# taz.de -- Umstrittene Wildtierhaltung: Jetzt mal ganz natürlich
       
       > Zoos versprechen heute, ihre Tiere artgerecht zu halten. Doch wie viel
       > Natur ist dort möglich? Und sind Zoos überhaupt noch zeitgemäß?
       
 (IMG) Bild: Tiger Boris beim Ziegen-Dinner im Zoo Odense
       
       Zuerst knipst Boris der Ziege den Kopf ab. Er erledigt das fachmännisch,
       nahezu lautlos und mit einer Leichtigkeit, die erahnen lässt, wie viel
       Kraft der Kiefer eines ausgewachsenen Sibirischen Tigers hat. Boris hat
       keine Eile, er kaut am Genick des toten Bocks herum, mit einer Tatze auf
       dem Ziegengesicht, als sei ihm der starre Blick unangenehm.
       
       Dann richtet er sich auf und verkeilt sich in der Schulter seiner Beute,
       die immer noch an einem Drahtseil über dem Boden baumelt. Er zerrt an ihrem
       Kadaver, bis das Fleisch nachgibt. Ein lauter Ratsch ist zu hören, als
       würde man ein Kleid zerreißen. Ziegeninnereien stürzen mit einem satten
       Klatschen auf den Rasen. Vor dem Gehege deutet ein kleines Mädchen auf
       Boris und kichert, ihre Mutter schüttelt angewidert den Kopf. „Ich weiß,
       das ist ein Tiger, ich weiß, das ist Natur“, sagt sie. „Aber das ist mir
       einfach zu brutal.“
       
       Blutige Raubtierfütterungen wie diese gehören im Zoo von Dänemarks
       drittgrößter Stadt Odense zur normalen Besucherbespaßung. Und sie sind in
       einem Jahr, in dem es coronabedingt nur wenige Unterhaltungsmöglichkeiten
       gibt, eines der wenigen verbliebenen Freizeitangebote.
       
       Vor einer Woche stand Säbelantilope auf dem Speiseplan, diesmal der
       Ziegenbock, mit dem die Kinder keine zwei Stunden zuvor noch im
       Streichelzoo geschmust haben. Der Bock musste sterben, weil er sonst Mutter
       und Schwestern gedeckt hätte und das Gehege zu voll zu werden drohte. Eine
       solche Tötung ist für Dänemarks Zoos ein üblicher Vorgang, hier gibt es
       keine Geburtenobergrenzen, die Vermehrung wird im Nachhinein reguliert.
       
       Und eigentlich ist es ja auch sinnvoll, das Fleisch aus dem Zoo auch im Zoo
       zu verfüttern. Die Wege sind kurz, die Innereien haben viele Nährstoffe und
       die Raubtiere sind besser beschäftigt, als wenn man ihnen mundgerechte
       Steaks ins Maul wirft. „Wir zeigen die Natur so echt, wie wir können“, sagt
       Zoodirektor Bjarne Klausen und hebt vor dem Tigergehege ein zerknülltes
       Butterbrotpapier vom Boden auf. „Doch die Natur ist manchmal grausam.“
       
       Mit grausamer Natur haben wir Menschen es aber oft nicht so. Wenn wir
       ehrlich sind, wollen wir gar nicht so genau wissen, wie sie wirklich ist.
       Wir mögen es lieber romantisch, und bitte nicht so eingepfercht wie es
       früher war, als man die exotischen Tiere noch in viel zu kleinen Käfigen
       hielt. Geräumig, luftig und artgerecht soll es heute sein und der Ausflug
       in den Zoo zum Wohlfühlerlebnis für Mensch und Tier werden. Ein
       anspruchsvoller Wunsch – und die zoologischen Gärten versuchen, diesem
       Wunsch zu entsprechen.
       
       Dabei hatten sie früher mal einen anderen Auftrag, nämlich den, Sensationen
       zu zeigen. Doch heute dreht sich alles um den Artenschutz. Die Zoobetreiber
       sagen, sie halten Tiere, um sie vor dem Aussterben zu bewahren und um uns
       Besuchern die Natur nahe zu bringen. Weil wir nur schützen würden, was uns
       wichtig sei, und nur das wichtig, was uns nah und vertraut ist. [1][An die
       800 Zoos gibt es allein in Deutschland] und damit mehr Tierparks als in
       jedem anderen Land. Jede Menge Einrichtungen also, die es sich zur Aufgabe
       gemacht haben, Tiere artgerecht zu behandeln.
       
