# taz.de -- Wiederaufbau der Bornplatzsynagoge: Moralischer Leuchtturm
       
       > Was die Diskussion um den Neubau der großen Hamburger Synagoge mit der
       > Abwehr von Antisemitismus zu tun hat.
       
 (IMG) Bild: Wo einst die Synagoge stand: Gedenken zur Pogromnacht am Joseph-Carlebach-Platz in Hamburg
       
       Seit einiger Zeit wird nicht nur in Hamburg, sondern landesweit über das
       Vorhaben gestritten, in Hamburg die von den Nazis zerstörte Synagoge am
       früheren Bornplatz zu rekonstruieren. Eine große Koalition von SPD, Grünen
       und CDU hat dafür überraschend kurzfristig 65 Millionen Euro beschafft.
       Unterstützt durch eine PR-Offensive „Nein zu Antisemitismus – JA zur
       Bornplatzsynagoge“, eine Abstimmung, eine Plakataktion und die Bild soll
       der Wiederaufbau durchgesetzt werden.
       
       Doch inzwischen haben sich Holocaust-Überlebende wie Esther Bejarano und
       Peggy Parnass, jüdische Wissenschaftler*innen wie Moshe Zimmerman und
       Miriam Rürup und zahlreiche nichtjüdische Stimmen kritisch und ablehnend
       gegen die Pläne geäußert und fordern einen offenen und öffentlichen Dialog.
       Der aber wird zunehmend aggressiv verweigert. So lässt Bild den
       konservativen Rabbi der Gemeinde schimpfen: „Wir lassen uns den
       Wiederaufbau nicht verbieten!“ Und für den Hamburger CDU-Politiker Carsten
       Ovens sind die Kritiker*innen nichts als eine Gruppe von
       „Intellektuellen“, die „nicht ganz koscher sind“.
       
       Gegen diese Klima-Vergiftung und eine fast schon populistische Kampagne
       sollen im Folgenden sechs Gründe für einen kritischen Blick auf die
       Initiative zur Diskussion gestellt werden.
       
       ## 1. Ja zum Neubau einer Synagoge und eines jüdischen Kulturzentrums und
       dessen Mitfinanzierung durch den Staat 
       
       Dass die jüdische Einheitsgemeinde in Hamburg eine neue Synagoge (auch die
       geplante Rekonstruktion wäre ein Neubau) bauen will, ist nicht nur
       einsichtig, sondern erfreulich, zeigt es doch die Hoffnung auf eine
       unangefochtene Zukunft in dieser Stadt. Dass dieses Vorhaben von
       staatlicher Seite zu großen Teilen mitfinanziert wird, sollte aus zwei
       Gründen selbstverständlich sein. Zum einen schulden die Hamburger ihren
       jüdischen Bürger*innen nach den Zerstörungen in der Nazizeit den Neu-
       oder Wiederaufbau ihrer religiösen und kulturellen Zentren.
       
       Zum anderen ist die finanzielle Beteiligung am Erhalt kulturell und
       architektonisch bedeutsamer Gebäude eine öffentliche Aufgabe und muss
       staatlich abgesichert werden. So wurde und wird auch der Erhalt
       christlicher Kirchengebäude mit erheblichen staatlichen Zuwendungen
       unterstützt, allein für die Renovierung der Hauptkirche St. Jakobi in der
       Hamburger Innenstadt stehen [1][40,8 Millionen Euro bereit]. Und es stehen
       auch Entscheidungen darüber an, wie islamische Glaubensgemeinschaften, die
       sich von finanzieller und damit auch ideologischer Abhängigkeit vom Iran
       und von der Türkei freihalten und darum in Garagen oder Lagerhallen, also
       weitgehender Unsichtbarkeit beheimatet sind, darin unterstützt werden
       können, würdige Orte ihrer Religionsausübung zu erhalten.
       
       Aus diesen beiden Gründen steht die Stadt Hamburg in der Mitverantwortung
       für den Bau oder den Erhalt von jüdischen Zentren in Hamburg, und es ist zu
       begrüßen, dass sie diese Verantwortung wahrnehmen möchte.
       
