# taz.de -- Streit um Holocaust-Gedenkstätte in Kiew: Babyn Jar 3.0
       
       > In Kiew entsteht das Babyn Jar Holocaust Memorial Center. Um das
       > künstlerische Konzept von „Dau“-Regisseur Ilja Chrschanowski gibt es
       > Streit.
       
 (IMG) Bild: In der Ukraine fanden Massenexekutionen statt, etwa im Dorf Iwanohorod am 1. September 1942
       
       Um Babyn Jar wird erbittert gestritten.
       
       Vor 1991 war das [1][anders]. „Über Babij Jar, da redet der Wildwuchs, das
       Gras“, dichtete Jewgeni Jewtuschenko 1961. „Das Schweigen rings schreit.“
       Damals war nach den antisemitischen Kampagnen kurz nach dem Zweiten
       Weltkrieg jede öffentliche Erinnerung an die „Ukraine ohne Juden“
       (Grossman, 1943) verbannt. 1976 entstand das erste sowjetische Denkmal in
       Babyn Jar – gewidmet ausschließlich „allen Sowjetbürgern, Kriegsgefangenen
       und Offizieren der Sowjetarmee, die von deutschen Faschisten in Babij Jar
       erschossen wurden“.
       
       Mit 2,5 Kilometer Länge früher eine der größten Schluchten der Stadt, ist
       Babyn Jar heute ein [2][Park] in Kiew.
       
       Hier ging es schneller zu als später in Auschwitz. In Babyn Jar und an
       anderen Orten der heutigen Ukraine entfaltete sich nach dem Überfall auf
       die Sowjetunion am 22. Juni 1941 [3][mit dem Vernichtungskrieg auch der
       „Holocaust durch Kugeln“], nachdem zwei Jahre zuvor Berlin und der Kreml
       Ostmitteleuropa gewaltsam aufgeteilt hatten.
       
       In 36 Stunden wurden am 29. und 30. September 1941 laut Polizeibericht
       33.771 jüdische Menschen erschossen. 33.771, geteilt durch 36 und verteilt
       auf die Schluchtlandschaft, vor den Augen und Ohren von Nachbarn, von
       [4][ganz normalen Männern] der SS und der Wehrmacht.
       
       Die Opfer lagen übereinander. In Stapeln. Daneben meist die Kleidung. Bis
       1943 wurden hier auch Angehörige anderer Opfergruppen getötet: Sinti und
       Roma, Homosexuelle, Menschen aus Psychiatrien, Kriegsgefangene, vereinzelt
       Fronten Wechselnde aus der „Organisation Ukrainischer Nationalisten“. Circa
       100.000 Menschen – davon geschätzt knapp 70.000 aufgrund jüdischer Herkunft
       – wurden in der Schlucht umgebracht.
       
       Entlang des Parks führt heute die Olena-Teliha-Straße, zu Ehren einer 1942
       in der besetzten Hauptstadt ermordeten ukrainischen Nationalistin.
       [5][Teliha] wirkte im September/Oktober 1941 an einer Zeitung mit, die
       stark antisemitisch orchestrierte und das Verschwinden von Juden aus der
       Stadt feierte. Bevor sich ein Teil der Organisation ukrainischer
       Nationalisten von der NS-Besatzungsmacht abspaltete, fuhr Teliha in die
       besetzte Hauptstadt, wo sie später umgebracht wurde.
       
       Trotzdem entstand 2017 für sie ein Denkmal in Babyn Jar, auf Initiative des
       später suspendierten Direktors des staatlichen Instituts für Nationales
       Gedächtnis. Angeblich sei Teliha in Babyn Jar ermordet worden, hieß es,
       wobei forschende Historiker*innen keine Belege für ihre Ermordung gerade an
       diesem Ort gefunden haben.
       
       Im Park stehen Denkmäler, Kreuze, Symbole nebeneinander, errichtet oft
       durch private Initiativen, durch die Bezugnahme auf den Ort spannungsreich
       verflochten. Ein Sinnbild für die polyfone Erinnerungslandschaft, infolge
       der Millionen einheimischer Opfer.
       