       Aber woher wissen wir, wie Tiere behandelt werden wollen? Und geschieht das
       alles wirklich in ihrem Sinne? Oder gar in unserem eigenen?
       
       Das Verfüttern von ganzen Schmuseziegen, Pferden und Rindern, Zebras oder
       Gnus, wie im dänischen Odense Zoo üblich, findet hierzulande deutlich
       seltener und eher hinter den Kulissen oder nach den Öffnungszeiten statt.
       Überhaupt bekommen die Raubkatzen in deutschen Zoos vorwiegend Geflügel,
       Kaninchen oder bereits zerlegte, größere Tiere. Für eine Keule oder ein
       Stück Rücken haben wir schließlich weniger Mitgefühl übrig als für eine
       ganze Ziege – das kennen wir von der Fleischtheke.
       
       Und selbst die Dänen machen nicht alles mit. Spätestens bei Affen, einer
       natürlichen Nahrungsquelle von Tigern, sei auch deren Schmerzgrenze
       erreicht, sagt Odenses Zoodirektor Bjarne Klausen. „Einen Makaken
       verfüttern, das würden unsere Gäste nicht mitansehen wollen.“
       
       Aber wenn wir zwar echte Tiere, doch die Natur in ihrer Echtheit nicht
       wollen, was wollen wir stattdessen?
       
       Unter dem Namen „Zoo der Zukunft“ entsteht im Norden von Leipzig ein
       moderner Entwurf unserer Wunschnatur. Gleich nach dem Tiergarten Schönbrunn
       in Wien belegt er schon jetzt Platz zwei der besten Zoos in Europa. „Wir
       wollen Tierarten erhalten und den Leuten Naturerlebnisse bieten“, sagt Jörg
       Junhold, der den Leipziger Zoo seit 1997 leitet. Er schlendert über die
       Baustelle in der Nähe des Eingangs, wo bis zum nächsten Jahr ein
       großzügiges Aquarium entstehen soll. Die geplanten Elemente zeichnet er mit
       beiden Händen in die Luft: vorn der Koi-Teich, hier der Quallenkreisel,
       dahinter das Tiefseebecken. Es folgt eine kleine Werbeeinlage: „Unsere
       Besucher tauchen in den Lebensraum der Tiere ein. Bei uns erleben sie die
       Tiere als Botschafter der Wildnis, nicht als Statisten in einer Show.“
       
       Mehr als 100 Millionen Euro hat Junhold für die Umgestaltung seines Zoos
       investiert. Sechs Themenwelten gibt es bereits, darunter eine riesige
       Tropenhalle namens „Gondwanaland“ und die angeblich weltgrößte Affenanlage
       „Pongoland“.
       
       Jetzt sollen neben dem Aquarium noch ein Feuerland mit Unterwassertunnel
       und eine asiatische Inselwelt mit neuen Volieren entstehen. „Wir bauen mit
       naturnahen Materialien, schaffen großzügigere Rückzugsorte“, erklärt der
       Direktor. Und dann sagt er noch etwas Interessantes: „Das Hauptaugenmerk
       bei der Umgestaltung liegt auf den Tieren, weniger auf unseren Besuchern.“
       
       Die Besucher sollen natürlich immer noch Tiere beobachten können, aber die
       Art und Weise ihrer Zurschaustellung hat sich geändert. Kein Mensch würde
       sich heute freiwillig die im 18. Jahrhundert übliche Tierhaltung ansehen
       wollen, wie sie etwa in der Schönbrunner Menagerie in Wien praktiziert
       wurde. Der Kaiser hatte dort Elefanten, Bären und Großkatzen hinter die
       grünen Gitterstäbe winziger Pavillons geklemmt. Seinem Beispiel folgten
       andere europäische Großstädte, mit dem fragwürdigen Ziel, möglichst viele,
       möglichst exotische, möglichst gefährlich wirkende Tiere auf engstem Raum
       zu präsentieren. Sensationen zum kleinen Preis.
       
