# taz.de -- Journalistin über Proteste im Libanon: „Faktisch und objektiv berichten“
       
       > Die unabhängige Newsseite „Daraj“ berichtet im Libanon. Die Gründerin
       > Alia Ibrahim ist überzeugt, dass der friedliche Protest im Land eine
       > Zukunft hat.
       
 (IMG) Bild: Teilnehmerin an einer Demo in Beirut, Anfang November
       
       taz: Frau Ibrahim, [1][seit Wochen wird im Libanon demonstriert], wie schon
       2015. Was ist das Neue jetzt? 
       
       Alia Ibrahim: Das Land hat schon in den letzten Jahren große Proteste
       erlebt, aber die Demonstrationen jetzt sind eine ganz andere Kategorie. Der
       unmittelbare Auslöser war eine [2][von der Regierung geplante Steuer auf
       WhatsApp-Anrufe]. Als Antwort darauf wurden in verschiedenen Teilen des
       Landes Straßen blockiert. Völlig neu dabei ist, dass die Proteste alle
       Landesteile erfasst haben. Auch jene, in denen die irannahe Hisbollah die
       dominante Kraft ist.
       
       Als Journalistin berichten Sie viel über die Beteiligung von Frauen an den
       Protesten. Warum? 
       
       Frauen sind sehr präsent bei den Protesten. Sie stehen mit in der ersten
       Reihe. Die Mikrofone bleiben überwiegend in ihren Händen. Eine Gruppe, die
       „Frauen an vorderster Front“ genannt wird, hat irgendwann angefangen, sich
       an den Händen haltend einen Kreis um die Demonstrationen zu bilden mit dem
       Ziel, die Proteste friedlich zu halten. Zum ersten Mal in der Geschichte
       des Landes bringen sich Frauen so sichtbar ein.
       
       Wie bewerten Sie die internationale mediale Berichterstattung über die
       Proteste? 
       
       Es wird zwar berichtet, aber insgesamt recht wenig. Demonstrationen und
       Unruhen gibt es ja derzeit an vielen Orten. Hongkong, Chile, Katalonien,
       aber auch im Irak und in Syrien. Das nimmt viel Platz in den Medien ein.
       Aus meiner Arbeit als Journalistin weiß ich natürlich, dass
       Nachrichtenmedien dabei schnell in ihr jahrzehntelang gepflegtes Mantra
       verfallen: „If it bleeds, it leads.“
       
       Und im Libanon ist es zu friedlich? 
       
       Wenn gewalttätige Auseinandersetzungen das Einzige sind, was es auf die
       Titelseiten schafft, wird es für gewaltfreie Aktivisten schwieriger zu
       argumentieren, dass ihr Widerstand eine mächtige Option ist. Dass es
       überhaupt internationales Interesse an den friedlichen Protesten im Libanon
       gibt, zeigt aber, dass gewaltlose Proteste durchaus funktionieren können.
       
       Sie haben eine eigene Nachrichtenplattform gegründet. Wie ist es dazu
       gekommen? 
       
       Schon während des Arabischen Frühlings fiel mir auf, dass die etablierten
       Medien keine gute Figur während der Revolution machten. Statt über Lösungen
       nachzudenken, waren sie aufgrund der politisch motivierten Geldgeber Teil
       des Problems. Arabische Medien berichten dann entweder aus saudischer oder
       iranischer, sunnitischer oder schiitischer Sicht, sind also entweder der
       jeweiligen Regierung oder der Opposition verpflichtet. Nach dem Scheitern
       des Arabischen Frühlings beschlossen meine Kolleginnen Diana Moukalled und
       Hazem al-Amin deshalb, Daraj zu gründen.
       
       Wie charakterisieren Sie die Arbeit bei Daraj? 
       
       Bei uns gibt es weniger Geld und Reichweite, dafür mit Sicherheit aber mehr
       Freiheit, und das macht den Unterschied aus. Unsere einzigen Kriterien sind
       Qualität, Faktizität, Glaubwürdigkeit und Objektivität. Darüber hinaus gibt
       es keine roten Linien und Tabus. In unseren Artikeln und Videos werden alle
       Themen offen angesprochen, von Nacktheit und der gesellschaftlichen
       Überbewertung der Jungfräulichkeit bis hin zu Problemen bei internationalen
       Eheschließungen, bei denen libanesische Frauen und deren Kinder die
       Staatsangehörigkeit verlieren können. Auf politischer Ebene berichteten wir
       vom ersten Tag an über Themen, auch investigativ, die alle Seiten des
       politischen Spektrums berühren. Dadurch konnten wir uns schnell als
       verlässliche Informationsquelle durchsetzen.
       
       Welche Perspektiven sehen Sie für den Libanon? 
       
       Das Land hat eine der höchsten Schuldenquoten weltweit und steht seit
       Monaten kurz vor dem wirtschaftlichen Kollaps. Ob der Libanon aus dem
       tiefen Loch herauskommt, in das er schon vor über 30 Jahren gefallen ist,
       steht in den Sternen. Jedoch habe ich mit der Revolution jetzt zum ersten
       Mal das Gefühl, dass die Gespenster des alten Bürgerkriegs ausgetrieben
       sind. Ich fühle eine Zugehörigkeit, wenn ich sehe, wie die Menschen keine
       Parteifahnen, sondern die des Libanon schwenken. In der Redaktion sind wir
       davon überzeugt, dass die Gewaltlosigkeit dieser Proteste ihre einzige
       Chance ist, zu überleben und sich durchzusetzen.
       
       5 Nov 2019
       
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