# taz.de -- taz-Sommerserie „Sommer vorm Balkon“: Schöneberg war krasser als Sodom
       
       > Brendan Nash führt seit 2011 durch Isherwoods Schöneberg. Der
       > Schriftsteller kam 1930 des queeren Lebens wegen, beschrieb aber auch den
       > Rechtsruck.
       
 (IMG) Bild: Brendan Nash auf den Spuren von Christopher Isherwood in Schöneberg
       
       Brendan Nash ist ein Zeitreisender. Ein eher kleiner Mann von 55 Jahren,
       der viel lächelt. Seine Stimme: früh geschult an salzwassergetränktem
       Gegenwind, aus einer Kindheit an der Küste in Südengland. Die Stimme hilft
       ihm auch am Nollendorfplatz: dort, wo nachts die Regenbogenfarben auf der
       Kuppel über dem U-Bahnhof strahlen. Und dort, wo, etwas weniger sichtbar,
       eine [1][Erinnerungstafel] angebracht ist: „Totgeschlagen. Totgeschwiegen.
       Den homosexuellen Opfern des Nationalsozialismus.“
       
       Wenn sich seine Tourgäste mit ihm um 11 Uhr samstagsvormittags gegenüber
       vom pompösen Metropol vor dem U-Bahnhof Nollendorfplatz versammeln – dann
       spielt es schnell keine Rolle mehr, welchen Tag und welches Jahr die Uhr an
       Brendan Nashs rotem Armband wirklich anzeigt: Er beschwört dann das
       goldene, chaotische, queere Berlin der 1920er herauf mit einer
       zweistündigen Tour.
       
       Das Interesse an dieser Zeit des Exzesses, des freien queeren Hedonismus
       kurz vor der ganz großen Rechtsruck-Katastrophe ist noch einmal gestiegen:
       Beim deutschen Mainstreampublikum nicht zuletzt durch die [2][Serie
       „Babylon Berlin“] und gefühlten Parallelen zu unserer Gegenwart. Beim
       queeren internationalen Publikum eher durch die reichlich mit Emmys und
       Golden Globes prämierte [3][Serie „Transparent“] über eine jüdische
       Familie, aus der eine Tochter der transsexuellen Hauptfigur Zeitsprünge ins
       queerfreundliche Berlin der 1920er imaginiert, ins Umfeld des jüdischen
       Berliner [4][Sexualwissenschaftlers Magnus Hirschfeld].
       
       Begeistert und begeisternd spricht Nash auf seiner Tour von den „Geistern
       der Vergangenheit“: von der Filmdiva Marlene Dietrich; von den
       Cabaret-Tänzerinnen Josephine Baker und Anita Berber; und vor allem vom
       britisch-amerikanischen Schriftsteller Christoper Isherwood (1904–86) mit
       seiner schwulen Schriftsteller-Gang: W. H. Auden sowie Stephen Spender.
       
       ## Eine aufregende, schwule Stimme
       
       Brendan Nash erzählt davon so, als wäre dieses andere Berlin der späten
       1920er und frühen 1930er sein zweites Zuhause. Und irgendwie ist es das ja
       auch: Seine „Isherwood’s Neighbourhood Walking Tour“ gibt es schon seit
       2011. Nash rezitiert ganze Isherwood-Buchseiten auswendig, „vom Herzen“,
       wie man auf Englisch sagt.
       
       1964 wurde Nash in London geboren, hat nach diversen Jobs in Bars mit
       seinem Mann ein Hotel in einem 300-Seelen-Dorf in Schottland geleitet.
       Mittlerweile haben sie beide die irische Staatsbürgerschaft, um trotz
       Brexit in Berlin bleiben zu können, wo sie seit 2008 im Nollendorfkiez
       wohnen. Seitdem hat sich Brendan Nash auch noch mal verstärkt für Isherwood
       begeistert, der von 1930 bis 1933 in der Nollendorfstraße 17 gelebt hat.
       2019 hat Nash sogar seinen eigenen Roman, „The Landlady“, über Isherwoods
       ambivalent-charismatische Vermieterin herausgebracht.
       
