# taz.de -- Nachruf auf 68er Ulrich Fischer: War einmal ein Revoluzzer
       
       > … ganz gewiss kein Lampenputzer! Uli Fischer zählte zum Kern des SDS, war
       > Grünen-Abgeordneter und Menschenrechtler. Jetzt ist er gestorben.
       
 (IMG) Bild: 1983: Die Grünen protestieren gegen die Pershing II. Uli Fischer nimmt an Aktionen teil
       
       In den fünfziger Jahren, als das junge Grundgesetz der Bundesrepublik
       zuerst von einem Mann geschützt wurde (Otto John), der zu den Russen
       überlief, und dann von einem alten Nazi (Günther Nollau), hielt sich die
       ehrwürdige Hansestadt Lübeck einen ungewöhnlich hochtalentierten Spitzel.
       Dieser Schlapphut sah weit in die Zukunft, er erkannte Verfassungsfeinde
       schon im Kindesalter – und so kam Ulrich Fischer, ein 14-jähriger
       Gymnasiast, zu seiner eigenen Karteikarte. Amtlich registriert als
       Verfassungsfeind.
       
       Was der strubblige Oberschüler angestellt hatte? Ein Flugblatt geschrieben,
       gedruckt und verteilt. Was er darin gefordert hatte? Nein, nicht die
       Weltrevolution. Nicht einmal einen kleinen Aufstand oder die Zertrümmerung
       des Lehrerzimmers. Nur eine andere Pausenregelung an seinem Gymnasium.
       Schon bist du ein Verfassungsfeind. Verfassungsfeind Ulrich Fischer,
       genannt Uli.
       
       Sein ganzes Leben lang hat er seither alle möglichen Ordnungsmächte in
       zahlreichen Ländern ins Grübeln gebracht, zu Spesen verleitet,
       Observationen in Gang gesetzt und die wechselnden Staatsschützer an das
       Endliche aller Mühen erinnert. Er war eben ein richtiger „Alt-68er“. Einer
       von wenigen, nämlich ein echter.
       
       Dazu bedarf es eines langen Atems, guter Gene, Ich-Stabilität und
       Angstfreiheit. Man muss zur richtigen Zeit am richtigen Ort sein und der
       Sprache wirklich mächtig. So einer war Uli Fischer. Nun ist er gestorben,
       77 Jahre alt, ganz friedlich.
       
       Rudi Dutschke, der deutsche Urquell der 68er-Bewegung und ihrer
       unsterblichen Mythen, schätzte die Zahl der wirklichen Genossen auf 150 bis
       180 in ganz Deutschland. Zum harten Kern des Sozialistischen Deutschen
       Studentenbundes (SDS) in Westberlin zählte er vierzig bis fünfzig. Von
       denen wurde erwartet, dass sie mindestens 12 Stunden am Tag politisch für
       die Ziele des SDS arbeiteten. Fischer war einer von denen. Zwölf Stunden
       pro Tag, jeden Tag, jahrelang.
       
       Als die Westberliner Polizei am 5. Mai 1970 ein Fahndungsfoto von ihm
       herausgab, auf dem er aussieht, als wolle er den Müßiggang der Friseure
       anklagen, wurde dem FU-Studenten gleich noch eine lange Liste
       rechtsstaatlicher Verwicklungen beigelegt: Landfriedensbruch, schwerer
       Aufruhr, gefährliche Körperverletzung, Sachbeschädigung, Hausfriedensbruch.
       
       Den Hausfriedensbruch soll Fischer praktischerweise im eigenen Haus
       begangen haben. Denn der Struwwelkopf war der stellvertretende Vorsitzende
       des Allgemeinen Studentenausschusses (AStA) der FU, mithin einer Säule der
       akademischen Demokratie. Seinerzeit war vieles Deko, auch das Polizeifoto.
       
       Während der brave Westberliner zum „Augen auf und mitgefahndet“ animiert
       wurde, saßen Fischer und zwei Mitgefangene schon längst in
       Polizeigewahrsam. Nachts im Gefängnis in Moabit, tagsüber in den
       Verhörzimmern des Landeskriminalamts. Die Anklage war von größerem Kaliber:
       Brandanschlag auf das Amerika-Haus.
       
