# taz.de -- Die Wahrheit: Zuckerschock im Einkaufszentrum
       
       > Bei den nationalen Meisterschaften im Süßessen messen sich die
       > ausdauerndsten Saccharose-Sportler*innen Deutschlands in Berlin.
       
 (IMG) Bild: Immer rein damit: Vorrundenesserinnen, aber bitte mit Sahne
       
       Wer kann süßer essen? Dieser Frage stellen sich heute neun Frauen und drei
       Männer in einem Einkaufszentrum am Berliner Alexanderplatz. Keine kleine
       Herausforderung – schaut man in die bleichen, glänzenden Gesichter der
       Teilchennehmenden. Jeder, der schon einmal eine Großpackung bunt glasierter
       Donuts in sich hinein gestopft hat, weiß, dass es mit dem Hinunterschlucken
       nicht getan ist. Das Ziehen in den Zähnen ist allenfalls der Anfang eines
       längeren körperlichen Unwohlseins.
       
       Ein Donut wäre hier im Selbstbedienungscafé ein netter Zwischengang. So
       etwas verzehren Menschen wie Monika Glanz als Betthupferl. Die
       Vorjahressiegerin aus Glückstadt verzehrt an diesem Tag – unter anderem –
       zehn Kugeln Eis, eine große Schüssel Marshmallows, einen Teller feinster
       Baklava, zwanzig Rumkugeln und drei Stück Buttercremetorte mit einer
       Extraschicht Lugdunam, dem potentesten Süßstoff der Welt. Ein Teelöffel
       davon hat die gleiche Süßkraft wie drei Tonnen Haushaltszucker und somit
       einen Wert von 15 Millionen Haworth.
       
       Haworth ist die offizielle Einheit für Süßungsgrade. Eine einzige Prise
       Lugdunam müsste man in 10.000 Tassen Kaffee auflösen, um sie zu
       neutralisieren. Insgesamt werden an diesem Nachmittag so viel Zucker und
       Zuckerersatzstoffe verzehrt, dass man mit ihnen sämtliche Seen des
       Saarlands süßen könnte. Das wirft vor allem eine Frage auf: Ist da noch
       Hirn hinter der Stirn?
       
       „Das haben mich meine Freunde auch gefragt“, sagt Glanz dazu. „Einige haben
       voll an meinem Verstand gezweifelt.“ Die 42-jährige Titelverteidigerin
       bevorzugt nicht unbedingt Zuckerwerk. „Nee, höchstens mal eine Tafel
       Schokolade am Stück oder eine ganze Tüte Gummibärchen. Das macht ja jeder.
       Sonst allerdings auch gerne herzhaft: Currywurst, Pommes, Pizza.“
       
       ## Buk oder backte?
       
       Zur Süßesserin wurde die stattliche Frau vor sechs Jahren eher zufällig.
       Man wollte eine alte Tante erschrecken und buk einen Kuchen mit der
       zehnfachen Menge Zucker. „Tante Hilde hält seitdem Diät“, erzählt Glanz
       amüsiert. „Sie sagt, sie wird den Zuckergeschmack einfach nicht mehr los.
       Ich dagegen hatte halt voll Bock auf den Kuchen. Ich konnte gar nicht mehr
       aufhören mit dem Naschen.“
       
       Allein die Meisterschaftsvorbereitungen sind kein Kindergeburtstag, auch
       wenn der Speiseplan vergleichbar ist. In den Tag startet Glanz dann mit ein
       paar Tausend Haworth. Bereits vor dem Frühstück sei eine Packung
       Zuckerwürfel fällig, um den Körper „einzugewöhnen“, wie sie das nennt.
       Unmittelbar vor dem Wettbewerb isst sie ein Eigengemisch aus Frischkäse mit
       einem Fettanteil von 60 Prozent – das helfe, die Süße zu verdauen. Andere
       verspeisen eine Flasche Ketchup.
       
       Und dann geht es los. Wir kennen das vom Kuchennachmittag bei Großmutter.
       Anfangs reagiert der Körper begeistert auf den Zucker. Mit dem ersten
       Sättigungsgefühl setzt auch der erste Abwehrmechanismus ein. Lust wird zur
       Qual. Eine flaue Übelkeit breitet sich im Magen aus. Schwindel setzt ein.
       Viele reagieren mit Kopfschmerzen.
       
       ## Jede nach Petra Fasson
       
       Organisatorin Petra Fasson lacht herzhaft. „Sie hätten vielleicht die erste
       Runde überstanden.“ Die Berlinerin, die das Selbstbedienungscafé seit fünf
       Jahren betreibt, hat sich einen sechs Runden umfassenden Marterparcours
       einfallen lassen, um die mutigen Teilchennehmenden zu testen. Runde drei
       bringt beispielsweise den süßesten Sahnelikör der Welt mit 300.000 Haworth,
       der flankiert von zehn großen Kugeln Eis verzehrt werden muss. Jede von
       ihnen bringt weitere 40.000 Haworth in die Dessertschale.
       
       Bei diesem Gang sehen einige der Teilchennehmenden schon nicht mehr so gut
       aus. Eine gebürtige Schwäbin, die als Qualifikation für die Teilchennahme
       einen längeren Arbeitsaufenthalt in den USA angab, bricht direkt in den
       Eisbecher. Ein Essener knöpft sich stöhnend die Hose auf. Das Publikum –
       etwa 85 Menschen drängen sich in der Passage des Einkaufszentrums –
       applaudiert laut. Vermutlich aus Erleichterung, nicht auf dem Podium zu
       sitzen.
       
       „’Ne Meise haben die auf jeden“, sagt Christian, der aus Meißen angereist
       ist, um das Leiden, die Übelkeit und das Ächzen mit eigenen Augen zu sehen.
       „Aber lustig isses.“
       
       ## Das große Finale
       
       Cremetorte nach Sahnepudding lichtet sich das Teilchennehmendenfeld. In der
       letzten Runde hat Monika einen letzten Kontrahenten. Aus einem Schlauch
       müssen die beiden möglichst viel Zuckerrübensirup in sich hineinlaufen
       lassen. Mit verklebtem Gesicht gibt Mike aus Quickborn schließlich seinen
       Dessertlöffel ab. Etwas orientierungslos taumelt er von der unter seinen
       Schritten bebenden Bühne.
       
       Die Siegerin ist überglücklich. Nach der Preisverleihung bleibt Monika
       Glanz jedoch nicht lange vor Ort. Jetzt brauche sie erst mal was
       Vernünftiges, sagt sie. Einen richtig schönen Döner mit extra scharfer
       Soße. Und bitte ohne Sahne!
       
       6 Mar 2020
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Thilo Bock
       
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