       Damit die lebenden Ausstellungsobjekte nicht allzu schnell dahinsiechten,
       änderte man mit der Zeit die Zooarchitektur. Die Bauten wurden
       funktionaler, hygienischer, hässlicher und die Tiere starben nun nicht mehr
       hinter Schmuckzäunen, sondern in leicht zu reinigenden, gefliesten Zellen.
       Das ging eine Weile so dahin, bis Carl Hagenbeck Anfang des 20.
       Jahrhunderts in Hamburg-Stellingen einen Tierpark eröffnete, der neue
       Maßstäbe setzte mit seinen großzügigen Freianlagen und der meisterlich
       angelegten „wilden“ Natur.
       
       Die meisten Zoos folgten seinem Beispiel, fortan sollten die Menschen
       echtes Tierleben statt bloß Tiere sehen. Doch die Tierhaltung war in vielen
       Belangen unzureichend, wegen zu wenig Geld oder zu wenig Erfahrung. Die
       Zoos zeigten so viele Tierarten wie möglich. So blieb für die Tiere nur
       wenig Platz und für das Personal nur wenig Zeit, sich mit ihnen zu
       beschäftigen. Die Folge: physische und psychische Krankheiten, Wunden und
       Verhaltensstörungen. Die Bären, Elefanten und Großkatzen wirkten gestresst,
       verletzten sich selbst, liefen ihr Gehege auf und ab.
       
       Heute gehören diese traurigen Zeiten der Vergangenheit an, jedenfalls fast.
       Stephan Hering-Hagenbeck, Carl Hagenbecks Schwiegerenkel, wechselte Anfang
       des Jahres vom Hamburger Tierpark Hagenbeck nach Wien. In der Hansestadt
       war er für die großen Panoramen und Grabenanlagen verantwortlich gewesen,
       für das Tropenaquarium, die Elefantenfreilaufhalle, das Eismeer. Im
       Tiergarten Schönbrunn krempelt er nun den ältesten Zoo der Welt um. Die
       grünen Gitterstäbe müssen allerdings bleiben, die stehen unter
       Denkmalschutz.
       
       Links vom Restaurant im Kaiserpavillon betrachtet Hering-Hagenbeck den
       Geparden durch das grüne Gitter. Die Katze putzt sich in ihrem Gehege, das
       ein bisschen nach einem zugewucherten Schrebergarten aussieht. „Schönbrunn
       ist tief in der Kultur der Stadt verwurzelt“, sagt der neue Direktor. „Wir
       müssen mit der Umgestaltung behutsam umgehen.“ Er spricht von „Landscape
       Immersion“, so nennt sich das, wenn man dem Besucher glauben machen will,
       sich in der natürlichen Umgebung des Tiers aufzuhalten.
       
       Dazu bedarf es einiger architektonischer Kniffe: Steine oder Pflanzen als
       natürliche Begrenzungen, versteckte Gräben, verschlungene Pfade. Der
       Hagenbeck’schen Idee sind da alle Gitter und Wände im Weg. Aber das sei
       eher das Problem unseres ästhetischen Empfindens, sagt er, nicht das
       Problem des Tieres. „Wir schaffen mehr Platz, wir bieten Verstecke, wir
       setzen naturnah um und versuchen, unseren Besuchern die Zusammenhänge des
       Lebens so besser begreifbar zu machen.“
       
       Wie bei der Eisbärenwelt, wo die Leute über mehrere Terrassen Bärenmama
       Nora und ihr Jungtier beobachten können. Oder auch mal minutenlang gar
       nichts sehen, wenn die beiden sich vor den neugierigen Blicken verstecken.
       Die Verweildauer vor den Gehegen ist eine wichtige Währung in der
       Zooplanung. Die Menschen sollen sich Zeit nehmen für ihren Besuch, sagt
       Hering-Hagenbeck. Sie sollen suchen, entdecken und dabei auch noch etwas
       lernen, über den Umgang mit der Natur, und was wir dem Planeten antun.
       
       So verwandeln sich die Zoos gerade in irgendetwas zwischen Freizeitpark und
       Schutzstation. Nicht nur in Wien und Leipzig ist das so, sondern überall,
       wo sich Zoos ein teures Makeover leisten können. Im Tierpark Berlin
       entsteht in den nächsten zwei Jahren eine riesige Elefantenanlage, direkt
       daneben wurde gerade das alte Alfred-Brehm-Haus neu eröffnet. Die ehemalige
       Tropenhalle ist nun ein Regenwald, in dem man nicht nur Tiere angucken
       kann, sondern auch etwas über bedrohte Lebensräume, Rodungen und
       Palmölplantagen lernen soll. Und der Zoo Krefeld plant nach einer
       Brandkatastrophe zu Silvester einen Affenpark, in dem sich alles um den
       Artenschutz dreht, während Hannover fortwährend seine Afrikalandschaft
       erweitert, wo man die Flusspferde, Antilopen und Marabus vom Boot aus
       beobachten kann.
       
