# taz.de -- Erinnnerung der Ostkultur: Ganz groß in Japan
       
       > Marko Martin legt mit „Die verdrängte Zeit“ ein überaus kenntnisreiches
       > und unterhaltsames Buch über die Kultur der DDR vor. Ohne Nostalgie und
       > Frust.
       
 (IMG) Bild: Die Band Alphaville, etwas in die Jahre gekommen, bei einem Konzert in Warschau am 22. Juni 2014
       
       Anonym senden zwei Jungen eine Postkarte an Radio 3 Bayern. Ihr Wunsch ist
       nicht ungewöhnlich, sie wollen nur eins: Alphaville hören. Big in Japan.
       Ganz big, damals. Gezeichnet ist die Postkarte mit „Die zwei aus Sachsen“,
       und tatsächlich wird der Bayern 3 Moderator den Song für die zwei aus
       Sachsen ankündigen.
       
       Sachsen ist damals Teil der DDR, das macht den Wunsch so heikel. [1][Und
       einer der beiden Jungen heißt Marko Martin.] Der hat jetzt ein Buch
       vorgelegt über die Kultur des Ostens, über all das, was seit den Jahren der
       Wiedervereinigung aus dem kulturellen Gedächtnis gelöscht wurde – über das
       auch, was vielleicht nie Teil des kulturellen Gedächtnisses werden konnte.
       
       „Die verdrängte Zeit“ heißt es, und unter all den Texten, die sich auch in
       diesem Jahr anlässlich der Einheitsfeierlichkeiten auf Zeitungsseiten und
       in den Buchkatalogen drängen, ist dieser die vielleicht größte Bereicherung
       der Debatte, weil er den Blick zurück ohne Bitterkeit wagt.
       
       Kultur, so eine Erkenntnis des Buches, wurde mit enormer Bedeutung
       aufgeladen – nicht zum Zwecke „bourgeoiser“ Selbstvergewisserung, sondern
       als mögliche Protestnische gegen das System. „Später, nach dem Ende der
       DDR, würde Musik nie wieder diese Bedeutung haben – und nie wieder derart
       befrachtet sein.“ So wird auch ein Radiowunsch zur kleinen Revolte.
       
       Martin liefert einen kenntnisreichen Parforceritt durch alle Kompartimente
       der Kultur des Ostens, durch Literatur, bildende Kunst und die Welt des
       Films, durch Hoch- und Popkulturelles, Staatstragendes und
       Nischenproduktion. Noch einmal einen unvoreingenommenen Blick auf die
       kulturelle Produktion der DDR zu werfen, auf jene Kulturleistungen, die
       nicht wegen, sondern trotz des Parteiregimes und seiner „strangulierende(n)
       Wirkung“ entstanden, das ist sein Ziel.
       
       Entscheidend sind dabei Modus und Tonfall des Textes: Nicht als
       (n)ostalgisches Schwelgen in DDR-Kultur kommt dieser Text daher, geht es
       doch in vielen Fällen gerade darum, das in Erinnerung zu rufen, was auch in
       der DDR kaum kulturelle Wirkung entfalten konnte, eben weil Texte, Filme
       oder Musik verboten wurden. Auch ist der Text keine bittere Anklage an den
       ignoranten Westen, wobei Martin natürlich analysiert, warum diese so
       beispielhafte Verdrängung von Kulturleistung nach 1989 eigentlich möglich
       war.
       
       ## Keine Schuldzuweisungen
       
       „Ideologisierte Abwehr, Ressentiments, Unkenntnis“ sei dafür
       verantwortlich, nicht struktureller Natur, aber doch als vorhandene
       „Unterströmung“ spürbar. Indiz für die immerhin wahrnehmbare Ignoranz sei
       die Rede von der „Blackbox DDR“. Zugleich lehnt Martin „Schuldzuweisungen
       und DDR-nostalgische Selbstexkulpierungen“ ab.
       
       Beispielhaft: die Diskussion um DDR-Kunst in Form des deutsch-deutschen
       Bilderstreits. Hätten [2][staatstragende Künstler wie Willi Sitte und
       Werner Tübke] nicht auch nach 1989 reüssieren können? Unangepasste wie
       Cornelia Schleime oder Roger Loewig dagegen seien bis heute wenig bekannt.
       Auch im Osten, muss man hinzufügen.
       
       Martin übrigens schreibt hinreißend spitz. Gallig der Kommentar zu Willi
       Sittes „Liebespaar im Badezimmer“, das aussehe, „als hätte Arno Breker beim
       Malen zu viel Rotkäppchensekt gekippt“.
       
       ## Ein bisschen sexistisch
       
       Schön erzählt ist das Beispiel einer gemütlichen Privatrunde, in der – mehr
       oder weniger kenntnisreich – über ostdeutsche Literatur vor 1989 gesprochen
       wird. Die Figur des „spitzelnden Wortejongleurs“ Hermann Kant wird zu
       „Hermann Cunt“, „worauf einer der nach 1990 Geborenen sagt, den Arm sanft
       um seine Freundin gelegt: ‚Sorry, aber das ist jetzt doch ein bisschen
       sexistisch.‘“
       
       Bei all dem hintergründigen Witz möchte man beinahe, beinahe aber nur!,
       darüber hinwegsehen, dass der Text einige kapitale (Tipp-)Fehler enthält,
       die dem Lektorat entgingen. Maler Hubertus Giebe wird zu „Hubert“ Giebe;
       Günter de Bruyn wird zu „der Bruyn“ vertippt. Egal, man liest mit Gewinn!
       
       21 Oct 2020
       
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