       ## Das Attentat und die Ente mit 16 PS
       
       Weil im SDS international gedacht und politisiert wurde, der Vietnamkrieg
       eskalierte, Studenten aller Kontinente als Genossen galten, kurzum: die
       Erschießung von vier US-Studenten durch die US-amerikanische Nationalgarde
       auf dem Campus der Universität Kent nicht ohne Antwort bleiben sollte,
       waren 20 Demonstranten in fünf Personenwagen des Nachts um drei Uhr zum
       Amerikahaus am Bahnhof Zoo gefahren, schlugen dort 22 Fensterscheiben ein
       und warfen sechs Molotowcocktails. Alle Täter sprinteten davon – nur
       Fischer stand an der Tür und zerrte an einem Mittäter. Der fand die Flammen
       so schön und wollte sie noch ein bisschen genießen, auch deshalb, weil
       Haschisch so gelassen macht. Es dauerte die entscheidenden Sekunden, den
       entspannten pyromanischen Genossen in ein Auto zu stopfen und dann
       gemeinsam mit zwei anderen Aktivisten das letzte Fluchtauto zu starten,
       einen französischen Citroën 2 CV, die „Ente“, 16 PS.
       
       Ein Jahr hat Uli Fischer in Moabit gesessen und es war ein böses, bitteres
       Jahr. In diesem festen Haus herrschte seit hundert Jahren ein übler Geist,
       von Reformen war noch keine Rede. Damals vor 50 Jahren herrschte eine
       andere Grundstimmung als heute: Der SDS, die „Studentenrevolte“, wollte
       schließlich die Gefängnisse abschaffen, natürlich auch deren Beamte und die
       Justiz. Und nun hatte man einen von diesen Revoluzzern …
       
       Nach seiner Entlassung machte sich Fischer auf zum Kilimandscharo,
       Gipfelhöhe 5.935 Meter. Reisen und Reden gehören zu den Kerngenen eines
       Politologen. Fischer hat mehrfach die Welt umrundet, er kannte Flughäfen,
       die nicht einmal im Kreuzworträtsel stehen, und politische Menschen
       überall, die gerade auf der Klettertour nach oben oder dem freien Fall nach
       unten waren. Fischers erstaunliches Talent zur richtigen Prognose war dabei
       sein Kompass, seine Sprachbegabung waren die Flügel und die Rednergabe war
       der variable Motor.
       
       ## Besuch bei den Vietcong in Ostberlin
       
       Anfang der siebziger Jahre besuchten wir beide die diplomatische Vertretung
       des Vietcongs in Ostberlin zwecks Abgabe einer Spende. 1.200 Westmark von
       Ärzten. Diese nahm ein kleiner, ziemlich junger Ho-Chi-Minh-Diplomat
       entgegen, der sich in zierlichem Französisch bedankte, worauf Fischer
       ebenso graziös erwiderte. Es hörte sich an, als hätten die beiden das
       vornehme Lycée Louis-le Grand im 5. Arrondissement von Paris absolviert.
       Immerhin: Der Vietcong hatte im Hof ein neues blitzblankes VW Cabriolet
       stehen, mit Pariser Nummer.
       
       Fischer fuhr als Dienstwagen nur ein Berliner Taxi, schon etwas abgenudelt.
       Von irgendetwas musste er ja leben. Seine Compagneros vom SDS und dem AStA
       hatten sich zerstreut, mehr nach rechts in die verschiedenen Formen des
       Staatsdienstes und der Lehre oder auch ganz nach links. Das hat einigen den
       Umgang mit Handfeuerwaffen, anderen die miefige Luft kleiner Knastzellen
       eingetragen. Den Werbern für die Weltrevolution, mal hier, mal da, hat
       Fischer stets deutlich abgesagt. Lediglich der Roten Hilfe stand er einige
       Jahre ehrenamtlich bei.
       
       Ja, Uli Fischer hat auch geheiratet: Astrid, früher Sekretärin des FU-AStA.
       Eine glückliche Ehe, vier Söhne. Erst der Tod hat Uli und Astrid
       geschieden. Ende der siebziger Jahre zog die Familie ins Hessische,
       ziemlich nahe an die innerdeutsche Grenze, die dort einen sehr gewundenen
       Verlauf nahm. Das nannte man „Fulda Gap“. Und das Fulda Gap wurde fast über
       Nacht richtig berühmt. Hier werde – so der weitverbreitete Glaube – bald,
       sehr bald der dritte Weltkrieg ausbrechen, Ost gegen West, Nato gegen die
       Russen. Der finale Atomkrieg, nicht zu verhindern. Es sei denn, man wirft
       die neuen amerikanischen Mittelstreckenraketen namens „Pershing“ umgehend
       in den Müll.
       