       ## Illustre Förderer
       
       Der Skandal jetzt war im September 2016 nach der Stiftungsgründung für das
       Babyn Yar Holocaust Memorial Center (BYHMC) nicht absehbar. Der
       Aufsichtsrat ist prominent besetzt: darunter Natan Scharanski, Joe
       Lieberman, Joschka Fischer, Aleksander Kwaśniewski, die Brüder Klitschko,
       ein ukrainischer Rockstar und ein Oberrabbiner, dazu Oligarchen und
       Kunstförderer aus der Ukraine und aus Russland wie Michail Fridman,
       Begründer des Russisch-Jüdischen Kongresses und Förderer des umstrittenen
       wie gefeierten Regisseurs Ilja Chrschanowski.
       
       Bis zu Chrschanowskis Einstieg in die künstlerische Leitung des Babyn Yar
       Holocaust Memorial Centers Ende 2019 hatte es in Fachkreisen Polemiken über
       die Integration von Opfergruppen in ein Narrativ gegeben, das unter der
       Leitung des niederländischen Historikers Karel C. Berkhoff vom Beirat
       ausgearbeitet worden war. Einige Stimmen äußerten nun Unbehagen an der
       Förderung mit russischem Geld in Zeiten des Krieges. Außerdem kam Kritik
       aus dem Umfeld des konkurrierenden [6][Babyn-Jar-Projekts].
       
       Dieses stärker national besetzte und konzipierte Projekt plant ebenfalls
       eine (virtuelle) Ausstellung zu Babyn Jar. Es wird stärker von staatlichen,
       städtischen und staatsnahen Institutionen wie dem Museum für
       Stadtgeschichte, dem Ukrainischen Institut für Nationales Gedächtnis, der
       Initiative Ukrainisch-Jüdische Begegnungen und dem Ukrainian Center for
       Holocaust Studies getragen.
       
       ## „Authentische“ Inszenierung?
       
       Seit diesem April hat sich eine Front quer durch mehrere Lager gebildet,
       die Chrschanowskis Absetzung als künstlerischer Leiter des BYHMC fordert.
       Während noch die Debatte um die Umbenennung der Metrostration anfing, waren
       der Name der künstlerischen Leitung und ihre Ideen für die Gedenkstätte
       bekannt gegeben worden – kurz nach dem Film „[7][Dau: Natascha]“, der auf
       der Berlinale für #MeToo- sowie Gewaltdebatten sorgte.
       
       In dem Film ließ Chrschanowski Realität, Fiktion und Experimente an
       Amateur*innen verschmelzen, um das totalitäre Sowjetsystem „authentisch“ zu
       inszenieren. Im April hat der ukrainische Ombudsmann für Kinder die
       Staatsanwaltschaft eingeschaltet, da Kinder aus ukrainischen Waisenhäusern
       zu sehen waren.
       
       Einige halten das BYHMC für ein trojanisches Pferd Putins.
       
       Nach Durchsickern der Namen, Kündigungen und Ideen wurde die Kritik laut,
       dass ohne Beteiligung der Gesellschaft und des Staates, hinter
       verschlossenen Türen das Projekt eines Holocaust-Disneylands geplant sei.
       Den Begriff prägte der ehemalige Ausstellungsleiter, nachdem der
       wissenschaftliche Leiter Berkhoff zurückgetreten war. Er könne aus
       ethischen Gründen im Sinne der Internationalen Gedenkstätten-Charta nicht
       mehr mitwirken, sagte dieser.
       
       Die zirkulierenden Namen und Ideen haben für Unmut gesorgt, aber auch für
       eine Debatte über Geschichtspolitik und -ethik in der Ukraine. Nach
       Chrschanowskis – angeblich später verworfener – Idee sollte sich das
       Publikum des Museums die Rolle von Opfern, Tätern oder Mitläufer*innen
       auswählen, mit dem Versprechen, dass sie nach Computeranalysen ihrer
       Gesichtsprofile und Eindrücke ihr historisches Doppelgängerprofil auf der
       Grundlage der Bilder und Daten kennenlernen, und sich selbst.
       
