# taz.de -- Parlamentswahl in Bulgarien: Aussitzen zahlt sich doch aus
       
       > Bojko Borrisow dürfte wieder das Rennen machen – trotz massiver Proteste
       > im vergangenen Sommer. Dabei hatten viele den Premier schon
       > abgeschrieben.
       
 (IMG) Bild: Regierungschef Bojko Borissow bei der Stimmabgabe am Sonntag in Sofia
       
       BERLIN taz | Wen haben die Bulgar*innen seit dem Fall des Kommunismus
       vor 32 Jahren an der Regierung nicht schon alles ausprobiert: Sozialisten,
       Rechtsliberale, 2001 sollte es sogar der letzte Zar Simeon Sakskoburggotski
       richten. Und dann wäre da noch einer: [1][Bojko Borissow] mit seiner Partei
       „Bürger für eine europäische Entwicklung Bulgariens“ (GERB), der, mit
       kurzen Unterbrechungen, bereits seit 2009 das Amt des Regierungschefs inne
       hat. Der 61-jährige etwas bullige ehemalige Leibwächter des letzten
       kommunistischen Machthabers Tudor Schiwkow, gibt sich gerne volksnah,
       verfügt über ein gewisses Maß an Bauernschläue und hat bemerkenswerte
       (Tür)steherqualitäten.
       
       Doch offensichtlich scheint den Menschen die Lust aufs Experimentieren
       vergangen zu sein. An diesem Sonntag wird in Bulgarien ein neues Parlament
       gewählt. Jüngste Umfragen sehen die GERB mit rund 28 Prozent der Stimmen
       und 76 von 240 Sitzen in der Volksversammlung auf dem ersten Platz. Für
       Rang zwei mit knapp 20 Prozent werden die Sozialisten (BSP) gehandelt.
       
       Dabei ist Borissows Bilanz alles andere als positiv. Bulgarien, das 2007
       der EU beitrat, ist mit einem Bruttoinlandsprodukt von 8.750 Euro pro Kopf
       der Bevölkerung (2020), was 48 Prozent des EU-Durchschnitts entspricht,
       nach wie vor das Armenhaus Europas.
       
       Auch bei der Medienfreiheit ist der Staat mit rund sieben Millionen
       Einwohnern EU-weit Schlusslicht und firmiert auf der Rangliste der
       Organisation „Reporter ohne Grenzen“ (ROG) auf Rang 111. Die Pressefreiheit
       in Bulgarien sei in einer Sackgasse und unabhängige Medien seien kurz
       davor, zu verschwinden, lautet die Einschätzung von Pavol Szalai, bei ROG
       zuständig für die EU und den Balkan. Denoch gab Bojko Borisossow am 16.
       März bei einer Pressekonferenz in Wien zu Protokoll, dass die
       Medienfreiheit in Bulgarien so umfassend wie in kaum einem anderen Staat
       sei – eine Aussage, die von einer gewissen Realitätsferne zeugte.
       
       ## Drei Milliarden Euro
       
       Absolut spitze in der EU ist das Land hingegen in Sachen Korruption und auf
       dem entsprechenden [2][Index von Tranparency International] an oberster
       Stelle gelistet.
       
       Maßgeblich sei die Partei GERB mit dafür verantwortlich, dass sich die
       Mafia in den Institutionen der EU fest gesetzt habe, heißt es in einer
       Analyse des Internationalen Instituts für den Nahen Osten und
       Balkan-Studien (IFIMES). Dabei zahlt sich die EU-Mitgliedschaft Bulgariens
       im wahrsten Sinne aus. Jährlich erhält Sofia aus Brüssel drei Milliarden
       Euro.
       
       Doch obwohl der EU die mafiösen Machenschaften bis in höchste bulgarische
       Regierungskreise hinlänglich bekannt sind, erfreut sich Borissow immer noch
       starken Rückhaltes aus den Reihen der Europäischen Volkspartei (EPP). Zudem
       wird der Mann aus Sofia von jeher von der CDU-nahen Konrad
       Adenauer-Stiftung gepampert. Auch Bundeskanzelerin Angela Merkel sagen
       Beobachter*innen nach, ihre schützende Hand über Borissow zu halten.
       
