# taz.de -- Nachruf auf taz-Autor Klaus Hartung: Mit Wortgewalt und Denklust
       
       > Wie kein anderer begleitete Klaus Hartung das rotgrüne Berlin und die
       > Epochenwende des Mauerfalls. Er starb am Wochenende im Alter von 80
       > Jahren.
       
 (IMG) Bild: Einer mit Durchblick: Klaus Hartung mit Zigarette circa 1988
       
       BERLIN taz | Das letzte Treffen im Kreuzberger Restaurant Z verlief
       eigentlich wie immer. Einmal quer durch die Aktualität mit Trump, AfD,
       Merkel und Co, um mit kurzen pointierten Sätzen die politischen Koordinaten
       zu vermessen. Klaus Hartung wirkte entspannt, sah seinem 80. Geburtstag
       gelassen entgegen. Aber er war schlecht zu Fuß, gebeugt und gebrechlich.
       
       Er erzählte, dass das Schreiben nicht mehr so gut funktioniere. Ein
       Geständnis, das seine Zuhörer mehr schmerzte als ihn selbst. Denn Hartungs
       Stimme war vor allem das geschriebene Wort, mit dem er zuerst in der taz
       und später in der Zeit über mehr als zwei Jahrzehnte lang als Kommentator
       und Essayist die politische Debatte bereicherte. In unnachahmlicher Manier,
       wortgewaltig und mit fast bestürzender Leidenschaft. Bis heute hat kein
       anderer in der taz mit solcher Regelmäßigkeit und Intensität kommentiert.
       
       Klaus Hartung kam aus dem Erzgebirge, wo er bis 1955 in der Kleinstadt
       Olbernhau lebte, „in der DDR“, wie er in seiner autobiografischen Notiz
       stets hinzufügte. Im Jahr 1955 siedelte die Familie in die Bundesrepublik
       über, gekoppelt mit der strikten Aufforderung an Sohn Klaus und Tochter
       Heidi, ab sofort den sächsischen Dialekt zu unterdrücken. Abitur in Hagen,
       Studium in Bonn und ab 1963 in Berlin. Klaus Hartung studierte „alles“:
       Germanistik, Philosophie, Religionswissenschaften, natürlich auch Politik,
       Soziologie und zur Verblüffung aller sogar Sport; sein Interessengebiet war
       universal, breit wie ein Flugzeugträger – und wurde mit den Jahren immer
       noch breiter.
       
       Dann kam 68, und 68 das war natürlich 67, genauer: der 2. Juni 1967, die
       Nacht des Polizeiangriffs auf die protestierenden Studenten vor der
       Deutschen Oper, wo der Schah von Persien der „Zauberflöte“ lauschte. Der
       Mord an Benno Ohnesorg, die Befehlsketten von Altnazis in der Polizei, die
       den Mörder in Sicherheit brachten, dazu der Operateur im Krankenhaus
       Moabit, der die Einschussränder verschwinden ließ, die Lüge von stumpfer
       Gewalt und das totale Demonstrationsverbot.
       
       Der Staatsapparat habe damit den Schleier der Demokratie weggerissen,
       schrieb Hartung später: „Der 2. Juni 1967 markierte den Beginn einer bis
       heute geführten Debatte über Gegenöffentlichkeit, über die Medien, über
       Wahrheit und Lüge, oder, wie man heute formulieren würde, über Fake News,
       über Verschwörungstheorien, über die Wahrheit und die Deutungshoheit
       gesellschaftlicher Entwicklungen.“
       
       Ende 1969 zerriss die Protestbewegung. Die einen gingen in den Untergrund,
       die anderen schlossen sich den dogmatischen Kaderparteien der
       Marxisten-Leninisten an. Klaus Hartung widerstand beidem. Er erkannte, dass
       „die entlarvte Demokratie sich auch demokratisierte. Der entlarvte
       ‚faschistoide‘ Obrigkeitsstaat triumphierte nicht, sondern begann dem
       Rechtsstaat zu weichen“.
       
