# taz.de -- Die US-Wahl in New York: Rufe in einer Nacht
       
       > Der Wahlabend in New York City, unterwegs mit antirassistischen
       > Initiativen. Deren Mitglieder hegen keine Illusionen.
       
 (IMG) Bild: Ein paar unerschrockene New Yorker verfolgen die ersten Ergebnisse am Times Square
       
       Die Stadt ist an diesem Abend wie ausgestorben. Die meisten New Yorker
       verbringen die Stunden nach der Präsidentschaftswahl zu Hause. Einerseits
       aus Furcht vor der Coronapandemie. Andererseits aus Furcht vor Gewalt. New
       York City ist eine Stadt, die traditionell demokratisch wählt. Aber ihre
       großen Polizeigewerkschaften haben sich hinter Donald Trump gestellt. Im
       zurückliegenden Sommer sind New Yorker Polizisten mehrfach brutal gegen
       friedliche Demonstranten vorgegangen. Vor dem Wahltag hat die Polizei
       Geschäftsleute in Manhattan aufgefordert, ihre Schaufenster vor einer
       möglichen Randale zu schützen. Für den Wahlabend und die Tage danach hat
       sie Szenarien entwickelt, wie die Innenstadt „einzufrieren“ sei.
       
       Am Vorabend der Wahl hat die Talkmeisterin Oprah Winfrey Geistliche aus
       Christentum, Judaismus und Islam zum Onlinegebet geladen. Bernie Sanders,
       der demokratische Sozialist, hat progressive Kandidat:innen aus allen
       Landesteilen um sich geschart, um – ebenfalls online – über die Erhöhung
       des Mindestlohns, die Klimapolitik und eine staatliche Krankenversicherung
       für alle zu diskutieren.
       
       Beide haben zur Wahl von Joe Biden aufgerufen. Am Morgen des Wahltags hat
       Joe Biden einen letzten Versuch unternommen, um die Wähler in Philadelphia
       zu gewinnen. Seine Vizekandidatin macht sich gleichzeitig zu einem weiteren
       Blitzbesuch nach Michigan auf.
       
       Aber weder die Gebete noch die Politik und auch nicht die Wahlkampfreisen
       scheinen ausgereicht zu haben, damit Biden gewinnt. Die blaue Welle der
       Demokratischen Partei schwappt nicht über das Land. Die Hoffnungen wie die
       Prognosen der Demoskopen bleiben unerfüllt. Donald Trump schneidet offenbar
       noch besser ab als vier Jahre zuvor.
       
       Die Aktivisten, die am Dienstagabend, zwei Stunden vor Schließung der
       Wahllokale in New York City, zusammenkommen, haben eine solche Möglichkeit
       nie ausgeschlossen.
       
       „Vor vier Jahren haben 60 Prozent der Mitglieder meiner Gewerkschaft für
       Trump gestimmt. Selbst in dieser demokratischen Stadt. Heute sind es immer
       noch 50 Prozent“, weiß Rebecca Lamorte. Sie hat Wahlkampf für Biden
       gemacht. Aber die 29-Jährige, die für die Bauarbeitergewerkschaft Liuna
       arbeitet, ist nicht sicher, ob der Kandidat es schaffen kann.
       
       Auch Saundrea Coleman, die früher in der Verwaltung der New Yorker Polizei
       gearbeitet hat, zweifelt. „Ich hoffe und bete für einen Wahlsieg von Biden
       und Harris“, sagt die 54-Jährige am Wahlabend, „aber der systemische
       Rassismus in unserem Land steckt tief.“
       
       ## Acht Minuten und 46 Sekunden Schweigen
       
       Die beiden Frauen sind die Organisatorinnen des täglichen Treffens im
       Carl-Schurz-Park. Seit Anfang Juni diesen Jahres kommen sie allabendlich
       mit Nachbarn von der Upper East Side in Manhattan zusammen, schweigen acht
       Minuten und 46 Sekunden lang und ziehen anschließend eine Runde über die
       East End Avenue und durch den Park am East River. Auf der Straße und in
       Hörweite der Residenz des New Yorker Bürgermeisters rufen sie den Namen von
       George Floyd, auf dessen Nacken ein weißer Polizist 8 Minuten und 46
       Sekunden lang gekniet hat, bevor er starb.
       
       In den zurückliegenden 154 Tagen haben die beiden Frauen ihr Treffen
       niemals ausfallen lassen, weder bei Rekordhitze noch bei Regen. An den
       besten Abenden hatten sie mehrere Tausend Teilnehmer, an anderen waren sie
       nur ein paar Dutzend.
       
