte Zsuzsova die Schniedel wohl nicht als Trophäen, sondern als
       potenziell kompromittierendes Material.
       
       ## Gestorben „für die Medienfreiheit und Gerechtigkeit“
       
       Vielleicht wird Kočner ja auch verraten, was genau ihn getriggert hat.
       Warum musste Ján Kuciak sterben? „Für die Medienfreiheit und
       Gerechtigkeit“, meint Daniel Lipšič, ein Ex-Minister, der heute Martina
       Kušnírovás Eltern vertritt. Leider trifft er den Kern: Marián Kočners
       angebliches Motiv war Rache für Jans Artikel über ihn. Und Martina
       Kušnírová musste wohl sterben, weil sie grad zu Hause war, an diesem 21.
       Februar 2018, abends um zwanzig nach acht, wie in Ermittlungsprotokollen zu
       lesen ist.
       
       Beide mussten aber womöglich auch sterben, weil die Verflechtungen zwischen
       Justiz, Politik und Business es zuließen, Verbindungen, die oft zurückgehen
       bis in die 1990er Jahre oder noch früher. Ein Schattenstaat, der zudem auf
       eine ganze Armee von Ex-Soldaten, Ex-Polizisten oder ehemalige Angehörige
       des slowakischen Nachrichtendientes SIS bauen kann. Miroslav Marček war mal
       Soldat, Tomáš Szabo Polizist. Beide galten in ihrer Heimatstadt Kolárovo
       als die Männer fürs Grobe.
       
       Alena Zsuzsová soll ihre Kunst der Jagd nach kompromittierendem Material
       bei der berüchtigten Abteilung 13 des SIS gelernt haben, die 1998 vom
       damaligen Ministerpräsidenten Vladimír Mečiar gegründet worden war: um,
       nach Vorbild des KGB, politische und andere Feinde auszuspionieren und eben
       belastendes Material zu sammeln.
       
       Damit traf sie genau Marián Kočners Vorlieben, „[2][Paparazzi“ zu spielen],
       wie er es nannte. Weil er Interesse hatte, einen Fernsehsender zu kaufen,
       ließ Kočner bei insgesamt 29 Journalistinnen und Journalisten „Paparazzi
       spielen“, um an hilfreiche Informationen zu gelangen. Dabei half ihm ein
       alter Bekannter: Peter Tóth. Der ehemalige Journalist, in den 90ern ein
       berühmter Meinungsmacher, ging nach Ende der Mečiar-Ära von der
       Tageszeitung SME zum Nachrichtendienst SIS.
       
       ## Der wilde Osten
       
       Nach seinem Ausscheiden dort tingelte er durch die privaten
       Sicherheitsdienste großer Firmen, kam aber nirgendwo richtig an. Bis er
       wieder auf Marián Kočner traf – man kannte sich irgendwie seit 20 Jahren,
       wie sich jeder in diesem Dunstkreis irgendwie seit 20 Jahren kennt. Kočner
       brauchte jemanden für seine „Paparazzi-Spielchen“ und der Ex-Journalist
       begann, Journalisten zu bespitzeln. Im Laufe der Verhandlungen wird Tóth
       wohl aussagen, als Kronzeuge.
       
       Den Sommer über war er sicherheitshalber abgetaucht, versteckte sich im
       Alpenvorland und in England. Beim SIS hat es Tóth immerhin zum Chef der
       Spionageabwehr geschafft, er weiß, dass der slowakische Schattenstaat eine
       Art wilder Osten ist. Und er weiß: Seine Aussage ist die einzige, die
       Kočner direkt belastet. Ohne ihn kann Kočner vielleicht gar nicht
       verurteilt werden.
       
       Weiter oben in dieser Struktur sitzen dann Staatsbeamte, Politiker, Leute
       in der Justiz. Die Staatsanwältin, die Ján Kuciaks Strafanzeige abgelehnt
       hat, hätte wohl nicht anders gekonnt, selbst wenn sie die Vorwürfe ernst
       genommen hätte. Denn der Staatsanwalt über ihr tauschte womöglich gerade
       sexuelle Nachrichten mit Alena Zsuzsová aus.
       
       Und der damalige slowakische Polizeipräsident, Tibor Gašpar, ist der
       Schwager des Inhabers der größten privaten slowakischen Sicherheitsagentur,
       der neben Peter Tóth ebenfalls Paparazzi für Kočner gespielt hat. Wenn
       Peter Tóth im Prozess als Kronzeuge aussagt, wird er womöglich erzählen,
       wie er Kočner einmal fragte, woher er die detaillierten Informationen hat.
       Er soll vorsichtig damit umgehen, antwortete der angeblich, „die kommen von
       ganz oben“.
       
       ## Kein irrer Einzelgänger
       
       „Ganz oben“ hat sich seit dem Doppelmord einiges verändert: Die Brutalität
       und Sinnlosigkeit der Tat löste die [3][größten Massenproteste] seit
       Gründung der Slowakischen Republik 1993 aus, sie führten zum Rücktritt von
       Ministerpräsident Róbert Fico. Und von Polizeipräsident Tibor Gašpar.
       
       Die Proteste haben [4][Zuzana Čaputová], eine zivilgesellschaftliche
       Aktivistin, ins Präsidentenamt gebracht. Wer Sinn im sinnlosen Tod von Ján
       und Martina sehen will, kann sagen, er hat vielen die Augen geöffnet. Dann
       sollte man sie aber auch nicht wieder verschließen und glauben, Kočner sei
       nur ein irrer, aber bestens vernetzter Einzelgänger.
       
       Kočner ist womöglich das Produkt eines Systems, das vom gescheiterten
       Polizisten bis zu höchsten Richtern reicht und in dem Auftragsmorde
       traditionell zur Verhandlungstaktik zu gehören scheinen. Nur hat er
       vielleicht unterschätzt, welchen internationalen Aufruhr der Mord an einem
       Journalisten erzeugen würde. Wahrscheinlich fühlte er sich unfehlbar, mit
       all seinen Freunden „ganz oben“. Nur: Vor dem „Spezialgericht“ in Pezinok
       werden die ihm nicht helfen. Da hilft nur noch der Rechtsstaat.
       
       13 Jan 2020
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
 (DIR) Alexandra Mostyn
       
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