       ## 2. Ja zum Fortbestand und zur Weiterentwicklung des Erinnerungsortes am
       Joseph-Carlebach-Platz 
       
       Die Argumente für den Neubau der Synagoge am Platz der alten, von den
       Hamburger Nazis zerstörten Synagoge sind bekannt und nicht von der Hand zu
       weisen. Es soll demonstrativ gezeigt werden, dass es wieder jüdische
       Traditionen und jüdisches Leben in Hamburg gibt. Doch genau da wird es
       problematisch: Die Bedeutung und Wirksamkeit des religiösen Lebens in einer
       Synagoge (einer Kirche, einer Moschee) hängt nicht von deren Lage ab. Es
       geht bei der Entscheidung für den Joseph-Carlebach-Platz also vor allem um
       eine symbolische Demonstration. Doch dieses Symbol hätte einen hohen
       erinnerungskulturellen Preis.
       
       1988, zum 50. Jahrestag der Zerstörung der Bornplatzsynagoge, wurde deren
       ehemalige Fläche mit einem Kunstwerk von Margrit Kahl als Erinnerungsort
       gestaltet und wird seitdem auf unterschiedliche Weise auch von der
       Jüdischen Gemeinde und anderen Initiativen dafür genutzt. Ein Jahr später
       wurde die Fläche in Erinnerung an den letzten Rabbiner der Synagoge [2][in
       Joseph-Carlebach-Platz umbenannt]. Zum Erinnerungsort gehört auch der von
       den Nazis erbaute Bunker, der aber noch von der Universität genutzt wird.
       
       Der Carlebach-Platz ist der einzige Ort in Hamburg, der auf sichtbare Weise
       an die Pogromnacht und den mit ihr vorbereiteten Zivilisationsbruch des
       Holocaust erinnert. Seine Herstellung verdankt sich – typisch für Hamburgs
       Erinnerungskultur – nicht den oder einigen Parteien der Bürgerschaft, also
       staatlicher Initiative, sondern dem Engagement vor allem studentischer
       Gruppen.
       
       Die Gestaltung und Bedeutung dieses Erinnerungsortes am
       Joseph-Carlebach-Platz ist ausführlich und sorgfältig dargestellt in einem
       Votum mehrerer Hamburger Bürger*innen, darunter Ursula Büttner, Gert Kähler
       und Moshe Zimmermann. Die Tatsache, dass das Mahnmal im Alltag oft
       übersehen wird, spricht nicht für dessen Verschwinden, sondern ganz im
       Gegenteil für seine seit Langem versäumte Weiterentwicklung.
       
       Zu diskutieren wäre in diesem Zusammenhang, ob nicht der Bunker zu einem
       Dokumentationsort für die Pogromnacht 1938 gestaltet werden könnte, wobei
       auch die verantwortlichen und beteiligten Hamburger Täter*innen nam- und
       sichtbar gemacht werden müssten. Noch immer erscheinen die Verantwortlichen
       für Pogrom und Holocaust als eine fremde böse Macht, die über das gute
       Hamburg hergefallen wäre.
       
       Dass dem nicht so war, sondern dass und wie sich die „gutbürgerlichen“
       Nachbarn am Pogrom und den späteren Deportationen im Grindelviertel und in
       der Universität bereicherten und beteiligten, könnte eindrucksvoll im
       Bunker dokumentiert werden. Ebenso die wenigen, aber darum wichtigen
       Beispiele gelebter Solidarität mit den verfolgten jüdischen
       Nachbar*innen und Kolleg*innen. Die Frage, warum sich die gute
       Nachbarschaft mit den Menschen anderer Religionen und Kulturen als brüchig
       erwiesen hat, verstört und ist gerade darum aktuell.
       
       Die mögliche Zerstörung des Gedenkortes am Joseph-Carlebach-Platz – und
       nichts anderes würde seine Überbauung bedeuten – wäre ein alarmierender
       Rückschritt. Denn dann bliebe im Zentrum der Stadt als sichtbarer
       Dokumentationsort für Judenverfolgung, Schoah und Krieg nur noch das
       Mahnmal St. Nikolai. Das allerdings erinnert monumental und eindrücklich
       vor allem an die im Feuersturm getöteten Hamburger und Hamburgerinnen und
       die Zerstörungen großer Teile der Stadt.
       