       So wie 70 Prozent der Bewohner der teuren Wohngegend in den umliegenden
       Straßen und wie die überwiegende Mehrheit der Teilnehmer an der Aktion ist
       Lamorte weiß. „Wir dürfen nicht zu dem Rassismus schweigen“, sagt sie, „es
       ist eine Frage der menschlichen Würde.“
       
       Coleman ist an den meisten Abenden im Park die einzige Afroamerikanerin.
       „Wir haben 400 Jahre Sklaverei hinter uns. Wir sind weiterhin unterdrückt“,
       sagt sie: durch Polizeigewalt, Inhaftierungen und eine viel zu geringe
       Teilhabe am Wohlstand. Die beiden Frauen verlangen eine drastische Kürzung
       der Mittel für die Polizei, wollen sie entwaffnen und verlangen, dass die
       Unantastbarkeit für Polizisten endet. „Sie müssen zur Verantwortung gezogen
       werden“, sagt Coleman.
       
       „Warum ist Rassismus überhaupt ein Debattenthema?“ steht auf einem von
       Dutzenden handgemalten Schildern, die auch tagsüber in dem Park stehen
       bleiben. „Antifa bedeutet Antifaschismus“, auf einem anderen. Wenn ihre
       Schilder verschwinden, malen die Aktivisten neue.
       
       Die beiden Frauen sind keine einfachen Partner. Und sie wissen, dass sie
       einen langen Atem brauchen. Coleman hatte schon im Vorwahlkampf Sympathie
       für die designierte Vizepräsidentin der Demokraten, Kamala Harris,
       geäußert. Im Wahlkampfendspurt hat sie Dutzende Senioren zum Wahllokal
       begleitet. Alle Aktivisten, die am Wahlabend in den Carl-Schurz-Park
       gekommen sind, haben gewählt. Aber niemand von ihnen glaubt, dass Politiker
       den Rassismus erledigen werden. „Wir haben noch jede Menge Arbeit vor uns“,
       sagt Coleman.
       
       ## „Es gibt nichts zu feiern, falls Biden gewinnt“
       
       In Brooklyn, eine knappe Dreiviertelstunde mit der U-Bahn, haben mehrere
       Bürgerinitiativen am Wahlabend ein Zelt aufgeschlagen. Auf der Bühne lösen
       sich Stadtteilpolitiker und Rapmusiker ab. „Wir wissen nicht, was passieren
       wird“, sagt ein älterer Afroamerikaner am frühen Abend, Stunden bevor die
       ersten Ergebnisse bekannt werden, „aber bitte denkt auch an die Senioren.“
       Vor allem junge Leute haben sich in das Zelt getraut. Alle sind maskiert.
       Alle halten Abstand. Insgesamt sind es nicht mehr als ein paar Hundert.
       
       Anders als die meisten Teilnehmer des Wahlabends, die beständig auf ihre
       Handys starren, sind die beiden jungen Leute, die auf einer kalten
       Steinstufe am Rand des Zeltes sitzen, in ein Gespräch miteinander vertieft.
       Sie sind gekommen, weil sie die Organisatoren der Demonstrationen des
       zurückliegenden Sommers kennen. Aber die Wahlergebnisse, die ab acht Uhr
       allmählich eintrudeln, interessieren sie wenig.
       
       Wie alle im Zelt haben Amba und Thomas den Demokraten Joe Biden gewählt.
       Für sie war es das kleinere Übel. „Es gibt nichts zu feiern, falls Biden
       gewinnt“, sagt Amba klipp und klar. Für sie ist er „nur ein weiterer
       rassistischer und imperialistischer Politiker“. Thomas, der neben ihr sitzt
       und seinen richtigen Vornamen nicht nennen möchte, nickt. Auch er hat Biden
       gewählt. Seine Politik bezeichnet er als Wischiwaschi.
       
       Amba ist 24 und arbeitet als Journalistin über Einwanderung und soziale
       Bewegungen für Indymedia. Die erste Präsidentschaftswahl ihres Lebens war
       2016. Damals enthielt sie sich. Sie fand die Außenpolitik von Hillary
       Clinton „zu militaristisch“ und sie war zugleich sicher, dass diese ohnehin
       gewinnen würde. Als sich das als Irrtum erwies, hoffte sie, dass „die Leute
       unter einem Präsidenten Donald Trump aufwachen“. Rückblickend beschreibt
       sie beides als naiv.
       
       Im zurückliegenden Sommer, als der ebenfalls 24-jährige Thomas während der
       Pandemie vorübergehend seinen Job im Museum verlor, waren die beiden oft
       täglich zusammen bei antirassistischen Demonstrationen. Am Wahlabend
       stellen sie sich darauf ein, dass sie in den nächsten Tagen erneut viel
       demonstrieren werden.
       
       Thomas ist in Korea geboren und er ist transgender. Erst vor zwei Monaten
       hat er seinen Übergang begonnen. Als asiatischer Amerikaner und als
       Transgender-Person fühlt er sich im Visier von Trump, weil der es erlaubt,
       Menschen aus „religiösen“ Motiven zu feuern.
       