       Es sei seine große Leistung gewesen, dem bewaffneten Kampf zu widerstehen
       und stattdessen im „lebenslangen Ringen“ den Weg zurück in die Arme der
       Gesellschaft zu suchen, sagt sein langjähriger politischer Weggefährte Udo
       Knapp. Doch zunächst schlug Klaus Hartung, der zusammen mit seiner ersten
       Ehefrau Dagmar für die Rote Hilfe und andere 68er-Institutionen gearbeitet
       hatte, einen ganz anderen Weg ein.
       
       Er ging nach Triest, arbeitete dort mit dem Psychiater Franco Basaglia
       zusammen, der die alten Irrenanstalten auflöste. Und Hartung kaufte mit
       seinen Patienten „schöne blaue Anzüge“ und fuhr sie im Auto spazieren, wie
       er stolz berichtete. „Die neuen Kleider der Psychiatrie“ hieß sein Buch
       über die radikale Psychiatrie- und Gesellschaftskritik Basaglias, mit dem
       Hartung einen wichtigen Impuls in der deutschen Psychiatriedebatte setzte.
       
       ## Doppelte Kommentarlänge: selbstverständlich
       
       Im Jahr 1980 kehrte er zurück nach Deutschland. Natürlich reizte ihn die
       taz, wo er sich ganz selbstverständlich an den langen Redaktionstisch
       setzte, jenes Möbelstück, das aus der Kommune K 1 stammte, die wiederum zu
       Hartungs Biografie gehörte. Vom ersten Tag an schrieb er lange
       Magazinseiten voll mit Reflexionen über die Traumata der
       Nachfolgegenerationen der KZ-Opfer, über das Erzgebirge oder über Männer,
       die vom Zigarettenholen nicht nach Hause kommen, und natürlich über die
       aktuelle Politik der Regierung Kohl, über den Richtungsstreit bei den
       Grünen.
       
       Mit der Ära Walter Momper stieg Hartung zum wichtigsten Kommentator und
       Begleiter von Rotgrün auf. Er bläute der taz-Leserschaft ein, dass die
       Grünen „keine besseren Menschen“ seien, und legte doch die grüne Messlatte
       ziemlich hoch. Ganz selbstverständlich bekam er von der Redaktion die
       doppelte Kommentarlänge zugestanden, um selbstbewusst und angriffslustig,
       aber nicht polemisierend, die rot-grünen und grüninternen Beißkrämpfe mit
       klinischer Präzision zu sezieren.
       
       Höhepunkt seines journalistischen Lebens war die Epochenwende 1989. Sein
       Datum war nicht der „amtliche Mauerfall“ des 9., sondern der weithin
       ignorierte Mauerfall am 3. November. Hartung saß kettenrauchend im
       Inlandressort und erklärte uns, dass der Eiserne Vorhang soeben
       verschwunden sei. Mit dem visumfreien Verkehr von der DDR in die ČSSR und
       der Aufhebung der Visumpflicht für DDR-Bürger für den Grenzübertritt von
       der ČSSR nach Bayern am 3. November war der Weg in die Freiheit offen.
       
       Hartung schrieb: „Man stelle sich vor, ein Traum geht in Erfüllung, und
       keiner merkt es so richtig: Die Mauer ist gefallen. Seit Freitagnacht kann
       sich ein DDR-Bürger aus Karl-Marx-Stadt in seinen Trabi setzen und nach
       München fahren. Einen Personalausweis und Sprit – mehr braucht er nicht.
       Seit Freitagnacht wird nur noch Mauer gespielt, mit Beton, Stacheldraht,
       Flutlicht und Patrouille.“
       
       Hartungs Klarblick wurde erst viele Jahre später von dem Historiker August
       Heinrich Winkler gewürdigt, der ihm bescheinigte, als „einer der wenigen“
       die Bedeutung der Grenzmaßnahmen erkannt zu haben.
       