       Hier hat man sinnvollerweise nach dem Krieg auf eine Rekonstruktion der
       durch die britischen Bombenangriffe fast völlig zerstörten Kirche
       verzichtet und stattdessen die Reste und vor allem den weithin sichtbaren
       Turm als Mahnmal gestaltet mit einer inzwischen historisch aufgeklärten
       Dokumentation. Das Mahnmal wurde übrigens auch mit Millionensummen
       restauriert. Soll es zukünftig für die deportierten und ermordeten
       Hamburger Juden und Jüdinnen, Sinti und Roma und anderer von den Nazis
       verfolgter Gruppen nur noch die kleinen Stolpersteine geben?
       
       ## 3. Eine Rekonstruktion der Synagoge am alten Platz macht Eindruck – und
       täuscht doch 
       
       Der Neuaufbau der großen Synagoge von 1906 am alten Platz würde das
       Grindelviertel wieder im alten Glanz erstrahlen lassen, also so, als ob es
       die Zerstörung jüdischen Lebens nicht gegeben hätte. Alles soll so schön
       sein wie früher. Darum wird auch in den jüdischen Gemeinschaften und unter
       den nicht religiös verorteten jüdischen Bürgerinnen und Bürgern in Hamburg
       über die Absichten und die Wirkung einer Rekonstruktion gestritten. Auf
       denkwürdige Weise einhellig haben sich dagegen die Regierungsparteien SPD
       und Grüne festgelegt.
       
       Unabhängig von der Debatte um die Bornplatzsynagoge gibt es schon seit
       Längerem deutschlandweit heftige Kontroversen um die Rekonstruktionen
       bedeutender historischer Gebäude wie des Stadtschlosses in Berlin und der
       Garnisonskirche in Potsdam. Auch wenn sie im Hintergrund eine Rolle
       spielen, sollten sie die Hamburger Debatte nicht belasten. Doch Daniel
       Sheffer, Initiator und Sprecher der Hamburger Initiative für die
       Bornplatzsynagoge, hat sich hier [3][festgelegt]: „Was die Dresdner
       Frauenkirche für Deutschland wurde, dass kann auch die Bornplatzsynagoge
       für dieses Land sein. Ein Ort, der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft
       vereint.“
       
       Diese Referenz ist bedenklich. Denn die Dresdener Frauenkirche war in der
       Nazizeit nach Vertreibung des Nazi-kritischen Pastors und Superintendenten
       Hugo Hahn seit 1937 Ort faschistischer und antisemitischer „Verkündigung“,
       während in der Pogromnacht 1939 die nahe gelegene Synagoge zerstört wurde.
       Die Erinnerung an diese antijüdische Bedeutung der Kirche im Zentrum
       Dresdens wurde mit der 2005 abgeschlossenen [4][Rekonstruktion] einfach
       überbaut und findet sich rudimentär nur im Kellergewölbe.
       
       Diese Täuschung, als habe es die Nazi-Herrschaft nicht gegeben und als
       könne man wieder an die Zeiten davor anknüpfen, macht verständlich, dass
       die neue alte Frauenkirche nicht nur als Ort für Friedensgebete dient,
       sondern auch den Pegidas und anderen Nazi-affinen Gruppen als Hintergrund
       für ihre Aufmärsche. Was also macht die Dresdner Rekonstruktion zum Vorbild
       für die Hamburger Synagogen-Rekonstruktion? Warum orientiert sich die
       Bornplatz-Initiative nicht eher an der Entscheidung der jüdischen Gemeinde
       in Dresden, statt einer Rekonstruktion ihrer zerstörten Synagoge eine neue
       zu errichten, so wie es unter anderem auch in Mainz und Konstanz
       entschieden wurde?
       
       In diesem Zusammenhang könnte auch die evangelische Kirche in Hamburg sehr
       praktisch unterstützend tätig werden, indem sie in ihre Überlegungen über
       die Zukunft ihres eigenen Immobilienbestands die Suche nach einem
       repräsentativen Standort für eine Synagoge verbindlich einbezieht. Eine
       solche Umwandlung wäre zwar außergewöhnlich, aber nicht ungewöhnlich. Es
       gibt schon beachtliche [5][Beispiele] in Speyer, Köln, Bielefeld und
       Cottbus.
       
