# taz.de -- Moralkolumnist kündigt Mieter:innen: Die Gewissensfrage
       
       > Rainer Erlinger schrieb für die „Süddeutsche“ über Moral. Derweil warf er
       > seine Berliner Mieter:innen raus. Er möchte vier Wohnungen für sich.
       
 (IMG) Bild: Wie viel Wohnraum für Bücher und Übernachtungsgäste ist verhältnismäßig?
       
       Ansprechpartner für Moralfragen war in der Süddeutschen Zeitung 16 Jahre
       lang „Dr. Dr. Rainer Erlinger“. Von 2002 bis 2018 beriet der zweifach
       promovierte Jurist und Arzt Leser:innen – und machte daraus sogar einige
       Bücher. Erlinger beschäftigte sich mit Fragen wie: Darf man die Nachbarn
       auf ihren lauten Sex ansprechen? Darf ich vom Nachmieter eine
       Abstandszahlung verlangen für meine alte Waschmaschine? Darf ich
       Schulsachen im Discounter kaufen? Erlingers Antwort war meist ein „Jein“ –
       plus ein paar Büchertipps. 2018 endete die Kolumne.
       
       Nun wirft Dr. Dr. Erlingers Handeln selbst moralische Fragen auf. Denn er
       will umziehen: Er habe zu wenig Platz allein in seiner Vierzimmerwohnung
       mit 140 Quadratmetern im Berliner Ortsteil Prenzlauer Berg. Und deswegen
       möchte er gern auf 240 Quadratmetern leben – in seinem mit öffentlichen
       Geldern sanierten Altbau in Berlin-Mitte.
       
       Moralische Frage: Darf ich die dort zur Miete lebenden Menschen mit
       Eigenbedarfskündigungen rausschmeißen? Darf ich ein Mehrfamilienhaus in
       Berlin-Mitte entmieten, weil ich 240 Quadratmeter für einen Ankleideraum
       plane, für eine Bibliothek, einen Fitnessraum, vielleicht eine kleine Sauna
       und eine Einliegerwohnung für Gäste? Genau dies hat Erlinger im von
       [1][Wohnungsnot] geplagten Scheunenviertel in Mitte getan.
       
       Mit Eigenbedarfskündigungen, Räumungsklagen und gerichtlichen Vergleichen
       ist Erlinger bereits drei von vier Mieter:innen losgeworden. Nur eine
       Mieterin hatte sich bis zuletzt juristisch gewehrt.
       
       ## Platz für Bücherregale
       
       In der ersten Instanz hatte die Mieterin im August 2020 vor dem Amtsgericht
       Berlin-Mitte noch gewonnen. Damals wurde Erlingers bereits zweite
       Räumungsklage abgewiesen, weil sein Eigenbedarf über angemessenen
       Wohnbedarf in gravierender Weise hinausging.
       
       Erlinger ging in Berufung. Mit Erfolg: Nach einer dreistündigen Verhandlung
       ließ sich die Mieterin Mitte Januar auf einen Vergleich ein. Laut ihrem
       Prozessvertreter hat die 60-Jährige auch wegen ihres Gesundheitszustands
       der zivilgerichtlichen Einigung zugestimmt. Man könnte auch sagen: Erlinger
       hat sie rausgekauft. Wenn sie bis Ende Oktober auszieht, erhält sie 112.000
       Euro, wie ihr Prozessvertreter der taz sagte.
       
       Die einstige moralische Instanz der SZ hat es also voraussichtlich mit
       ihrem Geld geschafft, in einer Stadt mit eklatantem Wohnraummangel per
       Eigenbedarfskündigungen ein Mehrfamilienhaus leer zu klagen. Erstmals
       kündigte er seinen Mieter:innen im Juni 2017. Gegen zwei weitere Mieter
       erhob Erlinger Räumungsklagen, die in gerichtlichen Vergleichen endeten,
       wie aus einem der taz vorliegenden Urteil hervorgeht. Dabei waren die
       Kündigungen zumindest rechtlich fragwürdig – über die Sanierung des 1880
       errichteten Altbaus bestand nach taz-Informationen ein öffentlicher
       Fördervertrag, von dem auch im Urteil die Rede ist. Demnach waren die
       Mieter:innen bis Juni 2018 vor Eigenbedarfsansprüchen des Vermieters
       geschützt.
       
       Erlinger sah das anders. In seinem Kündigungsschreiben von 2017 bedauerte
       Erlinger es zwar, kündigen zu müssen, wie es dort heißt. Aber die Kündigung
       sei unumgänglich, so das Anwaltsschreiben: „Derzeit lebt mein Mandant in
       einer ca. 140 m² großen 4-Zimmer-Wohnung. Der Wohnbedarf meines Mandanten
       geht jedoch darüber hinaus.“ Das Arbeitszimmer sei zu klein. Auch fehle
       Erlinger Platz für Besuch: „Die derzeit angemietete Wohnung verfügt nicht
       über ein Gästezimmer, sodass Gäste auf einem aufblasbaren Gästebett im
       Arbeitszimmer nächtigen müssen; ein für alle Beteiligten unschöner
       Zustand.“ Die angemietete Wohnung sei einfach zu klein geworden, heißt es.
       So verfüge Erlinger zudem „über eine beachtliche Anzahl Bücher, für die in
       den Regalen schlicht kein Platz mehr ist“. Platz für neue Regale sei aber
       auch keiner da: „Der Eigenbedarf meines Mandanten verdringlicht sich von
       Tag zu Tag.“
       