       Wir gehen also künftig mehr auf Safari als in einen Zoo und wollen dort
       echte, gesunde und glückliche Tiere erleben, sofern das in menschlicher
       Obhut überhaupt möglich ist. In echter, natürlicher Umgebung, aber ohne
       dänische Grausamkeiten, versteht sich. Ach, wie sehr sind wir doch von den
       Tieren abhängig, die uns als Nahrungsquelle, Kleiderspende, Kuschelersatz
       und Entertainer dienen. Manche Menschen meinen, es sei unser gutes Recht,
       sie als Ressource zu nutzen, andere sagen, wir haben überhaupt kein Recht
       dazu. Die meisten aber sehen einen gewissen Spielraum darin, wann es okay
       ist, sie zu halten, und wann nicht. Dass es dabei oft mehr um unsere
       eigenen Bedürfnisse als um die Bedürfnisse des Tiers geht, wird da gern mal
       übersehen.
       
       Wie man Wildtiere korrekt halten soll, beschreibt der Weltverband der Zoos
       und Aquarien in seiner Tierschutzstrategie. Der Kern der Strategie ist ein
       Modell, demzufolge sich die vier physischen Faktoren „Ernährung“, „Umwelt“,
       „Gesundheit“ und „Verhalten“ auf den fünften Faktor, den mentalen Zustand,
       das Wohlbefinden des Tiers auswirken.
       
       „Die modernen Zoos, die Erfahrung mit Wildtieren haben, mit der Forschung
       zusammenarbeiten und über das nötige Geld verfügen, machen ihren Job in
       vielen Bereichen gut. Alles andere wäre auch nicht wirtschaftlich, weil der
       aufgeklärte Zoobesucher entsprechende Erwartungen hat“, sagt James Brückner
       vom Deutschen Tierschutzbund. Aber: „Trotzdem gibt es in jedem Zoo viel zu
       verbessern.“ Immerhin würden sich die Zoos unter dem Dach des Verbands der
       Zoologischen Gärten (VdZ) an die Mindestanforderungen halten, die Medizin
       und Tierpflege gemeinsam mit dem Tierschutzbund erarbeitet haben. Die
       vielen hundert deutschen Einrichtungen jenseits der 71 VdZ-Zoos täten
       hoffentlich dasselbe.
       
       Natürlich gebe es unterschiedliche Auffassungen darüber, was die fünf
       Faktoren der Tierschutzstrategie in der alltäglichen Praxis genau bedeuten,
       räumt der Tierschutzexperte ein. So würden Fachleute etwa darüber streiten,
       ob Vögel darunter leiden, wenn man ihnen die Federn stutzt. Eine bei
       Flamingos, Pelikanen, Kranichen, Gänsen und Enten durchaus übliche Praxis,
       bei der die Schwungfedern zweimal im Jahr einseitig an einem Flügel gekürzt
       werden, erzählt Brückner. Dadurch fliege der Vogel so schief, dass er
       lieber gleich am Boden bleibe. Wie sehr ihn das in seiner Lebensweise
       einschränkt, versuchen Studien gerade zu beantworten, aus Sicht des
       Tierschutzbunds ist diese Form der Haltung inakzeptabel.
       
       Problematisch sei früher auch die Elefantenhaltung gewesen, sagt Brückner.
       Denn die Dickhäuter seien meist aus mehreren Herden zusammengewürfelt
       worden und hätten deshalb einen menschlichen Chef gebraucht – der sich mit
       einem Elefantenhaken durchsetzte. Heute hätten sich die meisten Zoos zum
       Glück auf den geschützten Kontakt verständigt, die Pfleger arbeiteten nicht
       mehr im Gehege, sondern auf der anderen Seite der massiven Gitterstäbe.
       
       Aber natürlich ist da noch die Platzfrage. Ein Löwe auf der Jagd streift
       kilometerweit durch die Savanne, hat er seine Beute gefangen, bewegt er
       sich keinen Zentimeter mehr von ihr weg. Würde er auch ohne Hunger
       umherlaufen, einfach, weil er so gern spazieren geht? Katzen sind
       energieeffizient, jenseits des Fressens verschlafen sie den Tag, die Großen
       in der Wildnis unter den Bäumen, die Kleinen daheim auf der Fensterbank.
       
