# taz.de -- Streit um Polizeieinsatz: „Massive Gewalt“
       
       > Hat sich die Polizei bei den Auseinandersetzungen an dem
       > Quarantäne-Wohnblock in Göttingen verhältnismäßig verhalten? Dazu gibt es
       > mehrere Meinungen.
       
 (IMG) Bild: Kundgebung am Zaun: Die Bewohner des unter Quarantäne gestellten Wohnkomplexes am 23. Juni
       
       GÖTTINGEN taz | 13 Ermittlungsverfahren, 36 Tatverdächtige, elf verletzte
       Beamte sowie „eine lange Liste“ von Straftatbeständen: Gut sechs Wochen
       nach den [1][heftigen Auseinandersetzungen] zwischen Bewohnern eines
       Wohnblocks in Göttingen, der im Juni unter Quarantäne stand, und der
       Polizei hat die danach eingesetzte Sonderkommission jetzt eine vorläufige
       Bilanz vorgelegt. Gleichzeitig erneuern linke Gruppen ihre Kritik an
       „massiver Gewalt“ der Polizei. Der Solidaritätsverein „Rote Hilfe“ prangert
       unverhältnismäßige Ermittlungsmethoden an und ruft zu politischer und
       finanzieller Unterstützung der von Strafverfahren betroffenen Personen auf.
       
       In den als soziale Brennpunkte geltenden Hochhäusern hatten sich etwa 120
       Menschen mit dem Coronavirus infiziert. Die Stadt Göttingen ordnete
       daraufhin am 18. Juni für die rund 700 gemeldeten Bewohner Tests an und
       verhängte eine Ausgangssperre. Unter ihnen sind viele Hartz-IV-Empfänger
       und Migranten, auch etwa 200 Kinder und Jugendliche leben dort in prekären
       Verhältnissen. Für knapp 600 Bewohner übernimmt die Stadt die Mietkosten.
       
       Alle durften die Gebäude für eine Woche nicht verlassen, die Zugänge zu dem
       Komplex wurden verschlossen. Zwei Tage später eskalierte die Situation:
       Mehrere Dutzend der eingesperrten Bewohner rüttelten an den Absperrungen
       und bewarfen Polizisten mit Gegenständen, Beamte setzten Tränengas ein.
       Zeitgleich demonstrierten etwa 250 junge Leute in unmittelbarer Nähe der
       Gebäude gegen „Mietenwahnsinn“.
       
       Wie die Polizei am Montag mitteilte, wurden inzwischen Ermittlungsverfahren
       wegen schweren Landfriedensbruchs, tätlichen Angriffs auf
       Polizeivollzugsbeamte, gefährlicher Körperverletzung, Beleidigung,
       Sachbeschädigung, versuchter gefährlicher Körperverletzung, versuchter
       schwerer Brandstiftung sowie wegen Verstößen gegen das Sprengstoffgesetz
       eingeleitet. Ermittelt werde derzeit gegen 36 Tatverdächtige, von denen 25
       von der Sonderkommission sicher identifiziert worden sein. „Die
       Identifizierung weiterer Tatverdächtiger dauert an“, sagte eine
       Polizeisprecherin.
       
       Ihren Angaben zufolge wurden bei den Ausschreitungen insgesamt elf
       Polizeibeamtinnen und -beamte verletzt. Drei von ihnen seien vorerst nicht
       mehr dienstfähig gewesen. Die Betroffenen seien unter anderem von
       Pflastersteinen getroffen oder mit Gegenständen, wie beispielsweise
       Metallstangen, beworfen worden.
       
       Göttingens Polizeichef Uwe Lührig kündigte zudem eine „gesonderte
       rechtliche Prüfung“ des Verhaltens von Demonstranten an, die Beifall
       geklatscht hätten, als die Einsatzkräfte beworfen und verletzt wurden. „Bei
       allen Differenzen, die es zwischen Polizei und Demonstranten geben mag,
       haben auch die Einsatzkräfte ein Mindestmaß an Respekt und Achtung
       verdient“, so Lührig. Denn sie setzten sich jederzeit für die Sicherheit
       der Bürger sowie den Bestand von Demokratie und Verfassung ein.
       
       Daran hegt die Rote Hilfe Zweifel. Die Polizei habe am 20. Juni
       Pfefferspray auch gegen Kleinkinder eingesetzt, Demonstranten seien äußerst
       „gewaltvoll“ festgenommen worden. Auch in den Folgetagen seien Beamte in
       die abgesperrten Wohnblöcke eingedrungen, um einzelne Bewohner
       festzunehmen.
       
       Überhaupt sei die für die Hochhäuser verhängte Vollquarantäne
       unverhältnismäßig gewesen. Die Stadtverwaltung sei organisatorisch zudem
       nicht in der Lage gewesen, die Versorgung der Bewohner sicherzustellen.
       „Stattdessen wurde versucht, die Betroffenen mit Polizeigewalt
       einzuschüchtern und buchstäblich für Ruhe zu sorgen“, sagte ein Sprecher
       der Roten Hilfe. Die Initiative fordert „komplette Straffreiheit für alle
       Betroffenen“, weil die Situation erst durch den unrechtmäßigen
       Polizeieinsatz entstanden sei.
       
       Selbst die Göttinger CDU-Ratsfraktion bemängelt inzwischen die Wohn- und
       Mietsituation in den betreffenden Gebäuden. Jedes Jahr überweise die Stadt
       rund eine Million Euro direkt auf die Konten der Vermieter. Sie halte damit
       – wenn auch ungewollt – ein System aus Immobilienspekulationen und
       Profitmaximierung am Leben.
       
       Die Gruppe Basisdemokratische Linke stellte unterdessen das Göttinger
       Rathaus symbolisch unter Quarantäne. „Aufgrund einer akuten Gefährdungslage
       für die Stadtgesellschaft müssen wir das Rathaus leider vorerst abriegeln“,
       sagte eine Sprecherin. Mit der Aktion sollte die Wohnungs- und
       Krisenpolitik der Stadtverwaltung kritisiert werden. Mitglieder der Gruppe
       hatten ein Stück Zaun mitgebracht und sich Schutzanzüge übergezogen, um die
       Situation während der Quarantänezeit in dem Wohnkomplex nachzubilden, vor
       dem es am 20. Juni zu den Auseinandersetzungen gekommen war.
       
       4 Aug 2020
       
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