       ## 4. „Wir brauchen euch“– die Motive der Unterstützer für die
       Bornplatzsynagoge sind fragwürdig 
       
       Selten war es so einfach, seine Unterstützung für jüdische Gemeinschaften
       und jüdisches Leben zum Ausdruck zu bringen. Auf der Website der
       [6][Kampagne] genügt ein Klick bei „Drück hier für die Bornplatzsynagoge“.
       Einige Dutzend Politiker*innen, vor allem der Grünen und der SPD,
       Unternehmer*innen, Repräsentant*innen von Sport, Kirchen und
       öffentlichen Einrichtungen werben für diesen Klick. Die Begründungen sind
       kurz und allgemein und könnten für jedes Projekt stehen, dass irgendwie mit
       jüdischem Leben zu tun hat.
       
       Zu den prominenten Unterzeichnern gehört auch der Musiker Campino,
       Frontmann der „Toten Hosen“: „Jüdisches Leben ist ein wichtiger Bestandteil
       unserer Gesellschaft. Ohne die jüdischen Gemeinden wäre Deutschland nicht
       komplett. Wir brauchen euch!“ Dieses Argument offenbart ein wesentliches
       Motiv der gut gemeinten Unterstützung der Kampagne. Wir (?) brauchen euch,
       damit Deutschland wieder „komplett“ ist. Die jüdischen Gemeinschaften, die
       Jüdinnen und Juden werden gebraucht und benutzt für das deutsche
       Integrations- und Gedächtnistheater, wie es unter anderem von dem jüdischen
       Dichter und Autor Max Czollek [7][analysiert und attackiert wird].
       
       Noch direkter als Campino begründet die grüne Bürgerschaftsabgeordnete
       Filiz Demirel – ausgerechnet am 9. November 2020 – [8][ihr Eintreten für
       die Bornplatzsynagoge]: „Seit Jahrhunderten gehört das jüdische Leben
       untrennbar zu unserer Gesellschaft. Es ist wichtig, dass wir darüber nicht
       nur im Kontext von antisemitischen Anschlägen oder Vorfällen sprechen,
       sondern auch endlich in einem ausschließlich positiven Kontext.“
       
       Untrennbar seit Jahrhunderten? Die grüne Abgeordnete weiß natürlich um
       Auschwitz und den Versuch, das jüdische Leben vollkommen aus der deutschen
       Gesellschaft herauszutrennen und in ganz Europa zu vernichten. Muss sie das
       verdrängen, um über jüdisches Leben „endlich (!) in einem ausschließlich(!)
       positiven Kontext“ sprechen zu können? Schluss mit dem Schuldkomplex, dazu
       soll der Wiederaufbau der alten Synagoge am alten Platz den
       versöhnungsbedürftigen Hamburgern helfen.
       
       Ganz in diesem Sinn äußerte sich auch der Hamburger
       CDU-Bundestagsabgeordnete Christoph de Vries mit einer Attacke gegen die
       Kritikerinnen und Kritiker der Bornplatzsynagogen-Planung. Er unterstellt
       diesen, „der Jüdischen Gemeinde öffentlich Vorgaben zu machen … und die
       Deutungshoheit über die Wirkung eines historisierenden Bauwerks für sich in
       Anspruch zu nehmen“, und rät laut [9][Hamburger Abendblatt] „dringend zu
       etwas mehr Sensibilität und Zurückhaltung“.
       
       De Vries, der auch als „Berichterstatter der CDU/CSU-Bundestagsfraktion für
       jüdisches Leben“ fungiert, offenbart damit nicht nur seine Verachtung für
       und kontroverse öffentliche Debatten, sondern auch für die jüdischen
       Kritikerinnen des Bornplatz-Vorhabens wie Esther Bejarano, Miriam Rürup,
       Peggy Parnass und Moshe Zimmermann. Auf deren Argumente geht der
       CDU-Repräsentant nicht ein, denn ihm geht es um Größeres: Er sieht in der
       neuen alten Synagoge „so etwas wie eine moralische Elbphilharmonie … für
       Hamburg“, also so etwas wie einen weithin sichtbaren Leuchtturm für
       Hamburgs großartige moralische Leistung. Die sichtbare Erinnerung an
       Pogromnacht und Hamburgs moralisches Versagen würde bei dieser
       Selbstinszenierung nur stören.
       