       Wie viel Platz also braucht ein Tier in Gefangenschaft? „Es gibt Studien
       dazu, wann Tiere verhaltensauffällig werden“, sagt Brückner. „Bei
       Großkatzen gelten Gehege unter 500 Quadratmetern als problematisch,
       allerdings stammen die Untersuchungen meist von den Zoos selbst und sind
       damit wenig kritisch.“
       
       Alles wäre leichter, wenn wir das Tier selbst fragen könnten, aber das geht
       natürlich nicht, und ohne tierische Antwort beginnen wir, Analogien
       zwischen Mensch und Tier herzustellen. Wir beurteilen es nach unseren
       Maßstäben, verleihen ihm menschliche Züge, denn andere kennen wir nicht.
       Bei den deutschlandweit rund 45 Millionen Zoobesuchen im Jahr fragen wir
       uns hin und wieder, ob sich die Zootiere vielleicht gefangen oder begafft
       fühlen, ob sie sich nach Freiheit sehnen, ob sie vermissen, ob sie trauern.
       Wir schauen in ihre Augen, versuchen, uns selbst darin zu erkennen – und
       scheitern.
       
       Aber vermutlich ist es gerade diese fehlgeleitete Identifikation mit dem
       Zootier, die ein viel größeres Verständnis für seine Bedürfnisse
       hervorzurufen vermag, als es all die pädagogischen Angebote eines modernen
       Zoos mit seinen Schautafeln und Lernboxen, kommentierten Fütterungen und
       Unterrichtseinheiten je könnten.
       
       Wenn überhaupt. Tierschutzexperte Brückner bezweifelt, dass da wirklich
       etwas hängen bleibt. „Der Großteil der Besucher interessiert sich nicht für
       Hintergründe“, sagt er. Keine Untersuchung habe bisher gezeigt, dass jemand
       nach einem Zooausflug sein Leben änderte. Vielmehr würde der Besucher im
       Durchschnitt weniger als eine Minute vor einem Gehege verweilen, viel Zeit
       zum Lesen bleibe da nicht.
       
       Im Leipziger Zoo steht ein Ehepaar deutlich länger als eine Minute vor dem
       Gemeinschaftsgehege von Nashorn und Gepard. Allerdings nicht, um die
       Infotafel zu studieren, sondern weil es auf den perfekten Selfiemoment mit
       den Tieren wartet.
       
       Dann fragt die Frau Jörg Junhold, ob sich das Nashorn denn mit den Geparden
       vertrage, man würde ja gar keine Zäune sehen. Der nickt und antwortet im
       besten Zoodirektordeutsch: „Vergesellschaftung fördert das Wohlbefinden der
       Tiere. Es ist neben Spielen und Futterverstecken eine von vielen
       Möglichkeiten der Beschäftigung.“ Deshalb setzt es sich auch immer mehr
       durch, zwei oder mehrere Tierarten in einem Gehege zu halten. In Leipzig
       teilen sich unter anderem Giraffen, Zebras, Antilopen und Strauße die
       Kiwara-Savanne und die Löffler, Sichler und Flamingos die Lagune.
       
       Auch in Odense wurde vergesellschaftet, allerdings nicht ohne bösen
       Zwischenfall. Nachdem sich der dänische Zoo 2011 dazu entschieden hatte,
       überhaupt keine Vögel mehr zu beschneiden, hatte er mehrere Vogelarten in
       einem Fluggehege untergebracht. Als Erstes gingen die Seriemas auf die
       Scharlachibisse los – schlussendlich musste sich der Tierpark von einigen
       Arten trennen. Und wirklich fliegen wollten die übrigen Vögel bis heute
       nicht, erzählt Direktor Bjarne Klausen während des Besuchs. Nur die
       Pelikane drehten jeden Morgen eine kleine Runde, die Flamingos würden sich
       die Mühe gar nicht erst machen.
       