       Allgemein ist das Interesse an Christopher Isherwood als relevanter,
       aufregender schwuler Stimme im letzten Jahrzehnt wieder gestiegen: 2010 kam
       die Verfilmung seines Romans „A Single Man“ in die Kinos, 2011 folgte das
       BBC-Biopic „Christopher und Heinz – eine Liebe in Berlin“, 2015 und 2016
       hat der Verlag Hoffmann und Campe Isherwoods Berlin-Romane „Leb wohl,
       Berlin“ (von 1939) und „Mr. Norris steigt um“ (von 1935) in neuer
       Übersetzung herausgebracht: ein gesellschaftliches Panorama Berlins kurz
       vor der Machtübernahme.
       
       Isherwoods Berlin-Geschichten sind zwar fiktiv, aber beruhen, schwer
       erkennbar, auf Personen, denen er begegnet ist und auf seinen Erlebnissen.
       Isherwood kam des queeren Lebens wegen nach Berlin, wo es seinerzeit mehr
       als 150 schwullesbische Läden gab. Der Schriftsteller erzähle „einen Meter
       an der Wirklichkeit vorbei“, sagt Nash schmunzelnd.
       
       ## In Berlin noch ein Geheimtipp
       
       Bei den aktuellen großen Erfolgen schwuler Autoren – etwa [5][Didier
       Eribon], [6][Edouard Louis] und [7][Ocean Voung] – fällt auf: auch sie
       haben Episoden ihrer Biographien in Literatur überführt. Isherwood
       erscheint auf einmal wieder sehr modern, auch in der Musik: Die Pet Shop
       Boys haben sich für ihr jüngstes [8][Album „Hotspot“] ausdrücklich von
       seiner Berlin-Zeit inspirieren lassen.
       
       Brendan Nash ist, trotz elf Wochen Corona-Pause, rasch zu Fuß mit seinen
       Sport-Sneakers. Man wandelt durch die von Lederbars und Dildoshops
       geprägten Straßen, die nachts nach der Sexdroge Poppers duften. Er reicht
       Million-Reichsmarksnoten herum, erzählt von der Inflation, von der
       Spanischen Grippe, von Hungersnot und Straßenschlachten im Berlin nach dem
       Ersten Weltkrieg. Davon, dass Berlin damals die drittgrößte Stadt der Welt
       war (nach Einwohner:innen) und sein Image krasser als das der mythischen
       Sündenstadt Sodom.
       
       Viele von Nashs Tourgästen kommen von weit her: Neuseeland und Australien.
       Von seiner Tour war in der New York Times zu lesen, sie hat in
       internationalen Reiseforen Top-Bewertungen. In Berlin selbst hingegen geht
       Nashs Tour noch als Geheimtipp durch. Wenn er loslegt, meint man jedenfalls
       bald das Rattern der nicht mehr existenten Trams hier am Nollendorfplatz zu
       hören, man sieht den Springbrunnen, den Park und die kohlenverrußten
       Häuserfassaden im harten Kontrast dazu.
       
       Vorm Metropol gegenüber habe die Schönebergerin Marlene Dietrich schon als
       15-jähriges Mädchen den Glamour der Filmpremieren bewundert. 1932 wiederum
       hätten Isherwood und seine Kumpels „Schanghai Express“, den Kassenschlager
       mit Marlene Dietrich, eben hier im Metropol gesehen. Nashs blaue Augen
       funkeln, wenn er davon spricht, als wäre er selbst dabei gewesen.
       