       ## „Überhöhter Wohnbedarf“
       
       Die Lösung für Erlinger: Mieter raus, Regale rein. Er beabsichtige, sein
       Mehrfamilienhaus umzugestalten: „… alle darin befindlichen Wohnungen werden
       zu einer Wohnung mit Arbeitsbereich zusammengelegt.“ Die Planungen für den
       Umbau hätten schon begonnen, wie es in der Kündigung heißt: Im
       Erdgeschoss/Hochparterre solle ein Gästebereich mit Bad entstehen, im
       ersten Stockwerk Erlingers privater Rückzugsbereich mit Schlaf-, Bade- und
       Ankleidezimmer. Im zweiten werde das Homeoffice mit Möglichkeit zum Empfang
       von Gästen eingerichtet – inklusive Gäste-WC, kleiner Teeküche und
       Kopierraum mit Fax. Im dritten Geschoss schließlich sei der private
       Wohnbereich mit Küche, Wohnzimmer und Dachterrasse geplant. Und nein, zwei
       oder drei Wohnungen reichten nicht aus. Erlinger brauche alle vier
       Wohnungen mit insgesamt 240 Quadratmetern für sich.
       
       Während der Rechtsstreit über den Eigenbedarf läuft, [2][antwortet Erlinger
       im Mai 2018 in seiner Kolumne auf die Frage von Jessica C. aus Frankfurt].
       Sie schreibt von einer Frau, die sich in einer überfüllten Bahn weigerte,
       den Platz neben sich freizugeben. Die Frau habe behauptet, als Vielfahrerin
       stehe ihr mehr Platz zu und sie brauche den zweiten Platz zum Käseessen.
       Dann habe sie einen Käse neben sich gelegt und sich hinter einer Zeitung
       versteckt. „Verdattert zog ich weiter, aber was hätte ich tun sollen?“,
       fragt Jessica C.
       
       Erlinger antwortet: Laut Beförderungsbedingungen der Bahn stehe niemandem
       mehr als ein Platz zu. Es mache ihn traurig, dass es diese Regel überhaupt
       brauche. Es müsste selbstverständlich sein, dass bei Mangel die Plätze
       geteilt werden, schreibt er: „Was hätten Sie tun sollen? Die Dame
       irgendetwas zwischen höflich und bestimmt darauf hinweisen, dass sie für
       ihren Käse keinen Platz beanspruchen kann, und auf dem Platz bestehen.
       Nein, eigentlich ihr gehörig den Marsch blasen.“
       
       Mit Blick auf den Wohnraummangel in Berlin hatte das Amtsgericht Mitte auch
       Erlingers Räumungsklage gegen die letzte Mieterin abgewiesen. Das Urteil
       liegt der taz vor. Darin heißt es: „Die alleinige Nutzung des über vier
       abgeschlossene Wohnungen verfügenden Gebäudes stellt einen derart
       überhöhten Wohnbedarf dar, dass unter Abwägung der beiderseitigen
       Interessen und unter Berücksichtigung der Sozialbindung des Eigentums eine
       Beendigung des Mietverhältnisses nicht gerechtfertigt ist.“
       
       ## Vier Wohnungen verschwinden vom Markt
       
       Bei dem Urteil ist laut Richter insbesondere der angespannte Berliner
       Wohnungsmarkt zu berücksichtigen, dem Erlinger im Scheunenviertel ja
       bereits drei Wohnungen entzogen hat. Für die Mieterin sei es kaum möglich,
       angemessenen Wohnraum in ihrem seit über 20 Jahren angestammten Kiez zu
       finden – eine besondere Härte sei zudem, dass die Kündigung während der
       Coronapandemie wirksam werde. Fraglich sei zudem, ob eine Nutzung des
       Erdgeschosses als Gästebereich überhaupt Eigenbedarf darstelle.
       
       Ludwig Eben, der die Mieterin in dem Prozess vertreten hat, ist ihr
       ehemaliger Partner. Wohl auch deswegen lässt ihn der Fall nicht los:
       Zusammen mit dem Projekteverbund Mietshäuser Syndikat hat er einen laut der
       zuständigen Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Wohnen eher wenig
       aussichtsreichen Antrag auf Enteignung nach Artikel 14 Grundgesetz
       gestellt, nach dem Eigentum verpflichtet und dem Wohle der Allgemeinheit
       dienen muss. Die Behörde verweist darauf, dass es kein Enteignungsgesetz
       gibt. Eben will widersprechen und seine Bemühungen fortsetzen.
       
       Eben schätzt, dass Erlinger bei einem mieterfreien Verkauf des Hauses durch
       leistungsfreien Spekulationsgewinn einen mehrstelligen Millionenbetrag
       erzielen könnte. Dem Wohnungsmarkt würden vier weitere Wohnungen entzogen,
       [3][obwohl 30.000 Menschen in Notunterkünften und 2.000 Obdachlose auf der
       Straße leben], sagt Eben.
       
       Erlinger antwortete auf taz-Anfrage ausweichend. Er trete seit dem Ende
       seiner Kolumne kaum noch öffentlich in Erscheinung. Deswegen sei das Haus
       Privatsache. Die wirklich interessante Gewissensfrage, inwiefern es nämlich
       moralisch vertretbar ist, in einer von Wohnungsnot stark betroffenen Stadt
       ein Mehrfamilienhaus zu entmieten und allein zu bewohnen, beantwortete
       Erlinger nicht.
       
       2 Feb 2021
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] /Wohnungsnot/!t5013826
 (DIR) [2] https://sz-magazin.sueddeutsche.de/die-gewissensfrage/ringen-ums-sitzen-85730
 (DIR) [3] https://www.tagesspiegel.de/berlin/obdach-und-wohnungslosigkeit-in-berlin-30-000-menschen-leben-in-noteinrichtungen/20975868.html%20//%20https://de.statista.com/statistik/daten/studie/1097522/umfrage/anzahl-der-obdachlosen-in-berlin/
       
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