       Eine Gruppe besorgter Kinder bittet Klausen, ob er mal drüben ins Oceaneum
       gucken könne. Ein Pinguin sehe so aus, als seien seine Füße auf dem Eis
       festgefroren. Klausen schmunzelt, geht aber trotzdem gucken. Er trabt durch
       die Moorlandschaft über den Holzsteg, vorbei an einem Insektenhotel. Tiger
       Boris hat von seiner Ziege nicht viel übrig gelassen, ein roter Kater am
       Wegesrand beobachtet die Giraffen.
       
       Giraffe, Zoo, Dänemark – war da nicht was? 2014 empörte der Kopenhagener
       Zoo die Welt, als er den gesunden Giraffenbullen Marius aus Platzmangel
       erschoss und verfütterte. Die sozialen Netzwerke rasteten aus, die
       Zooleitung bekam Morddrohungen. In Odense war kurz zuvor ein Löwe getötet
       und vor Publikum zerteilt worden. Groß aufgeregt hatte sich niemand.
       „Kopenhagen hat den Fehler gemacht, an die Öffentlichkeit zu gehen, als
       Marius noch gelebt hat“, sagt Klausen. Außerdem habe man der Giraffe einen
       Namen gegeben, das hätte bei den Leuten Gefühle geweckt.
       
       Auch jetzt liegt wieder ein toter Löwe im Kühlfach in Odense. „Er hat die
       Jungtiere angegriffen und wurde immer aggressiver“, nennt Klausen als
       Grund. In der Natur wäre er deshalb verstoßen worden, im Zoo hat man ihn
       aus mangelndem Platz und fehlender Vermittlungsmöglichkeit nun umgebracht.
       Und er ist nur einer von vielen getöteten Zootieren in Dänemark. Seit
       Jahrzehnten schneiden dänische Tiermediziner die Bäuche toter Raubkatzen,
       Gazellen, Tapire und Kamele auf, versenken ihre Arme in Darmschlingen und
       halten Organe in die Luft, während sich Schulkinder die Nase zuhalten und
       erblassen.
       
       Was in Dänemark als Anschauungsunterricht gilt, ist in Deutschland
       unvorstellbar. Den meisten hierzulande wäre vermutlich schon eine vom Baum
       hängende Ziege zu viel, die von einem Tiger zerfetzt wird. Das „Ob“ und
       „Wie“ von Tierhaltung berührt unser ethisches Empfinden, es ist ein
       ständiges Abwägen von Argumenten, die emotional aufgeladen sind. Wenn wir
       uns gegen die Nutzbarmachung von Tieren positionieren, können wir uns
       moralisch überlegen fühlen. Wir achten Tiere, um Menschen zu ächten: all
       die Jäger und Kammerjägerinnen, die Grillmeister, Lederfans, Zirkusgänger,
       Angelfreunde, Reitsportler und Kaninchenzüchter.
       
       Nur sind unsere Standpunkte selten logisch oder konsequent. Wenn wir
       zwischen niedlichen und weniger niedlichen Tieren unterscheiden zum
       Beispiel. Oder zwischen Tieren, die wir essen und die wir nicht essen. Oder
       wenn wir festlegen, wie viel Natur wir tatsächlich vertragen: Natur ja,
       aber bitte ohne Kämpfe, Hunger, Krankheit und Tod, die unseren romantischen
       Vorstellungen widersprechen. Letzten Endes wollen wir nur eine schöne
       Inszenierung sehen – und die Tiere baden das aus. Sollten wir deshalb nicht
       besser gleich alle Zoos abschaffen?
       
       Kommt darauf an, ob man zoologische Gärten als Arche oder als Titanic
       betrachtet. Der Zoologische Garten Berlin ist der älteste Zoo Deutschlands
       – und der artenreichste der Welt. Schon 1844 wurden hier wilde Tiere
       gehalten, erst in Massen und mit wenig Erfahrung, dann mit besseren
       Kenntnissen. Doch auch in Berlin geht der Trend zu mehr Platz. Nach und
       nach werden versiegelte Flächen geöffnet, Gitter abgebaut und Arten
       abgegeben, ein paar Vögel und Fische weniger werden die Gäste schon
       verschmerzen können.
       
       Unter der Leitung von Andreas Knieriem wurden in den vergangenen Jahren
       etliche Anlagen saniert oder werden gerade neu gebaut: im Zoo der
       Adlerfelsen, die neue Pandaanlage, aktuell das Raubtierhaus. Im Tierpark,
       für den Knieriem ebenfalls verantwortlich ist, die Dschungelwelt im
       Alfred-Brehm-Haus, die Elefantenanlage und bald eine riesige Vogelvoliere.
       
