# taz.de -- Norbert Röttgen und der CDU-Vorsitz: Der Überraschungskandidat
       
       > Niemand hatte Norbert Röttgen auf dem Zettel. Mit seiner Ankündigung,
       > ebenfalls CDU-Chef werden zu wollen, setzt er seine Wettbewerber unter
       > Druck.
       
 (IMG) Bild: Wie aus dem Nichts: Norbert Röttgen mischt die CDU auf – zumindest die Diskussion
       
       BERLIN taz | Schwups, plötzlich steht er da. Norbert Röttgen, das Haar
       silbergrau, die Krawatte fliederfarben, geduldig lächelnd. Vor ihm drängeln
       sich in der Berliner Bundespressekonferenz die Fotografen. Röttgen weiß,
       dass er eine Bombe gezündet hat, die die CDU durchschüttelt. Am
       Dienstagmorgen hat er der scheidenden CDU-Chefin Annegret Kramp-Karrenbauer
       per Mail angekündigt, sich um ihre Nachfolge zu bewerben.
       
       [1][Merz, Spahn und Laschet] – diese Namen werden seit Tagen mantraartig
       genannt. Aber Röttgen hatte keiner so wirklich auf dem Zettel, bei allen
       Spekulationen spielte der 54-jährige Jurist aus Nordrhein-Westfalen keine
       Rolle. Und plötzlich will er der wichtigste Mann in der CDU werden,
       vielleicht der nächste Kanzler?
       
       Auch wenn Röttgen eher Außenseiterchancen haben dürfte: Sein Vorstoß ist
       nicht ungeschickt, allein deshalb, weil er seine Wettbewerber mit drei
       Zügen in die Defensive bringt.
       
       Er ist – wie er zu Recht anmerkt – der Erste, der seine Kandidatur offen
       erklärt und inhaltlich begründet. [2][Friedrich Merz] ließ über sein Umfeld
       streuen, Vorsitzender werden zu wollen. Gesundheitsminister Jens Spahn
       erklärte vage, bereit für Verantwortung zu sein. Und Armin Laschet,
       Ministerpräsident in NRW, bleibt bisher komplett in der Deckung. Röttgen
       setzt sie mit seinem Move unter Druck.
       
       ## Wie bei einer Jacke?
       
       Dann wäre da das vermurkste Verfahren. Kramp-Karrenbauer will diese Woche
       Gespräche mit den Möchtegernkandidaten führen, obwohl jene sich noch gar
       nicht erklärt haben. In der CDU wünschen sich viele eine Teamlösung, also
       eine gütliche Einigung, obwohl es um einen einzigen Chefjob geht.
       
       Röttgen sagt, er habe den Verdacht, dass in diesem Falle das Team dazu
       dienen solle, die Interessen Einzelner unter einen Hut zu bringen. Das
       bisherige Verfahren habe ihn „nicht überzeugt“. Es sei wie bei einer Jacke.
       „Wenn man schon am ersten Knopf falsch knöpft, wird das so nichts mehr.“
       Wer wollte ihm widersprechen?
       
       Und, drittens, wären da die fehlenden Inhalte. Röttgen liegt richtig, wenn
       er kritisiert, dass seit Kramp-Karrenbauers Ankündigung kaum über Themen
       geredet wurde. Röttgen macht es anders. Die CDU müsse ökologische
       Glaubwürdigkeit im Allgemeinen und klimapolitische Glaubwürdigkeit im
       Besonderen zurückgewinnen, sagt er. „Wenn wir das nicht tun, droht uns als
       Partei mindestens eine ganze Generation verloren zu gehen.“
       
       Der Außenpolitiker fordert, früher auf absehbare Krisen zu reagieren – wie
       aktuell die Vertreibung von fast einer Million Syrer in der Provinz Idlib.
       „Das ist ein akutes Geschehen, über das wir kaum sprechen.“ Zwischen Ost-
       und Westdeutschen wolle er, falls er CDU-Chef werde, einen Dialog auf
       Augenhöhe über das Funktionieren der Demokratie in Gang bringen.
       
       ## Böse Seitenhiebe in Richtung Merkel
       
       Röttgen redet ruhig, seine Wangen sind ein bisschen gerötet. Falls er
       aufgeregt ist, merkt man es nicht. Er übt brachiale Kritik an der Politik
       der vergangenen Jahre. Was die Bürger in der Krisendekade von Finanzmarkt-,
       Euro- und Flüchtlingskrise erlebt hätten, sei „Überraschung der Politik,
       Überforderung der Politik und Reagieren und Reparieren“.
       
