# taz.de -- Renaissance der Rezension: Verstehen wollen, verstanden werden
       
       > Warum wird über Literaturrezensionen immer nur dann geredet, wenn sie mal
       > wieder irgendwo abgeschafft werden? Sie sind zeitgemäßer denn je.
       
 (IMG) Bild: Ein Bücherstapel: so viele mögliche Subtexte!
       
       Die Rezension ist, entgegen manchem Vorurteil, eine sehr freie
       journalistische Form, die sich in Richtung Buchtipp bescheiden, in Richtung
       Essay erweitern und alle möglichen Zwischenstufen annehmen kann.
       
       Man kann in einer Rezension „ich“ sagen, man kann es sein lassen, das
       Ichsagen kann peinlich werden oder auch nicht. Man kann sein Expertenwissen
       heraushängen lassen oder einfließen lassen. Man kann hart urteilen oder
       Unsicherheiten formulieren.
       
       Es gibt für eine Rezension wenig Regeln. Titel und Autor*in des
       besprochenen Werkes sollten vorkommen, ein (wenigstens implizites) Urteil
       auch, am besten mit Begründung, die Rezension sollte gut lesbar sein. Doch
       das ist es schon. Es kommt nur darauf an, ob es im Einzelfall, im Kontext
       der Rezension und im Verhältnis zu dem besprochenen Werk funktioniert.
       
       Die Rezension ist außerdem ein herausforderndes Genre. Das liegt daran,
       dass man sie mit offenem Visier schreibt, sie ist (wenigstens vom Anspruch
       her, den man in der Praxis oft unterspringt) immer auch mit einem
       Bekenntnis verbunden, es geht darum, verbindlich zu beschreiben, was man
       wirklich – wirklich! – von dem rezensierten Buch hält. Irrtümer,
       Fehleinschätzungen, intellektuelle Unredlichkeiten oder Fehler fallen
       unmittelbar auf den Rezensenten zurück. Und der Literaturbetrieb hat für
       solche Fälle ein langes Gedächtnis.
       
       Gleichzeitig kann man nirgendwo so gut wie in einer Rezension die
       [1][Marketingmaschinerie des Buchmarkts] durchbrechen. Man kann mit ihr
       demonstrieren, wie ernst man den Gegenstand nimmt
       
       ## Die Tonlage ist entscheidend
       
       Herausfordernd sind Rezensionen auch formal. Denn es geht in ihnen nicht
       nur um Inhaltsangabe und Bewertung. Es geht auch um den Aufbau, den
       Zeitpunkt der Veröffentlichung, das Verhältnis des*der Rezensent*in
       zum*zur Autor*in, die Mischung von Referat des Gegenstandes und freien
       Gedanken, den argumentativen Hintergrund und die Tonlage, vor allem auch um
       die Tonlage. Das alles kann bedeutungstragend sein, und das gilt es, immer
       wieder anders auf den jeweiligen Gegenstand bezogen, immer wieder neu zu
       bedenken.
       
       Beim Aufbau ist es zum Beispiel gleich entscheidend, ob die Rezension
       direkt ins Buch einsteigt oder erst mal ein paar thematische Absätze
       vorschaltet. Werden thematische Ausführungen vorgeschaltet, kann das
       bedeuten, dass das besprochene Werk etwas Allgemeines trifft, eine aktuelle
       Debatte, einen Zeitgeist. Es kann aber auch heißen, dass das Buch
       thematisch ja interessant sein mag, es aber literarisch doch nur so weit
       trägt, das Thema zu illustrieren. Gerade ein thematisches Lob kann für
       einen Roman, der doch künstlerisch überzeugen soll, geradezu vernichtend
       sein.
       
       Und dann die Tonlage. Wird ein Lobgesang angestimmt? Wird er auch
       durchgehalten, oder verkommt er zur Masche? Ist hinter einem ernsten,
       sachlichen Ton das Angefasstsein durch direkte Betroffenheit spürbar? Wird
       das Buch routiniert wegbesprochen? Oder bahnt sich ein neuer, vielleicht
       coolerer, vielleicht aber auch wieder spielerischer Blick auf Romane an? So
       viele mögliche Subtexte.
       
       ## Kampf um Sichtbarkeit
       
       Insofern gäbe es über Rezensionen viel zu bereden, gerade in der
       gegenwärtigen Situation, in der der deutschsprachige Literaturbetrieb
       [2][offener und diverser] wird – nicht nur in seinen Autor*innen, sondern
       auch in seinen Literaturbegriffen.
       
       Wie reagiert man auf die vielen Herkunftsbeschreibungen und Autofiktionen
       mit literarischen Kriterien? Wie aktiv soll man sich daran beteiligen, den
       Kanon zu erweitern? Soll man sich hineinwerfen in den Kampf vieler junger
       Autor*innen um Sichtbarkeit oder sich gerade schiedsrichterartig
       herausziehen? Das alles sind Fragen.
       
       Es ist jedenfalls dem Schillern dieses Genres gegenüber nicht angemessen,
       aber für den Kulturbetrieb vielleicht auch bezeichnend, dass über
       Rezensionen im Allgemeinen nur dann gesprochen wird, wenn sie mal wieder
       irgendwo abgeschafft werden sollen wie jetzt in den Radioprogrammen des
       WDR. Und es ist geradezu ärgerlich, wenn dann dieses Sprechen zudem in ein
       altbackenes gedankliches Schema gepresst wird.
       