       ## Interessante Mitbewohner:innen
       
       Ein Highlight ist die Nollendorfstraße 17, wo Isherwood 1930 (auf der
       Gedenktafel steht fälschlicherweise 1929) bis 1933 bei seiner Vermieterin
       Meta Thurau wohnte zeitweise mit der Cabaret-Sängerin Jean Ross. In
       Isherwoods „Leb wohl, Berlin“ heißen die beiden Fräulein Schröder und Sally
       Bowles. Andere Bewohner:innen der „WG“ waren eine Prostituierte und ein
       Cocktail-Barkeeper. Isherwood beschreibt die Nollendorfstraße im Roman als
       gewaltige Straße mit Kellergeschäften, überladenen Fassaden, auskragenden
       Balkonen. Einiges davon ist noch heute zu sehen.
       
       Man spürt, wenn Nash von Isherwoods Vermieterin erzählt, dass ihm ihr
       Schicksal nahe geht: Sie war so sehr verarmt, dass sie ihre komplette
       Wohnung vermieten musste und selbst im „Wohnzimmer“, einem Durchgangszimmer
       zum Klo, schlief. Isherwood nennt das „bankrotten Mittelstand mit
       Second-Hand-Möbeln“. Überhaupt: Obwohl Isherwood viel über das spaßige
       Leben in Berlin schrieb, hatte er, als Kommunist, stets auch den Blick für
       soziale Ungerechtigkeiten – und den sich anbahnenden Rechtsruck samt
       Antisemitismus.
       
       Wie eng Party und Politik zusammenhängen, zeigt sich beim ehemaligen
       Eldorado in der Motzstraße 24, wo heute ein Bioladen haust. Das einst
       zweistöckige Tanzlokal mit goldverzierten Decken, weißen Tischdecken und
       prunkvollen Kronleuchtern war auch bei Klaus und Erika Mann beliebt. Und es
       war ein Ort, an dem, wie Brendan Nash sagt, die Gendergrenzen unscharf
       wurden: Jungs in Drag, Frauen im Smoking, all das wurde gefeiert.
       
       Auch das Hetero-Publikum kehrte gerne for fun ein, wie heutzutage im einst
       schwulen Berghain. Marlene Dietrich und Claire Waldorf haben hier performt.
       Vielleicht auch Anita Berber, die „Amy Winehouse ihrerzeit“, wie Nash sagt.
       Die Polizei war eher lax, wie man auch in „Das andere Berlin“ (2015) des
       Historikers Robert Beachy sehr gut nachlesen kann, weil die zahlreichen von
       Queers frequentierten Orte der Polizei sogar die Möglichkeit gaben, die
       „Szene“ besser zu überwachen. Der von der Polizei wohl ungewollte
       Nebeneffekt davon war, dass sich in Berlin eine homosexuelle Identität
       herausbildete. Womöglich erstmals weltweit.
       
       ## Nah am Rechtsruck
       
       1933 hingen Hakenkreuzflaggen am Eldorado und der Aufruf: „Wählt Hitler
       Liste 1“. Es schauert einen, wenn Nash die Vorher-Nachher-Fotos zeigt. Die
       SA hatte den Club zu ihrem lokalen Hauptquartier gemacht. Die
       tschechisch-jüdische Club-Besitzer-Familie Konjetschni floh vor den Nazis
       über Südfrankeich nach Australien. Schwullesbische Lokale waren nunmehr
       verboten.
       
       Auch Isherwood sollte nicht mehr lange bleiben. Ihn heute zu lesen und auf
       seinen Spuren zu wandeln macht Spaß, aber stimmt auch nachdenklich: Wie nah
       der Tanz auf dem Vulkan zu Zeiten Isherwoods dann eben doch schon dem
       totalen Rechtsruck war, dessen Andeutungen Isherwood in vielen Episoden
       dokumentierte, sehr anschaulich auch mit einem „Ariermaße“ propagierenden
       Nazi-Doktor.
       
       Nashs Tour führt am Ende auch zum Kleist Casino, 1921 eine der ersten
       Gay-Bars Europas. 1936, zu den Olympischen Spielen, durfte das Casino noch
       mal einen sommerlang öffnen: Die Nazis wollten kurz so tun, als wären sie
       harmlos, tolerant und weltoffen.
       
       6 Jul 2020
       
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