# taz.de -- Einzelkind und Wahlfamilie: Eine Schwester gefunden
       
       > Sie gingen gemeinsam ins Kino und aufs Klo und weinten unter
       > Basketballkörben. Also waren sie Freundinnen – und irgendwann Schwestern.
       
 (IMG) Bild: Ein Vorteil von Freunden: Man kann sie sich aussuchen
       
       Ich bin ein Einzelkind. Wenn man mich fragt, ob ich etwas vermisst habe,
       dann kann ich das vehement verneinen. Meine Verwandtschaft ist sehr groß,
       ich habe Cousinen und Cousins und Tanten und Onkel und noch mehr Cousinen
       und noch mehr Cousins. Als ich klein war, haben mir Geschwister nie
       gefehlt. Wie soll einem auch fehlen, was man niemals hatte? Eine Cousine
       und ich haben ein Haus ohne Dach, aber mit Gardinenstange gebaut.
       
       Es war unser erstes Haus und das Dach fehlte nicht, weil es nun mal nie
       zuvor da war. Wir haben mit dem Kassettenrekorder Witznachrichten
       aufgenommen, in denen Helmut Kohl in einem Heißluftballon davonflog und
       dann fehlte auch Helmut Kohl nicht, weil er in unserem jungen Leben ja nie
       vorbeigekommen war. Und wir warteten vergeblich auf die steifste Brise, um
       uns mit Martin (Wellensittich) und Pucky (Meerschweinchen) von einem
       Regenschirm forttragen zu lassen. Wir warten vielleicht immer noch, aber
       die Brise fehlt nicht, denn Martin und Pucky sind ohnehin längst tot.
       
       Ich bin ein Einzelkind, ich war oft allein. Ich war allein inmitten von
       Menschen, von Erwachsenen, die über Erwachsenendinge sprachen in Worten,
       die ich nicht immer verstand. Als Kind ist dieser Zustand erträglich, als
       Teenager ist er die Hölle. Hätte man mich damals gefragt, ich hätte
       vehement nach einer Schwester gerufen. Und dann fand ich eine – es war mir
       nur nicht klar.
       
       M und ich lernten uns in der Orientierungsstufe kennen, in der du als
       Heranwachsende alles finden kannst, nur keine Orientierung. Als ich M zum
       ersten Mal sah, zeichnete sie beeindruckende Mangamädchen mit glänzenden
       schwarzen Augen in ein Heft. Außerdem hatte M selbst beeindruckend glatte,
       schwarze Haare, die sie immer in einem Pferdeschwanz trug. M und ich kamen
       nach der Orientierungslosigkeitsstufe in eine Hauptsachegymnasiumklasse.
       
       Wir gingen gemeinsam ins Kino und aufs Klo und wir weinten unter
       Basketballkörben, also waren wir Freundinnen. Zu Hause bei M war ein
       magischer Ort, denn zu Hause bei M waren Essstäbchen normal. Manchmal gab
       es Mandu, die mich an meine heißgeliebten Jiaozi erinnerten. In der Schule
       gab es eine Lehrerin, die M und mich verwechselte obwohl wir uns nicht
       ähnlich sehen. M und ich waren 15, trugen billige Kreolen und
       Fishbone-Oberteile und nannten uns Twin Sistas, Zwillingsschwestern. Es gab
       andere tolle Freundinnen, mit denen ich aufs Klo gehen und unter
       Basketballkörben weinen konnte. Aber irgendwas war immer ein bisschen
       anders mit M.
       
       Ich bin ein Einzelkind und ich kann gut allein sein, aber manchmal fühle
       ich mich einsam ohne Essstäbchennormalität. Einsam zwischen Menschen, die
       über Dinge sprechen, die sie nicht ganz verstehen. Die sie nachzuspüren
       versuchen, die ihnen aber immer etwas fern sein werden. Und doch: Wenn man
       mich heute fragt, ob ich deswegen etwas vermisse, kann ich das vehement
       verneinen, denn ich habe eine Schwester.
       
       5 Feb 2020
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Lin Hierse
       
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