       An diesem Tag steht der Zoodirektor vor dem Bärenfelsen im Tierpark in
       Berlin-Friedrichsfelde, wo [2][Eisbärmädchen Hertha] mit einer Boje im
       Schwimmbecken kämpft. „Sie ist jetzt schon zwei Jahre alt und spielt immer
       noch“, erzählt Knieriem und freut sich. Hertha und ihre Mutter Tonja würden
       gut fressen und viel schlafen, alles Anzeichen dafür, dass sie sich
       wohlfühlten. „Bei uns soll es den Tieren gutgehen. Wir wollen Bewunderung
       für sie wecken, kein Mitleid“, sagt er. „Mitleid brauchen die Wildtiere,
       die gerade ihren Lebensraum verlieren.“
       
       Hertha wird die Hauptstadt übrigens bald verlassen. Das länderübergreifende
       Erhaltungszuchtprogramm des europäischen Zooverbands EAZA wird die Bärin an
       einen anderen Zoo vermitteln, damit sie sich dort paart und Junge bekommt.
       Dann könnte auch Vater Wolodja nach Friedrichsfelde zurückkehren und mit
       Tonja für den nächsten Eisbärbabyhype sorgen.
       
       An die 300 Zoos sind im EAZA vernetzt, um bedrohte Tierarten zu züchten und
       Lebensräume zu schützen. Durch die Zusammenarbeit soll der Genpool besser
       durchmischt werden, mit mehr Forschung und ohne Wildfang, der seit den
       Siebzigerjahren durch das Washingtoner Artenschutzübereinkommen verboten
       ist, zumindest was Säugetiere angeht. Um die 150 Arten will die EAZA durch
       koordinierte Zucht gerade erhalten, geklappt hat das unter anderem bei
       Wisent, Säbelantilope, Löwenäffchen, Riesenotter, Sumpfschildkröte und
       Przewalski-Pferd.
       
       Klingt viel, ist aber ganz schön wenig, verglichen mit den geschätzten 100
       Tierarten, die jeden Tag aussterben. Vier Millionen Euro stecken die Zoos
       des Verbands der Zoologischen Gärten jährlich in Artenschutzprojekte,
       [3][weltweit sind es knapp 300 Millionen] – da ist Luft nach oben. „Lange
       Zeit hatten wir keinen finanziellen Spielraum über die Grenzen unserer
       Gehege hinaus“, sagt Andreas Knieriem. „Inzwischen investieren wir in
       deutlich mehr Artenschutzprojekte, aber wir brauchen Zeit.“ Mittlerweile
       beteilige sich sein Zoo zumindest an den Erhaltungsprogrammen bedrohter
       Tiere, die auch in Berlin gezeigt werden: Knapp 1.400 Arten mit insgesamt
       20.000 Tieren beherbergen Zoo und Tierpark zusammen, mehr als ein Drittel
       gilt als bedroht.
       
       In der freien Natur leben überhaupt nur noch 4 Prozent aller Säugetiere und
       ein Drittel aller Vögel, den Rest hält der Mensch im Stall, auf der Weide,
       zu Hause oder im Wald – und eben in den zoologischen Gärten. Wenn wir die
       Zoos abschaffen, retten wir nicht die Tiere, sondern höchstens unsere
       Moral.
       
       „Tierarten lassen sich nur noch bewahren, indem der Tierschutz eingreift“,
       sagt auch Zoodirektor Knieriem. Und das passiert bei wilden Tieren nun mal
       vorwiegend im Zoo. Jenseits davon haben sie meistens keinen Platz mehr, den
       braucht der Mensch für seine Städte, Felder und Müllhalden.
       
       So unromantisch es auch klingt: Ohne den Menschen wird sich die Tierwelt
       nicht mehr vom Menschen erholen.
       