       Einmal soll Chrschanowski vorgeschlagen haben, Babyn Jar umzugraben,
       woraufhin erwidert worden sei, dass man den Ort nicht umgraben könne.
       Darauf hätte er – so die in die Öffentlichkeit getragenen Zitate – gemeint,
       dass man nicht umgraben müsse, nur die Idee öffentlich machen.
       
       Diese Irritationen sorgten dafür, dass die Kritiken an der Sache und Person
       mit Vorstellungen über Chrschanowskis Filme verschmolzen. Aus der
       Zivilgesellschaft wie aus der Fachwelt ergingen ein Aufruf an den
       (Minister-)Präsidenten und Bürgermeister Vitali Klitschko zur Absetzung
       Chrschanowskis, es hieß, ein privates Projekt an einem solchen Ort sei
       nicht tragbar. Ebenso werden Zweifel an seiner fachlichen Eignung und an
       ethischen Aspekten geltend gemacht.
       
       ## Serhij Loznytsja ist auch dabei
       
       Zu Chrschanowskis Verteidigung warf [8][Serhij Loznyzja], der an einem Film
       über Babyn Jar arbeitet, den anderen sowjetische Denunziationsmethoden vor.
       Loznyzjas Projekt ist nun in das BJHMC integriert.
       
       Während Chrschanowskis Filme in Russland verboten sind, seine Mutter aus
       der Ukraine stammte und zufällig jüdischer Herkunft ist, der Oligarch
       Fridman in Lwiw zur Welt kam und hier das renommierte Leopolis Jazz Fest
       seit 2011 fördert, wird die Leitung teils als Fremdkörper im nationalen
       Gedächtnisraum gesehen, der nach Osten hin zu schützen sei. Die Jerusalem
       Post titelte, Chrschanowski, der nicht jüdisch sei, plane ein
       hyperrealistisches Holocaust-Disneyland.
       
       Inzwischen sucht das BJHMC neue Kommunikationsstrategien. Die Stiftung ist
       nun im Transparenzregister der EU registriert. Am 11. Juni fand eine
       Zoom-Konferenz des Aufsichtsrats mit Projektpräsentationen statt. Die
       Konferenz ist online [9][einsehbar]. Am Ende der affirmativen Runde
       erklärte Klitschko, demnächst solle auf Anregung der Stiftung ein Vertreter
       aus dem Präsidentenamt im Aufsichtsrat sitzen.
       
       Der Vorsitzende Scharanski betonte, das Projekt bleibe nichtstaatlich.
       Klitschko berichtete, dass sogar aus deutschen Medien Informationsangriffe
       kämen. Scharanski resümierte, die Kritik, es handele sich um ein
       Holocaust-Disneyland, sei widerlegt worden. Chrschanowski gab sich
       versöhnlich. Er sei missverstanden worden, vorläufige Ideen seien schnell
       publik geworden. Er wolle ein neues Kunst- und Erinnerungskonzept kreieren.
       In der Sprache der nächsten Generationen.
       
       Der neue Direktor, Maksym Jakover, sagte, die Kritiken kämen aus dem Umfeld
       des konkurrierenden Projekts. An der Ausarbeitung des historischen
       Narrativs der Stiftung war allerdings der zurückgetretene Berkhoff
       federführend.
       
       ## Von Dichotomien lösen, aber wie?
       
       Zum Stiftungstreffen im September wurde der französische Schriftsteller
       [10][Jonathan Littell] eingeladen, der mit seinem Roman „Die Wohlgesinnten“
       die Literaturkritik aus der Perspektive eines promovierten, homosexuellen
       SS-Täters polarisiert hatte: „Naive Einfühlungshermeneutik“ warf Micha
       Brumlik seinen Erkundungen des Bösen vor.
       
       Auch Chrschanowski betont, man müsse sich von Dichotomien der guten Opfer
       und der bösen Täter lösen. Noch unklar ist nach den Präsentationen im Juni,
       wie dieser Gemeinplatz umgesetzt werden soll. Wie lässt sich diese
       Dichotomie jenseits der immersiven Effekte, mit der gleichsam betonten
       Empathie für die Opfer, aufbrechen? In der Präsentation zu den „Gerechten
       unter den Völkern“ ist der hagiografische Begriff „Helden“ gefallen.
       
