# taz.de -- Heinsberg-Studien zu Corona: Unverstandene Wissenschaft
       
       > Die Erwartungen an die ForscherInnen sind immens hoch, das zeigt die
       > Coronakrise. Liefern sie dann erste Ergebnisse, stehen sie aber in der
       > Kritik.
       
 (IMG) Bild: Die Virologen der Universität Marburg sind an der Entwicklung eines Impfstoffs beteiligt
       
       Selten waren die mediale Aufmerksamkeit und der Einfluss auf Politik, wie
       Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler bald aller Disziplinen sie aktuell
       erfahren, größer als im coronabedingten Lockdown. Dies ist zunächst dem –
       banalen – Umstand geschuldet, dass es sich, man kann es nicht oft genug
       wiederholen, um ein neuartiges Virus handelt, über dessen Eigenschaften wir
       (leider noch) zu wenige gesicherte Informationen haben. Auch über die
       Spätfolgen der Maßnahmen, die wir zu seiner Bekämpfung einsetzen, können
       wir im Moment nur spekulieren. [1][Daten im harten Sinne sind rar], weil es
       sich um ein einmaliges Ereignis handelt; Expertise erscheint da wie – um
       die Metapher der Krise zu bemühen – ein Nebelhorn auf unser aller „Fahrt
       auf Sicht“.
       
       Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sind derzeit aber nicht nur
       gefragt (wie sonst so oft in Krisen), bereits vorhandenes, über die Jahre
       und im permanenten Diskurs gereiftes Wissen zu diskutieren und zu teilen.
       Sondern sie sind aufgefordert, binnen kürzester Zeit neues Wissen zu
       generieren, ihren eigenen Forschungsstand dabei ständig zu aktualisieren
       und einer selbstkritischen Überprüfung zu unterziehen. Der politische
       Handlungsdruck ist derweil riesig, ohne valide und reliable Datengrundlage
       aber erscheinen Entscheidungen willkürlich. Entsprechend immens und von
       Ungeduld geprägt ist die Erwartungshaltung seitens der Politik wie seitens
       der Bevölkerung, vermittelt auch über die Medien, an die Wissenschaft:
       Liefert! Endlich! Daten! (Und löst damit, das jedenfalls ist vielerorts der
       Subtext, gefälligst unsere Probleme.)
       
       Zu welchen Missverständnissen dieser überzogene Anspruch an Wissenschaft,
       ihre Leistung und vor allem ihre vermeintliche Kapazität zur eindeutigen
       Problemlösung in einer globalen Krise führen kann, war in der vergangenen
       Woche gut zu beobachten, etwa am Gründonnerstag. Da präsentierten
       Naturwissenschaftler des Bonner Universitätsklinikums vorläufige Ergebnisse
       einer Untersuchung, die sie durchgeführt hatten [2][in der Gemeinde Gangelt
       im Kreis Heinsberg], wegen des frühen Ausbruchs und der hohen Fallzahlen
       ein sogenannter Corona-Hotspot – und damit ideal geeignet für eine Studie
       zur Verbreitung des Virus.
       
       Die Forscher wollten wissen, wie viele Menschen eine Infektion bereits
       durchgemacht hatten, um abschätzen zu können, wie hoch die Immunität in der
       Bevölkerung dort inzwischen ist. Und sie wollten wissen, wie viele der
       Infizierten dort an dem Virus gestorben waren. Es war Pionierarbeit;
       bislang liegen solche empirischen Daten für Deutschland nicht vor.
       
       Die Enttäuschung darüber, dass die Ergebnisse erstens bloß ein
       Zwischenresultat darstellten, zweitens nur für die Gemeinde Gangelt
       Repräsentativität beanspruchten und drittens methodisch möglicherweise
       nicht in A-, sondern lediglich in B-Qualität daherkamen (dies
       möglicherweise auch geschuldet dem Druck, in der Pandemie zeitnah Daten
       liefern zu sollen), führte schnell zu einer [3][Generalkritik an der
       Studie], in der nun alles vermengt wurde, was sich irgendwie vermengen
       ließ, um die maximale Diskreditierung wissenschaftlicher Leistung zu
       gewährleisten.
       
       ## Überzogene Vorwürfe
       
       Die Forscher hätten sich von der Politik einspannen lassen; schließlich
       habe die nordrhein-westfälische Landesregierung ihre Studie mit 65.000 Euro
       gefördert. Die Forscher seien womöglich nicht unabhängig, denn sie hätten
       die Öffentlichkeitsarbeit in marktschreierischer Manier weitgehend an eine
       private PR-Agentur ausgelagert, die dafür zwar kein Geld verlangte, aber
       deren Gründer ein Ex-Bild-Chef ist (= superpfui). Die Forscher hätten
       voreilig Schlüsse verkündet, die in jedem Fall weiterer Überprüfung
       bedürften.
       
       Alles richtig, vieles sicher im Ergebnis unglücklich. Allein: Taugen diese
       Umstände zum Skandal? Ein Blick in den universitären Forschungsalltag
       lohnt, um festzustellen: Die finanzielle Unterstützung durch
       Drittmittelgeber ist nicht nur die Regel an Hochschulen, sie ist von deren
       Leitungen auch explizit erwünscht. Wem es nicht gelingt, Mittel in
       nennenswertem Umfang einzuwerben, dessen universitäre Karriere läuft
       Gefahr, schon bald jäh zu enden. Wer sich bei der Präsentation seiner
       Forschungsergebnisse allein auf die Öffentlichkeitsarbeit seiner
       Universität verlässt, der darf befürchten, dass diese ein wohl gehütetes
       Geheimnis bleiben. Dies ist keineswegs vermeintlicher Inkompetenz der
       entsprechenden Stellen geschuldet, sondern personellen wie finanziellen
       Engpässen sowie langen, schwer nachvollziehbaren Verwaltungswegen.
       
       ## Zwang zur Vermarktung
       
       Zugleich aber ist Transdisziplinarität das Zauberwort der Stunde: Keine
       Bewilligung eines Förderantrags ohne den Nachweis, dass man seine Forschung
       später auch anwendungsnah wird vermarkten können – und unterdessen gewiss
       bereit ist, auch kleinste Zwischenergebnisse möglichst publikumswirksam zu
       twittern. Keine Doktorarbeit, von der nicht angenommen würde, dass sie
       trotz spärlicher und vorläufiger Datenbasis mindestens für eine aufgemotzte
       Posterpräsentation auf einer wissenschaftlichen Tagung taugte.
       
       Diese Mechanismen kann man beklagen und strukturell bekämpfen; den Unmut
       hierüber einzelnen Forschern anzulasten, ist bloß billig. Die Krise zeigt,
       wie sehr die Wissenschaft und ihre Strukturen mit der Politik und der
       medialen Öffentlichkeit fremdeln. Mehr Verständnis füreinander könnte indes
       sensibilisieren: Die eine Seite für die an sie herangetragenen Erwartungen.
       Und die andere dafür, den Wert der Forschung besser einzuordnen.
       Wissenschaftliche Studien, das gilt auch für die aus Gangelt, sind stets
       nur Puzzlestücke. Sie liefern Erkenntnisse über naturwissenschaftliche oder
       gesellschaftspolitische Zusammenhänge, die im anschließenden Diskurs
       geschärft – und manchmal auch verworfen werden. Ihre Stärke sind ihre
       Wenn-dann-Aussagen. Politische Entscheidungen können sie nicht ersetzen.
       Schon gar nicht in der Pandemie.
       
       17 Apr 2020
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
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