       Ob die Jüdische Einheitsgemeinde sich von einem solchen Politiker gut
       unterstützt sieht, wird sie selbst entscheiden. Aber die jüdischen
       Bürgerinnen und Bürger, und ebenso die nichtjüdischen, werden sich noch
       daran erinnern, dass sich gegen ihren Widerspruch die CDU wortstark daran
       beteiligte, dem Judenhasser Martin Luther und seiner Reformation mit dem
       31. Oktober einen eigenen Feiertag zu widmen.
       
       Diese und weitere Voten für die Wiederherstellung eines Zustands, als habe
       es die Pogromnacht nicht gegeben, zeigen, dass für viele Unterstützer mit
       dem handfesten Bau auch eine seelentröstende „Normalität“ erzeugt werden
       soll. Das dürfte vermutlich nicht im Interesse der Bornplatz-Initiative und
       der jüdischen Gemeinschaften liegen, die tagtäglich damit leben müssen,
       dass es hinter dem Schutz von Zäunen und Polizei und der zunehmenden
       Bedrohung durch antisemitische Attacken keine Normalität für jüdisches
       Leben gibt.
       
       ## 5. „Findige Haushälter“? Nicht die Höhe, aber die Quelle der
       Finanzierung sollte geändert werden 
       
       Noch einmal: Die staatliche Mitfinanzierung einer Synagoge und eines
       Gemeindezentrums sollte selbstverständlich sein und aus solchen Berliner
       oder Hamburger Etats gefördert werden, die auch für die Sanierung von
       Kirchen und anderen kulturellen Einrichtungen vorgesehen sind. Doch eben
       das geschieht nicht. Stattdessen werden die 65 Millionen Euro
       Bundeszuschuss für die Bornplatzsynagoge aus einem Sonderfonds zur
       „Bekämpfung von Rechtsextremismus und Rassismus sowie zur Stärkung des
       interreligiösen Dialogs“ [10][bereitgestellt].
       
       Diese Lösung haben, wie das Abendblatt fast nebenbei berichtete, „findige
       Haushälter und das parteiübergreifende Netzwerk Hamburger Politiker in
       Berlin … gefunden und möglich gemacht“. Neben Rüdiger Kruse (CDU) war vor
       allem Johannes Kahrs (SPD) beteiligt, der auch gleich das Ziel vorgegeben
       hat: „Mir ist wichtig, dass, wenn die Synagoge wiederaufgebaut wird, die
       Außenhülle originalgetreu rekonstruiert wird.“ Auch Olaf Scholz hat nach
       Informationen des Abendblatts als Finanzminister dazu [11][beigetragen].
       
       Doch wenn von 150 Millionen Euro Sondermitteln gleich 65 Millionen für den
       Synagogenbau festgelegt werden, fehlen diese Gelder all den Initiativen und
       Organisationen, die zur „Bekämpfung von Rechtsextremismus und Rassismus“
       dringend darauf angewiesen sind. Dazu gehört ganz aktuell ein
       Bildungsprojekt gegen Antisemitismus in Niedersachsen, dessen Förderung
       [12][nicht verlängert wurde]. Auch viele andere Projekte in diesem Bereich
       haben damit zu kämpfen, dass sie nur über kurze Zeiträume finanziert werden
       – als ob alle drei Jahre geprüft werden müsste, ob die Bekämpfung von
       Rassismus und Antisemitismus noch notwendig ist. Dass die Finanzierung zu
       Lasten der kompetenten und schweren Arbeit antirassistischer Initiativen
       stillschweigend akzeptiert wurde, belastet beides, den Bau einer neuen
       Synagoge ebenso wie den davon zu unterscheidenden Kampf gegen
       Antisemitismus. Hamburgs „findige Haushälter“ und ihr Netzwerk in Berlin
       sollten baldmöglichst andere und dafür geeignete Etats für den
       Synagogen-Neubau finden.
       