       Doch der bereitet Brüssel auch noch in anderer Hinsicht Kopfzerbrechen. Vor
       einigen Monaten legte Bulgarien gegen die Aufnahme von
       EU-Beitrittsverhandlungen mit der Republik Nord-Mazedonien sein Veto ein.
       Grund für die Blokade ist [3][ein Streit um Geschichte und Identität]. Erst
       müsste Skopje die bulgarischen Wurzeln seiner Nation und Sprache
       anerkennen, dann würden auch die Spannungen im Verhältnis zwischen den
       Nachbarn beigelegt werden können, sagte Bulgariens Außenministerin
       Ekaterina Zachariewa der Nachrichtenagentur Reuters zur Begründung für die
       Blockadehaltung.
       
       ## Politisch abgeschrieben
       
       Sie assistierte damit dem Chef der nationalistischen Partei VRMO Krasimir
       Karakachanow, die mit in der aktuellen Regierung sitzt und am Sonntag an
       der Vierprozenthürde scheitern könnte. Dieser „Anschlag“ auf Nordmazedonien
       sei es gewesen, der Borissow und Karakachanow wieder in das Spiel zurück
       gebracht habe, nachdem sie bereits politisch abgechrieben gewesen seien,
       heißt es dazu in der Analyse des IFIMES.
       
       Abschrieben hatten Borissow auch bereits viele Bulgar*innen, als sie nicht
       zuletzt wegen Korruption und Vetternwirtschaft im vergangenen Sommer zu
       Zehntausenden wochenlang gegen die Regierung auf die Straße gegangen waren.
       Doch Bojko, wie er im Volksmund genannt wird, saß [4][die Proteste] und
       Rücktrittsforderungen aus. Er zog es unter anderem vor, sich mit
       Staatspräsident Rumen Radew so richtig anzulegen, der sich, sekundiert von
       der BSP, auf die Seite der Demonstrierenden geschlagen hatte. Die
       Dauerfehde zwischen den beiden dauert an.
       
       Auch wenn der „Aufstand“ der Bulgar*innen nicht das gewünschte Ergebnis
       hatte – folgenlos blieb er trotzdem nicht. So entstanden im Dunstkreis der
       Protestbewegung mehrere Parteien. Zwei von ihnen könnten ins Parlament
       einziehen und die politische Landschaft durcheinander bringen.
       
       Bei knapp 13 Prozent und somit auf dem dritten Platz sehen Umfragen die
       Gruppierung „Ima takyv narod“ (So ein Volk gibt es). Chef der
       Anti-Establishment-Partei ist Stanislaw („Slavi“) Trifonow – ein bekannter
       Folk-Pop Sänger und TV-Star, der sich bereits seit Dekaden an den
       Regierenden abarbeitet.
       
       ## Populismus pur
       
       Dabei setzt Trifonow auf Populismus pur. Entsprechend überschaubar ist sein
       Programm: Einführung eines Mehrheitswahlrechtes, Kürzungen bei der
       staatlichen Parteienfinanzierung, Reduzierung der Parlamentssitze von 240
       auf 120 sowie die Einführung einer Direktwahl für bestimmte Posten, wie den
       des Generalstaatsanwalts. Während des Wahlkampfes verweigerte er sich
       Interviews genau so wie einer Teilnahme an Debatten mit seinen
       Kontrahent*innen.
       
       Seine Botschaften unter das Volk bringt Trifonow vor allem über seinem
       eigenen Kabel-Kanal „7/8“. Dort wird unter anderem kräftig gegen
       coronabedingte Lockdown-Maßnahmen Stimmung gemacht und die Gefahr der
       Pandemie herunter gespielt. Dabei sprechen die Zahlen eine deutliche
       Sprache. Derzeit beträgt die 7-Tage-Inzidenz bei Neuinfektionen 361, die
       Krankenhäuser sind am Anschlag.
       
       Dennoch lockerte Sofia die erst am 22. März verhängten Einschränkungen am
       vergangenen Donnerstag erneut. Mit bislang knapp 400.000 Erstgeimpften
       verläuft die Immunisierung im Schneckentempo, weswegen die EU Sofia in
       dieser Woche im Rahmen einer Solidaritätsaktion 1,15 Millionen Impfdosen
       mehr zusagte, als nach dem üblichen Verteilungsschlüssel vorgesehen waren.
       