       ## Worum es nicht geht
       
       Als ob es wirklich darum ginge, mit Rezensionen eine elitäre Form von
       Bildungsbürgerlichkeit zu verteidigen. Oder als ob, wenn wie beim WDR die
       Rezension von anderen journalistischen Formen ersetzt werden soll,
       wirklich die endgültige Verflachung drohte. Gegen ein Mix an
       journalistischen Formen ist ja gar nichts zu sagen. Porträts, Gespräche und
       Interviews haben ihre spezifischen Stärken. Doch die haben Rezensionen eben
       auch. Und auch sie sollten fürs Publikum, wie heißt das so schön,
       „snackable“ sein.
       
       Wie kommt es eigentlich, dass Rezensionen einen so schlechten Ruf haben,
       dass sie bei Blatt- oder Senderreformen immer als Erstes auf der
       Abschussliste stehen? Zu vermuten ist, dass alte Bilder weiterwirken und
       Rezensionen immer noch entweder mit staubtrockenen Textexegesen oder aber
       autoritär vorgetragenen Geschmacksurteilen assoziiert werden. Diese Bilder
       – zwischen dem eigenen Deutschlehrer und Reich-Ranicki – sind tief
       verankert und stark, auch wenn sie die Gegenwart nicht mehr treffen.
       
       Man muss es einmal so platt sagen: Rezensionen funktionieren im aktuellen
       Literaturbetrieb nicht mehr über einen Verkündigungsgestus und auch nicht
       mehr als Gutachten darüber, welche Autor*innen in den Literaturbetrieb
       eingelassen werden sollen und welche nicht.
       
       ## Sehnsucht nach Über-Ich-Figuren
       
       Manche bedauern das. Die Sehnsucht nach Über-Ich-Figuren flackert immer
       wieder auf. Aber sie sind nicht mehr da – und das ist gut so. Wenn man sich
       einmal klarmacht, wie wenig Geld mit Rezensionen in unserer
       Medienlandschaft zu verdienen ist, muss man geradezu darüber staunen, wie
       kompetent und gegenstandsorientiert die deutsche Rezensionskultur, wo man
       sie gedeihen lässt, oft noch ist.
       
       Für die Abwertung des Rezensionsgenres ausschlaggebend sind vielleicht auch
       schlicht organisationslogische Gründe. Wer in den Magazinredaktionen und
       öffentlich-rechtlichen Sendern als dynamischer Erneuerer auftreten will,
       für den zahlt es sich aufmerksamkeitsökonomisch eher aus, neue Formate zu
       etablieren, als – warum kommt eigentlich niemand auf so eine Idee, wenn man
       offenbar unzufrieden ist? – die bestehenden Formate, etwa die gesendeten
       Rezensionen, zu verbessern.
       
       Wobei gesendete Rezensionen auch die offenbar beim WDR angestrebten
       Radiogespräche mit Kritikern entlasten könnten. Die Gespräche brauchen, im
       Mix mit Rezensionen gesendet, keine verkappten und nur mit
       unterschiedlichen Rollen aufgesagten Besprechungen zu sein. Sie könnten
       wirkliche Gespräche sein. Das wäre doch besser.
       
       ## Verächter der Rezension
       
       Aber man sollte sich gar nicht in die defensive Lage manövrieren lassen,
       Rezensionen zu verteidigen, sondern lieber auch einmal fragen, was für
       einen Kulturbegriff die Verächter der Rezension haben. Es gibt da offenbar
       die Vorstellung, dass die Kultur eine bestehende Ressource ist, die sich
       häppchenweise verpacken, vorstellen, „vermitteln“ lässt. Doch das ist allzu
       sauber gedacht. Die Seite der Rezeption ist nämlich Teil des
       Kulturbetriebs, es gibt vielfältige Pingpongbeziehungen. Die Art und Weise,
       wie man Kultur wahrnimmt, hat Auswirkungen auf die Produktion von Kultur.
       
       Die Rezension ist die Form, die auf diese Situation am besten reagieren
       kann, weil sie, zumindest von der Idee her, mit der Möglichkeit von
       Nichtverstehen rechnet und weil in sie Reflexionsschlaufen eingebaut sind.
       Wie immer man es fasst, ob in der klassischen Wendung „Begreifen, was einen
       ergreift“ oder in einer zeitgemäßeren Formulierung wie „Verstehen, was man
       gut findet (und was nicht)“, eine Rezension ist immer auch ein Nachdenken
       über die eigenen Urteile und Setzungen – und selbst wenn sie das nicht ist,
       weil sie nur harsch ihre Wertungen herausschreit, ist sie es doch. Weil die
       Setzungen formuliert und damit hinterfragbar werden.
       
       Der Wille, zu verstehen, hermeneutische Arbeit und sich selbst (und damit
       die gegenwärtige Zeit, die Lebenswelt, alle anderen Bücher, die man gelesen
       hat) in Beziehung dazu setzen, das ist das, was eine Rezension vom Buchtipp
       unterscheidet. Und zugleich ist Verstandenwerden, das Gegenstück also, die
       harte Währung, um die es im Literaturbetrieb vielen Akteur*innen geht.
       Verstandenwerden kann beglückend sein. Anerkennung, Sichtbarkeit, das hängt
       da alles dran. Es kann auch ernüchternd sein, wenn einem Grenzen aufgezeigt
       werden.
       
       ## Glutkern des Rezensierens
       
       In dieser gedoppelten Figur von Verstehenwollen und Verstandenwerden liegt
       der Glutkern des Rezensierens, und ich glaube, dass der WDR und die anderen
       Rezensionsverächter sich darin irren, dass es kein Publikum mehr dafür
       gibt. Im Gegenteil. Beweisen kann ich es zwar nicht, aber ich nehme in dem
       sich wandelnden Literaturbetrieb sogar eher eine Renaissance des
       Bedürfnisses nach offenen, keinen Machtgesten folgenden Rezensionen wahr.
       
       Das Vorhaben des WDR ist unzeitgemäß.
       
       5 Feb 2021
       
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