       ## 6. Antisemitismus bleibt eine eigene Herausforderung 
       
       Eine ebenso bittere wie nüchterne Feststellung: Der Neubau einer Synagoge,
       wo und wie auch immer, wird den Antisemitismus nicht reduzieren. Trotz des
       seit 1990 durch die Einbürgerung von zahlreichen jüdischen Menschen aus der
       ehemaligen Sowjetunion erstarkenden jüdischen Lebens haben die
       antisemitischen Einstellungen auch in Hamburg nicht abgenommen. So denken,
       wie die Zeit berichtete, 56 Prozent der Hamburger, in der Stadt werde
       bereits genug für Juden getan.
       
       Und war es nicht schon einmal so? Gerade im Grindelviertel existierte eine
       große und (scheinbar?) anerkannte jüdische Gemeinschaft mit vielen
       Geschäften, Arztpraxen, Bildungseinrichtungen und der Synagoge als Zentrum.
       Die Nachbarschaft war freundlich bis freundschaftlich – und wurde doch
       innerhalb kürzester Zeit aufgekündigt.
       
       Viele Nachbarn duldeten oder unterstützten die Ausgrenzung der jüdischen
       Bürger, schwiegen zu den Zerstörungen in der Pogromnacht und bereicherten
       sich dann direkt nach deren Deportation am Eigentum der Menschen, mit denen
       sie kurz zuvor noch Kaffee getrunken hatten. Diese Bereicherung, von der
       auch die Kinder und Enkel profitierten, hält bis heute an: Die aus der
       Synagoge geraubte Thorakrone, die kürzlich von Daniel Sheffer der Gemeinde
       zurückgegeben wurde, musste offenbar käuflich erworben werden.
       
       Es ist eine Illusion zu glauben, „dass mit konkreten Bauvorhaben dem
       Antisemitismus und der politischen Geschichtsvergessenheit getrotzt wird“,
       wie Till Briegleb in der Süddeutschen Zeitung [13][schrieb]. Antisemiten
       lassen sich weder durch konkrete Anschauung, Nachbarschaft oder gar Fakten
       von ihrer Obsession abbringen. Auch nicht dadurch, dass die Jüdische
       Gemeinde zeigt, „wie Juden heute leben, durch Gespräche, oder auch durch
       Tage der offenen Tür in den Gemeinden“, wie ihr Vorsitzender in der Zeit
       sagte.
       
       Die Bekämpfung von Antisemitismus ist eine Aufgabe weniger der jüdischen
       Gemeinden als vor allem der Gesamtgesellschaft. Denn antijüdische
       Ressentiments sind fest verankert in der sogenannten Mitte der Gesellschaft
       und werden zunehmend aggressiver ins öffentliche Leben eingebracht.
       
       In der AfD und ihrem publizistischen Umfeld wird der Holocaust nicht
       geleugnet, aber zu einer historischen Bagatelle verharmlost. Gedenkstätten
       berichten von Provokationen jüngerer und älterer Besucher, die den
       Holocaust leugnen. Dem Staat Israel wird seine Legitimation abgesprochen,
       „Israel-Kritik“ wird zum Anliegen breiter Kreise im kulturellen und
       intellektuellen Milieu. Walser, Sarrazin, Höcke finden breite Zustimmung.
       Der aktuell prosperierende Verschwörungsglaube: „Hinter allem stecken
       fremde, uns knechtende Mächte“ entspricht der mächtigsten antisemitischen
       Wahnvorstellung.
       
       Wie aber kann man dem Ganzen begegnen? Für Hamburg und seine Politik wäre
       dazu einiges zu sagen. Denn es sieht derzeit nicht so aus, dass die
       Bekämpfung des Antisemitismus und die dafür notwendige historische
       Aufklärung auf der Agenda der Bürgerschaft stünde. Schon im Oktober 2019
       hatte Anjes Tjarks, der damalige Vorsitzende der grünen Fraktion, in einer
       Bürgerschaftsdebatte vorgeschlagen, „an prominenter Stelle in der Stadt
       eine neue Synagoge zu errichten“, so berichtete das Abendblatt. „Das wäre
       ein Zeichen, das viel stärker ist als der Kampf gegen Antisemitismus“,
       fügte Tjarks unter starkem Beifall hinzu.
       