       Amba und Thomas beschreiben ihr bisheriges Leben als Serie von Katastrophen
       und apokalyptischen Ankündigungen. Bei den Anschlägen von 9/11 waren sie
       fünf Jahre alt. Dann folgten die Kriege in Afghanistan und im Irak, die bis
       heute nicht zu Ende sind. Und über allem lag die Sorge wegen des
       Klimawandels. Unter Trump kam noch schwere Polizeigewalt hinzu. „Ich habe
       keine Illusionen in die Politik“, sagt Amba. Aber beide sehen sich als
       „Idealisten“. Sie glauben nicht an Reformen. Sie wollen ein Land ohne
       Kapitalismus und mit einer Revolution, die auch die „Armen und
       Unterdrückten“ mitnimmt. Ihr Favorit als Präsidentschaftskandidat war
       Bernie Sanders.
       
       Im Vergleich zu den beiden jungen Revolutionärinnen ist die 52-jährige
       Jennifer eine Pragmatikerin. Sie arbeitet im Gesundheitsbereich und ist
       seit einem Vierteljahrhundert politisch aktiv. Aber wenn es um die Wahlen
       geht, sucht sie nicht nach dem progressivsten Kandidaten, sondern nach
       einem, der es schaffen könnte. „Wir brauchen jemanden, der zu den Massen
       spricht“, erklärt sie in dem weißen Zelt in Brooklyn. Für jemanden wie
       Sanders hält sie ihre Landsleute noch nicht bereit.
       
       Trumps Politik nennt Jennifer „faschistisch“. Aber über dessen Anhänger hat
       sie nuanciertere Ansichten. Jennifer glaubt, dass viele nicht verstehen,
       dass er ihre „Ignoranz“ ausnutzt. Der harte Kern von Trumps Anhängern ist
       für Jennifer so „frauenfeindlich, rassistisch und heuchlerisch“ wie er
       selbst. „Sie wollen eine weiße Nation“, sagt die weiße Frau, „wer nicht
       gesund und wohlhabend und weiß und auf ihre Art christlich ist, soll
       entweder das Land verlassen oder krepieren.“
       
       Weil sie am anderen Ende der Stadt in der Bronx wohnt, muss Jennifer das
       Zelt verlassen, bevor aussagekräftige Wahlergebnisse einlaufen. Aber sie
       glaubt schon lange zu wissen, dass Trump gewinnen kann. Und sie hat sich
       einen Reim darauf gemacht, was das für Aktivistinnen wie sie bedeutet: „Wir
       müssen mehr Arbeit erledigen.“
       
       Chris Townsend ist der Organizing Director der Transportgewerkschaft ATU.
       Unabhängig davon, ob Biden oder Trump gewinnt, rechnet er mit einer „großen
       Abrechnung“. Den Demokraten wirft er vor, dass sie ihre Zeit damit
       verbracht haben, den Kandidaten Sanders zu zerstören. „Das haben sie
       geschafft“, stellt Townsend fest. Die Biden-Kampagne fand er inhaltsleer.
       „Die Seele Amerikas“, spottet er, „was soll das sein, wenn die Hälfte des
       Landes verarmt ist und wenn Zigmillionen mit der Räumung aus ihren Häusern
       rechnen müssen.“
       
       Am Sonntag vor dem Wahltag hat das alteingesessene afroamerikanische Blatt
       in Harlem, Amsterdam News, ein gigantisches knallrotes Transparent vor
       seiner Fassade entrollt. Über die volle Breite des Gebäudes und auf beinahe
       drei Etagen Höhe sind darauf in riesigen weißen Lettern fünf Worte zu
       lesen. „Enough!!! Dump Trump – Vote 2020.“ (Genug!!! Schmeißt Trump raus.
       Wählt 2020). Der Name des demokratischen Präsidentschaftskandidaten kommt
       auch darauf nicht vor.
       
       Aber die Aufforderung zur Wahl haben die New Yorker beherzigt. Mehr als
       eine Million von ihnen haben schon vor dem Wochenende ihre Stimme
       abgegeben. Oft haben sie dafür drei, vier Stunden warten müssen. Am Wahltag
       führt das dazu, dass die Wahllokale quer durch die Stadt nicht leer, aber
       doch überschaubar gefüllt wirken. Nur am frühen Morgen warten manchmal 10
       oder 15 Personen am Eingang.
       
       „Heute sind nur noch Nachzügler gekommen“, sagt eine Wahlhelferin an der
       öffentlichen Schule 175 in Harlem am Dienstag. Sie hat so viel freie Zeit,
       dass sie jedem Wähler ausführlich den Weg zur Turnhalle erklären kann, wo
       mehrere Dutzend tragbare Wahlpulte und die Scanner stehen, in die Wähler
       ihre großen Stimmzettel füttern müssen.
       
       In der Nacht zum Mittwoch wird das Wahlergebnis für New York City bekannt
       gegeben. In Brooklyn kommt Joe Biden auf 74,1, in Manhattan auf stolze 84,4
       Prozent, im ganzen Staat New York sind es 58,2 Prozent. Biden hat damit
       alle 29 Wahlmänner und -frauen für sich gewonnen, so wie es erwartet worden
       war.
       
       Aber wird das reichen?
       
       4 Nov 2020
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Dorothea Hahn
       
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