       ## Vorbild: #evastories
       
       Das BJHMC hat den Anspruch, die größte Holocaustgedenkstätte Osteuropas
       oder gar weltweit zu werden. In der Sitzung schlug Chrschanowski virtuelle
       Punkte vor, um Opfer abzubilden, nach dem Vorbild eines russischen sozialen
       Netzwerks zur Geschichte von 1917 oder von [11][#evastories].
       
       „Evas Stories“ kann man folgen, nicht den Storys von Nazis. Das
       [12][project1917.ru] will die ganze Gesellschaft eines Landes im Umbruch
       der Februar- und Oktoberrevolution abbilden. Wie genau soll das für die 36
       Stunden am Steinbruch in Babyn Jar oder auch die Zeit davor und danach
       realisiert werden? Stellt das Netzwerk die Kontexte dar und her?
       
       Formen der Erinnerung können sich ändern. Die Kritik entzündet sich aber
       auch am Verhältnis zwischen (trans-)nationalem Erinnerungsort,
       crossmedialen Botschaften, Sachkunde, Kunst, (politischem) Kapital und
       Transparenz.
       
       Der Streit ist nicht zu Ende, aber das Schweigen.
       
       25 Jun 2020
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] /75-Jahre-Nazi-Massaker-von-Babi-Jar/!5340549/
 (DIR) [2] https://www.google.com/maps/@50.4715764,30.4488102,481m/data=!3m1!1e3
 (DIR) [3] https://www.jpost.com/opinion/the-fight-for-historical-truth-about-the-holocaust-in-ukraine-485696
 (DIR) [4] /Stefan-Kuehl-zur-Soziologie-des-Holocaust/!5029212
 (DIR) [5] http://uamoderna.com/images/blogy/Radchenko/Teliha%20monument/4.jpg
 (DIR) [6] http://memory.kby.kiev.ua
 (DIR) [7] /metoo-auf-der-Berlinale/!5666717/
 (DIR) [8] /Sergei-Loznitsa-ueber-seinen-Film-Donbass/!5529242/
 (DIR) [9] http://babynyar.org/en/byhmc-news/posts/news/zasidanna-nagladovoi-radi-blagodijnogo-fondu-memorialnij-centr-golokostu-babin-ar-vid-11062020
 (DIR) [10] /Die-Wohlgesinnten-von-Jonathan-Littell/!5185828/
 (DIR) [11] /Erinnerungskultur-bei-Instagram/!5592218/
 (DIR) [12] https://www.deutschlandfunk.de/russische-revolution-als-soziales-netzwerk.807.de.html?dram%3Aarticle_id=383055
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Felix Heinert
       
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 (DIR) Gedenken an die Toten von Babyn Jar: Wir haben nur Worte
       
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       gedacht. Bis heute wird dort ums Gedenken gerungen. Ein Ortsbesuch.
       
 (DIR) Massenmord an Kiewer Juden 1941: „Kleinkinder nicht mitgezählt“
       
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       Menschen wurden 1941 nahe Kiew getötet – möglicherweise auch deutlich mehr.
       
 (DIR) KanzlerkandidatInnen zum Gedenktag: Was bedeutet der 22. Juni 1941?
       
       Annalena Baerbock (Grüne), Armin Laschet (CDU) und Olaf Scholz (SPD) über
       Erinnerung und die Lehren für die Zukunft.
       
 (DIR) 75 Jahre Kriegsende: Triumph und Trauer
       
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 (DIR) Tagung zu Gedenkkultur in der Ukraine: „Den anderen in uns kennenlernen“
       
       Die Tagung „Kontroverse Erinnerungen“ fand in Babi Jar statt, wo die Nazis
       Zehntausende ermordeten. Im Fokus stand das Thema Opferkonkurrenz.
       
 (DIR) "Wohlgesinnten"-Autor Littell: Schillernde Selbstinszenierung
       
       Jonathan Littell, Autor von "Die Wohlgesinnten", hat eine Schrift zur
       Struktur der faschistischen Sprache verfasst. Darin finden sich mehr Fragen
       als Antworten.