       17 Oct 2020
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] http://zoos.media/zoo-fakten/wie-viele-zoos-gibt-es/
 (DIR) [2] /Leere-Zoos-in-Zeiten-von-Corona/!5671142&s=zoo+berlin+hertha/
 (DIR) [3] https://www.undekade-biologischevielfalt.de/undekade/media/231013042520_454475.pdf
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Philipp Brandstädter
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Lesestück Recherche und Reportage
 (DIR) Wildtiere
 (DIR) Zoo
 (DIR) Zoologie
 (DIR) Berliner Zoo
 (DIR) Tierschutz
 (DIR) Eisbären
 (DIR) Zoo
 (DIR) Primaten
 (DIR) Tierzucht
 (DIR) Arbeitskampf
 (DIR) Tier des Jahres
 (DIR) Aussterben
 (DIR) Schwerpunkt Coronavirus
 (DIR) Tiere
 (DIR) Berliner Zoo
 (DIR) Schwerpunkt Coronavirus
 (DIR) Schwerpunkt Coronavirus
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Zoodirektor über Umgang mit Tieren: „Töten zum Verfüttern ist legal“
       
       Der Zoo Leipzig hat vor Besuchern ein Zebra an Löwen verfüttert, daraufhin
       hagelte es Kritik. Die Empörung versteht der Nürnberger Zoodirektor Dag
       Encke nicht.
       
 (DIR) Eisbärhaltung in Berliner Zoos: „Die Anlagen sind veraltet“
       
       Im Zoo ist die letzte Eisbärin verstorben, TierrechtlerInnen fordern, keine
       neuen anzuschaffen. Zoodirektor Andreas Knieriem hält sich das noch offen.
       
 (DIR) Elefantenzucht im Zoo Hannover: Erstmal keine Babys mehr
       
       Der Zoo Hannover will sein Zuchtprogramm für Asiatische Elefanten
       aussetzen. Die Tierrechtsorganisation Peta begrüßt die Entscheidung.
       
 (DIR) Doku „Erlebnis Erde – Planet ohne Affen“: Miese Menschen
       
       Für die NDR-Doku „Erlebnis Erde – Planet ohne Affen“ begibt sich ein
       Rechercheteam auf die Spur illegaler Tierhändler. Zurück bleibt Empörung.
       
 (DIR) Zuchtprogramm bei Berlins Eisbären: Vertauscht nach Geburt
       
       Berlins Tierpark war so stolz auf das Eisbärbaby Hertha. Nun stellt sich
       heraus: Die Eltern waren Geschwister. Die Mutter war 2011 vertauscht
       worden.
       
 (DIR) Arbeitskampf bei Hagenbecks Tierpark: „Führung nach Gutsherrenart“
       
       Nach der Kündigung von neun MitarbeiterInnen will der neue Geschäftsführer
       nicht mit dem Betriebsrat verhandeln – und kündigt dem Betriebsratschef.
       
 (DIR) Tiere des Jahres und Artensterben: Schaut her, bitte!
       
       Die Biodiversitätskrise hält auch nach Corona an. Ein basisdemokratischer
       Wahlversuch beim Tier des Jahres tappte aber prompt in die Populismusfalle.
       
 (DIR) Sensationsfund im Regenwald: Mastodon und Megalama
       
       Im kolumbianischen Regenwald haben Archäologen Zeichnungen entdeckt. Dass
       auch ausgestorbene Tiere zu sehen sind, muss uns zu denken geben.
       
 (DIR) Coronamutation bei Nerzen: Ein Desaster und ein Skandal
       
       In Dänemark werden aus Angst vor einer Coronamutation 17 Millionen Nerze
       getötet. Skandalös ist nicht die Notschlachtung, sondern die Zucht an
       sich.
       
 (DIR) Tiere im Film: Der Wille zur Performance
       
       Elke Schwaiger trainiert Tiere für ihren Einsatz am Filmset. Auf ihrem Hof
       in Schleswig-Holstein wohnen kleine Stars – Allüren toleriert sie nicht.
       
 (DIR) Berlins Zoo öffnet jetzt auch abends: Da schauen die Erdmännchen
       
       Eigentlich haben die Tiere am Abend ihre Ruhe vor den Menschen. Doch um
       Einnahmen wieder zu steigern, öffnet der Zoo nun an zwei Tagen bis 21 Uhr.
       
 (DIR) Wildtiere und der Corona-Lockdown: Von Kojoten und Chaoten
       
       Angeblich sind wegen des Corona-Lockdowns mehr Wildtiere in Städten
       unterwegs. Expert:innen sind skeptisch und verweisen auf Fake News.
       
 (DIR) Corona und Naturschutz: Animal Distancing
       
       Bundesumweltministerin Schulze mahnt, aus der Pandemie zu lernen.
       Naturschutz brauche mehr Gewicht, weil viele Erreger aus der Wildnis
       kommen.