       So wird nachvollziehbar, warum es ganz still geworden ist um das
       Versprechen der rot-grünen Koalition, noch vor der Bürgerschaftswahl am 23.
       Februar 2020 die Stelle eines Beauftragten zur Bekämpfung von
       Antisemitismus und zum Schutz jüdischen Lebens [14][einzurichten]. Das ist
       fast ein Jahr her. Seitdem gibt es Gerüchte, aber keine Informationen. So
       wichtig scheint der Regierungskoalition dieser praktische Beitrag zum Kampf
       gegen Antisemitismus offenkundig nicht mehr zu sein.
       
       Schwerwiegender ist aber eine andere Hamburger Leerstelle im Kampf gegen
       Antisemitismus: Die historische Aufklärung über die Verantwortlichen und
       Beteiligten an der Verfolgung der jüdischen Bürger findet kaum einen
       sichtbaren Ort. Weder in der Innenstadt noch im Grindelviertel finden sich
       Hinweistafeln auf Geschäfte und Unternehmen, die den jüdischen Bürgern
       geraubt oder nach 1938 geplündert wurden. Im Stadthaus, der Hamburger
       Polizei- und Gestapo-Zentrale für Gewalt, Folter und Mord, begnügt man sich
       mit einer kioskgroßen Ausstellung. In welchen kleinen und großen Hamburger
       Unternehmen, die schon vor 1945 bestanden, findet Aufklärung über deren
       Nazifizierung statt?
       
       Es ist an der Zeit, dass die sorgfältige und eindrucksvolle Dokumentation
       der Landeszentrale für politische Bildung über „Die Dabeigewesenen“ nicht
       nur [15][virtuell], sondern auch im öffentlichen Raum präsentiert wird. Bei
       diesen und anderen Projekten hätten Hamburgs findige Haushalter in der
       Bürgerschaft die Möglichkeit, ihr „Nein zu Antisemitismus“ durch konkrete
       Förderungen praktisch werden zu lassen.
       
       6 Feb 2021
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] https://www.kirche-hamburg.de/nachrichten/details/40-millionen-euro-fuer-st-jacobi.html
 (DIR) [2] https://www.hamburg.de/oeffentliche-plaetze/4258336/joseph-carlebach-platz/
 (DIR) [3] https://www.mopo.de/hamburg/synagoge-in-hamburg-finanzhilfe-vom-bund--so-geht-es-mit-dem-wiederaufbau-weiter-37750020
 (DIR) [4] https://www.frauenkirche-dresden.de/geschichte/
 (DIR) [5] https://www.kirchenzeitung.de/content/kirche-wird-zur-synagoge
 (DIR) [6] https://www.bornplatzsynagoge.org/
 (DIR) [7] https://www.deutschlandfunkkultur.de/max-czollek-desintegriert-euch-die-utopie-der-radikalen.950.de.html?dram%3Aarticle_id=429415
 (DIR) [8] https://www.gruene-hamburg.de/presse/initiative-fuer-die-bornplatzsynagoge-ein-starkes-signal-fuer-juedisches-leben-in-hamburg/
 (DIR) [9] https://www.abendblatt.de/hamburg/article231296952/Bornplatzsynagoge-Wiederaufbau-Hamburg-CDU-de-Vries-Kritik.html
 (DIR) [10] https://www.juedische-allgemeine.de/politik/wiederaufbau-der-bornplatzsynagoge-gesichert/
 (DIR) [11] https://www.abendblatt.de/hamburg/article231014608/Bornplatz-Synagoge-Hamburg-Finanzierung-Grindelviertel-Berlin-Bundestag.html
 (DIR) [12] /Bildungsprojekt-gegen-Antisemitismus/!5728666
 (DIR) [13] https://www.sueddeutsche.de/kultur/synagoge-hamburg-buergerschaft-neubau-1.4796378-0#seite-29
 (DIR) [14] https://www.abendblatt.de/hamburg/kommunales/article227474739/Hamburg-soll-Antisemitismus-Beauftragten-bekommen.html
 (DIR) [15] https://www.hamburg.de/ns-dabeigewesene/
       
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 (DIR) Ulrich Hentschel
       
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