       Ebenfalls gute Chancen den Sprung ins Parlament zu schaffen, darf sich die
       Bürgerplattform „Izpravi se Bulgaria – Mutri vyn!“ (Räume auf Bulgarien –
       Mafia raus) ausrechnen. Sie liegt derzeit bei 5,2 Prozent. Das Gesicht der
       Partei ist Maja Manalowa, langjährige Parlamentsabgeordnete (zunächst für
       die Sozialisten, dann parteilos) und von 2015 bis 2019 Ombudsfrau der
       Republik Bulgarien. 2019 kam sie bei der Wahl für das Amt des Sofioter
       Bürgermeistern immerhin in die zweite Runde.
       
       ## Hinter den Kulissen
       
       In ihrem Wahlprogramm heißt es: „Wir bringen unsere Bereitschaft zum
       Ausdruck, ein breites Bündnis gegen das 10-jährige Ein-Mann-Modell der
       Regierung von Bojko Borissov zu schließen, das von der „Bewegung für Rechte
       und Freiheiten“ (DPS) hinter den Kulissen unterstützt wird.“ Unter anderem
       werden höhere Einkommen für die Bürger*innen, eine stärkere Unterstützung
       von mittelständischen Unternehmen und Familienbetrieben sowie eine
       umfassende Justizreform nebst entsprechenden Verfassungsänderungen
       gefordert.
       
       Besagte DPS vertritt die Interessen der türkischen Minderheit (rund neun
       Prozent der Bevölkerung) und ist dank einer stabilen Wählerschaft auf den
       Status der drittstärksten Fraktion im Parlament quasi daueraboniert.
       Derzeit liegt sie bei 12,7 Prozent Zustimmung. In der Vergangenheit sorgte
       die Partei mit Korruptionsaffären immer wieder für Schlagzeilen – zuletzt
       im vergangenen Sommer, als Aufnahmen von einer Villa, die dem langjährigen
       ehemaligen DPS-Vorsitzenden Achmed Dogan gehört, viral gingen.
       
       Urheber des Videos war Ex-Justizminister Hristo Iwanow, einer der
       Vorsitzenden von „Da, Bulgaria“ (Ja, Bulgarien). Die Partei, die mit zwei
       anderen Gruppierungen als Bündnis „Demokratisches Bulgarien“ antritt, setzt
       zuvörderst auf den Kampf gegen Korruption und dürfte mit prognostizierten
       sechs Prozent sicher den Sprung ins Parlament schaffen.
       
       Laut dem bulgarischen Medienexperten Georgi Lozanow wären die Proteste im
       vergangenen Sommer der richtige Zeitpunkt gewesen, um einen mächtigen
       politischen Akteur als Alternative zu BSP und GERB zu schaffen.
       Demokratisches Bulgarien hätte diese Partei sein sollen, sie übermittele
       Botschaften, wie Kampf gegen Korruption und gegen eine mit der Politik
       verbandelte Justiz. Doch diese Chance sei verpasst worden. Die
       Oppositionsparteien hätten sich zusammen raufen und GERB vor sich
       hertreiben müssen, doch das sei nicht geschehen, zitiert das bulgarische
       Nachrichtenprotal mediapool.bg Lozanow.
       
       ## Die Nase vorn
       
       Die fragmentierte Opposition ist unstrittig mit ein Grund dafür, warum
       Borissow allen Widrigkeiten zum Trotz die Nase vorn hat. Und der
       Ministerpräsident werde jede Möglichkeit nutzen, die Oppositionsparteien
       gegeneinander auszuspielen, sagt Daniel Smilow vom Sofioter Think Thank
       Zentrum für Liberale Strategien.
       
       Aber selbst wenn Borissow als erster ins Ziel kommt, wird er an seinem Sieg
       wenig Freude haben. Denn die Regierungsbildung dürfte kein Spaziergang
       werden. Schon machen Szenarien von einer Expertenregierung oder Neuwahlen
       die Runde, sollte sich keine Koaltion zusammen basteln lassen. Doch so weit
       ist es noch nicht, schließlich müssen die Bulgar*innen erst einmal ihre
       Stimme abgeben. Der Ausgang der Wahl sei unvorhersagbar, sagt Smilow. „Am
       Sonntag kann alles passieren.“
       
       4 Apr 2021
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] /Neue-Proteste-in-Bulgarien/!5708449
 (DIR) [2] https://www.transparency.org/en/countries/bulgaria
 (DIR) [3] /Bulgarisch-nordmazedonischer-Streit/!5729872
 (DIR) [4] /Schriftsteller-ueber-Protest-in-Bulgarien/!5695934
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Barbara Oertel
       
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