       ## Chronist der Einigung
       
       Es folgten die historischen Tage und Wochen [1][im Blitzlichtgewitter von
       Neunzehnhundertneunundachtzig], in denen Hartung fast täglich kommentierte.
       Kernsatz: „Die deutsche Einheit hat die Vordenker überrollt und das
       Nachdenken zum Hinterherdenken gemacht.“ Er war der herausragende deutsche
       Chronist des Einigungsprozesses. Der Kritik der Linken an dem rasenden
       Tempo, mit dem sich die DDR wie die sprichwörtliche Brausetablette
       auflöste, hielt er entgegen, dass den Kritikern „das Gefühl für den
       Zeitdruck derjenigen Menschen fehlt, die glauben, 40 Jahre ihres Lebens
       verloren zu haben.“
       
       Im Jahr 1991 holte ihn die Zeit. Die Hoffnung, dass sein Einfluss damit
       noch wachsen könnte, erfüllte sich nicht. Klaus Hartung musste als
       Berlinkorrespondent viel Schwarzbrot backen, die Tortenstücke der großen
       analytischen Strecken in der Wochenzeitung waren meist den ehemaligen, den
       amtlichen und zukünftigen Chefredakteuren und Herausgebern reserviert.
       
       Dennoch wartete ein begeisterter Leserinnenstamm jeden Donnerstag auf neuen
       Stoff und fand ihn vor allem in Reportagen und Essays, die er für das
       Zeit-Feuilleton schrieb. Sein riesiger Freundeskreis traf sich regelmäßig
       zu großen Geburtstagsfeiern, die er mit seiner Frau Anita im Bergmannkiez
       organisierte, nach 1990 auch mit den ostdeutschen FreundInnen Eva und Jens
       Reich, Marianne Birthler, Monika Maron und vielen anderen. Klaus Hartung
       war auch Genießer mit großer Freude am Essen, am Lesen und Rauchen.
       
       Im Jahr 2005 die Pensionierung und der schmerzhafte Abschied vom
       Journalismus. Hartung konzentrierte sich in den nächsten Jahren mit vollem
       Ehrgeiz auf die Malerei, heimste Kunstpreise ein, stellte aus. Er hatte
       sein ganzes Leben lang gemalt – nebenher, vor allem italienische Motive.
       
       ## Smalltalk: nie seine Sache
       
       Jetzt malte er im eigenen Atelier mit derselben Ernsthaftigkeit, mit der er
       jedes Gespräch führte und jeden Artikel schrieb. Man konnte ihn dort
       zwischen überfüllten Aschenbechern und unzähligen Bildern besuchen und mit
       ihm reden. Smalltalk war nie seine Sache. Klaus Hartung blieb immer der
       kämpferisch-kritische Citoyen, der „den kritischen Diskurs“ suchte und
       liebte. Der die Formulierkunst und Denklust hochhielt. Der gern in Thesen
       sprach mit immer neuen Gedanken, und der oft schon zur Begrüßung ein Thema
       mitbrachte: „Hast du gehört, was Merkel, Habeck, Putin, Trump gestern …?“
       
       Die Gedankenflüge waren überraschend. Er konnte einem umstandslos den
       Erfolg der italienischen Fußballnationalmannschaft als Folge der
       Turbulenzen der italienischen Geschichte herleiten. Genauso
       selbstverständlich erklärte er seiner Ehefrau Anita und den Töchtern mit
       enzyklopädischem Wissen Architektur und Geschichte großer Bauwerke in den
       Metropolen der Welt.
       
       Zuletzt, als die Malerei stockte, blieb sein Engagement für die
       Rekonstruktion der Mitte und den Bau des Stadtschlosses. Und die Rolle des
       begeisterten, überaus stolzen Großvaters und Familienvaters. Seinen 80.
       Geburtstag hat er noch erlebt. Auch seine drei Töchter durften ihn trotz
       [2][Coronakrise] noch wenigstens einmal im Pflegeheim besuchen. Am
       Wochenende starb Klaus Hartung an den Folgen eines schweren Sturzes.
       
       29 Dec 2020
       
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