       ## Gegen Pershing II – und das sowjetische Gegenstück SS 20
       
       Darum ging es: Weg mit den Pershings, diesem Teufelszeug. Nolens volens
       wurde Uli Fischer Raketenspezialist. Schließlich hatte er als
       Wehrpflichtiger in der Bundeswehr gedient (bis er sich als
       Wehrdienstverweigerer herausklagte) und vor allem: Er sprach akzentfrei
       Amerikanisch, weil er als Schüler ein Jahr im Mittleren Westen der USA
       gelebt hatte, fernab aller deutschen Laute.
       
       Der drohende Weltkrieg brachte es mit sich, dass die Diskussionen lebhaft,
       emotional und tricky geführt wurden. Einmal bei einem Treffen wollten die
       anwesenden 40 DDR-Sympathisanten partout das Wort „SS 20“ nicht hören. Die
       SS 20 war die Dublette der Pershing, produziert von der Großen Sowjetunion.
       Sie wurde auf dem Boden der DDR tief in den Wäldern versteckt, Zielrichtung
       Westen. Uli Fischer berichtete dem Auditorium von einem Gespräch, das er in
       der Vorwoche als Bewohner des Fulda Gap mit einem amerikanischen
       Oberstleutnant geführt habe. Über Pershing und SS 20. Um keine sprachlichen
       Missverständnisse aufkommen zu lassen, gab er die US-Argumentation in
       Englisch wieder, und zwar in der Offiziersdiktion der West Point Academy.
       Alle blieben ganz still. Nach dieser Lektion gab es noch eine deutsche
       Zusammenfassung, in der SS 20 und Pershing gleichrangig vorkamen.
       
       Fischers Dienstfahrzeug war zu dieser Zeit ein Rabauken-Motorrad. Eine
       Yamaha 500, 1 Zylinder, 27 PS, Stollenreifen, geländegängig. Fischers
       Begleiter fuhr eine 750er Honda, vier Auspuffe. Was werden sich die
       sowjetischen Friedensfreunde wohl gedacht haben?
       
       ## Als Abgeordneter im Bundestag
       
       „Ihre Redezeit ist abgelaufen“, beschied der Vizepräsident des Deutschen
       Bundestags, ein SPD-Amtsträger namens Westphal, dem Abgeordneten Ulrich
       Fischer am 24. Januar 1986, als der seinen Parlamentskollegen die Position
       der Grünen zu den Menschenrechten und einer Amnestie für die Unterstützer
       der Roten Armee Fraktion (RAF) nahebringen wollte.
       
       Fischers parlamentarische Karriere blieb kurz. Zwar gehörte er der ersten
       Fraktion der Grünen an, die 1983 in den Bundestag einzog, allerdings nur
       als Nachrücker. Bis Januar 1986 musste er warten, um bis zur Bundestagswahl
       ein Jahr später das Abgeordnetenmandat des herausrotierten Hubert Kleinert
       zu übernehmen.
       
       Weil es ihm nicht gelang, von den Grünen wieder für den Bundestag
       aufgestellt zu werden, tat Fischer fürderhin das, was er am liebsten tat.
       Durch „stille Diplomatie menschliche Schicksale erleichtern“. Gestützt
       durch die Grünen-Fraktion und evangelische sowie andere karitative
       Organisationen, aktiv in sehr ungastlichen Ländern Osteuropas und des
       Balkans, hart im Nehmen. Aber eben auch oft erfolgreich. Er galt als
       ausgewiesener Afghanistanexperte, half den Friedens- und
       Menschenrechtsbewegungen in Osteuropa, kannte Tod und Teufel.
       
       Am 12. Juli 2020 ist Ulrich Fischer in Bonn am Rhein gestorben. Sein Tod
       kam schnell und ohne Schrecken. Am kommenden Samstag wird seine Asche zur
       Erde gebracht. In einem Friedwald bei Berlin.
       
       Hans Halter (82), Arzt und ehemaliger „Spiegel“-Redakteur, war ein
       langjähriger Freund von Ulrich Fischer
       
       19 Aug 2020
       
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 (DIR) Hans Halter
       
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