       Das sind böse Seitenhiebe, in dieser Zeit hat ununterbrochen Angela Merkel
       regiert. Wenn Menschen allein gelassen würden, sagt Röttgen, bekämen sie
       Angst. „Wir müssen auch in der CDU die Fenster öffnen dafür, dass Politik
       wieder einzieht.“ Noch ein Hieb.
       
       Röttgen verbindet mit Merkel eine besondere Geschichte. Einen ersten
       Höhepunkt erreichte seine Karriere im Januar 2005, als er zum Ersten
       Parlamentarischen Geschäftsführer der Fraktion gewählt wurde. Röttgen
       managte fortan die Auftritte im Parlament, wurde zur rechten Hand der
       damaligen Oppositionsführerin Merkel und zählte zu einer Gruppe jüngerer
       Abgeordneter, die als „Merkel-Garde“ bezeichnet wurde.
       
       2009 machte Merkel ihn zum Minister für Umwelt, Naturschutz und
       Reaktorsicherheit. Als solcher arbeitete er weniger progressiv, als es
       seine aktuellen Äußerungen zur Ökologie vermuten lassen. Röttgen setzte zum
       Beispiel die schwarz-gelbe Laufzeitverlängerung der Atomkraftwerke durch,
       obwohl er für kürzere Fristen warb als andere in seiner Partei.
       
       ## Röttgen hat sich neu erfunden
       
       Der Wendepunkt seiner Karriere war Nordrhein-Westfalen. Röttgen setzte sich
       2010 in einer Mitgliederbefragung im Kampf um den Landesvorsitz durch –
       ausgerechnet gegen den heutigen Ministerpräsidenten Laschet. Die
       Landtagswahl 2012, bei der Röttgen als Spitzenkandidat gegen die
       Sozialdemokratin Hannelore Kraft antrat, endete mit einem Debakel. Röttgen
       ließ im Wahlkampf alle im Unklaren, ob er im Zweifel als Oppositionsführer
       nach NRW gehen oder Umweltminister bleiben wolle. Das Ergebnis: Die CDU
       stürzte auf ein historisches Tief von 26,3 Prozent ab.
       
       Danach versuchte Röttgen tatsächlich, in Berlin weiterzumachen wie bisher.
       Merkel stellte ihm kurzerhand den Stuhl vor die Tür. Seither hat sich
       Röttgen jedoch neu erfunden. Er konzentrierte sich auf Außenpolitik,
       übernahm 2014 den Vorsitz des Auswärtigen Ausschusses und wurde ein gern
       gesehener Gast in Talkshows. Und das Desaster in NRW? Röttgen sieht es als
       Qualifikation. Eine Niederlage erlebt, aber wieder aufgestanden zu sein,
       das sei beides wichtig „für die Übernahme großer Verantwortung“.
       
       18 Feb 2020
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] /Zukunft-der-CDU/!5660293
 (DIR) [2] /CDU-Kandidatur-von-Friedrich-Merz/!5660044
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Ulrich Schulte
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Norbert Röttgen
 (DIR) CDU-Parteivorsitzende
 (DIR) Friedrich Merz
 (DIR) Armin Laschet
 (DIR) Alternative für Deutschland (AfD)
 (DIR) Norbert Röttgen
 (DIR) Linkspartei
 (DIR) Annalena Baerbock
 (DIR) Schwerpunkt Thüringen
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Die CDU und ihr Verhältnis zur AfD: Kein Messias, nirgends
       
       Egal wer Vorsitzender wird: Entscheidend für die CDU ist ihr Verhältnis zur
       AfD. Und hier bahnt sich ein grundlegender Konflikt an.
       
 (DIR) Alles spricht für Nordrhein-Westfalen: Essen ist fertig
       
       Alle CDU-Vorsitzkandidaten kommen aus NRW. Warum möchten die da alle weg?
       Die taz-Landesgruppe NRW nennt 70 Gründe, warum man das Land lieben muss.
       
 (DIR) Regierungskrise in Thüringen: Ein genialer Plan
       
       Bodo Ramelow schlägt eine CDUlerin für den Übergang vor. Das wäre ein
       überraschend eleganter Weg aus der Krise.
       
 (DIR) Grüne und Union: Bereit für Größeres
       
       Merz? Spahn? Oder doch lieber Laschet? Die Grünen beobachten aufmerksam den
       Machtkampf in der CDU – und ziehen ihre Schlüsse für Schwarz-Grün.
       
 (DIR) Zukunft der CDU: Kabale und Hiebe
       
       Wie geht es weiter in der CDU? Gewinnt Friedrich Merz? Und was passiert in
       Thüringen? Antworten auf die wichtigsten Fragen