# taz.de -- Indiens Gesundheitssystem in der Krise: Die Lage unterschätzt
       
       > Der Sauerstoffbedarf wird in indischen Zeitungen abgedruckt wie ein
       > Aktienkurs. Ärzt:innen fragen sich, wie das passieren konnte.
       
 (IMG) Bild: Überlebenswichtig: Die WHO stuft Sauerstoff als Medikament ein
       
       MUMBAI taz | „Wir hatten noch nie zuvor einen Mangel an Sauerstoff“, sagt
       Jalil Parkar. Er ist Lungenfacharzt im renommierten Mumbaier Krankenhaus
       Lilavati. Für den akuten Mangel, der landesweit aufgekommen ist, macht er
       die Unterbrechung von Lieferketten mit verantwortlich, aber auch den
       gestiegenen Bedarf und die Fehlplanung. Die Zahl der
       Coronapatient:innen hat massiv zugenommen – nach Angaben der
       Regierung sind 3,3 Millionen Coronafälle aktiv. Damit brauchen mehr und
       mehr Menschen Beatmungshilfen.
       
       Für die Versorgung hat das Lilavati-Krankenhaus einen großen Speichertank
       für flüssigen Sauerstoff der Firma Linde, die auch in Indien mit ihrer
       Tochterfirma zu den Marktführern gehört. Gerade wird er wieder regelmäßig
       befüllt. Nur wenige Krankenhäuser haben ihre eigene Sauerstoffanlage, sie
       sind auf Lieferungen angewiesen. In Mumbai scheint die Sauerstoffkrise
       zumindest für große Einrichtungen überwunden. Doch das gilt nicht überall
       im Land.
       
       Wie Aktienkurse oder Goldpreise wird in Zeitungen derzeit der [1][Bedarf an
       Sauerstoff] in den Bundesstaaten abgedruckt und über unzureichende
       Lieferungen berichtet. Die traurigen Meldungen, dass Menschen eine
       unterbrochene Sauerstoffzufuhr nicht überlebt haben, häufen sich: Am
       Wochenende starben in Delhis Batra-Krankenhaus 12 Covid-19-Patient:innen,
       darunter ein leitender Arzt. Selbst Botschaftsvertretungen in Delhi suchen
       auf Twitter nach Hilfe.
       
       Vorzeichen der zweiten Welle der Pandemie auf dem Subkontinent zeigten sich
       Anfang des Jahres. Gehandelt wurde vielerorts aber erst spät. Nun gibt es
       täglich über 400.000 Neuinfektionen, Tendenz steigend. Das war Teil von
       düsteren Prognosen aus dem vergangenen Jahr, doch für viele Menschen nicht
       vorstellbar. Auch die Regierung hat die Lage unterschätzt.
       
       ## WHO stuft Sauerstoff als Medikament ein
       
       Jalil Parkar verteidigt Ärzt:innen und Mitarbeiter:innen im
       Gesundheitswesen. Man werfe ihnen vor, Sauerstoff zu verschwenden, doch das
       sei nicht der Fall. Sie wollten Leben retten, sagt er der taz.
       
       Die Oppositionspolitikerin Priyanka Gandhi Vadra (Kongress) klagt: „Indiens
       Produktionskapazität für Sauerstoff ist eine der größten der Welt. Warum
       gibt es dann einen Mangel? Die Regierung hatte acht bis neun Monate Zeit,
       ihre eigene Zero-Studie deutete darauf hin, dass eine zweite Welle
       unmittelbar bevorsteht.“ Trotz Krise sollen sich die indischen
       Sauerstoffexporte verdoppelt haben, doch die Regierung unter Narendra Modi
       (BJP) unterstreicht, dass es sich dabei nur um Lieferungen für die
       Industrie handelte.
       
       Am 18. April ordnete die Zentralregierung dann an, dass die
       Sauerstoffversorgung der Industrie mit wenigen Ausnahmen auf die
       Krankenhäuser umgeleitet wird. Seit 2017 ist Sauerstoff von der WHO als
       lebenswichtiges Medikament eingestuft worden. In der Stahl- und
       Chemieindustrie wird Sauerstoff sonst eingesetzt, um Verbrennungsvorgänge
       zu beschleunigen. Für medizinische Zwecke kann er aber veredelt werden.
       Nachdem dies erlaubt wurde, lag Indiens tägliche Produktionskapazität bei
       7.100 Tonnen pro Tag, was knapp unter dem derzeit nötigen Wert liegt. Zudem
       sollen 551 Anlagen zur Sauerstoffgewinnung gebaut werden.
       
       ## Hilfe aus Singapur, Großbritannien, Deutschland
       
       Nach Klagen von Krankenhäusern wie dem Golden Jaipur, in dem kürzlich über
       20 Menschen an [2][Sauerstoffmangel] starben, forderte das Obergericht in
       Delhi die Regierung auf, die Hauptstadt mit Sauerstoff zu versorgen. Doch
       die Maßnahmen brauchen Zeit, das Sterben geht weiter. Der Politiker Ajay
       Mohan Bisht alias Yogi Adityanath (BJP) geht so weit, dass er angebliche
       Gerüchte über Sauerstoffmangel hart bestrafen lässt. In seinem Bundesstaat
       Uttar Pradesh gebe es das Problem nicht.
       
       Noch bevor Hilfe aus dem Ausland eintraf, organisierten NGOs, Moscheen und
       private Initiativen Sauerstoffzylinder. Eigentlich liegt der Preis bei
       knapp 100 Euro, doch teilweise wird nun mehr als das Doppelte verlangt.
       Nach Singapur und Großbritannien kam am Samstag auch Hilfe aus Deutschland:
       120 Beatmungsgeräte sowie Sanitätssoldat:innen, die eine mobile
       Sauerstoffgewinnungsanlage aufbauen. Damit kann Außenluft, die sonst zu 21
       Prozent aus Sauerstoff besteht, auf bis zu 93 Prozent angereichert und
       medizinisch verwendet werden.
       
       Während sich die Lage in Städten wie Mumbai stabilisiert, reißen die
       Hilferufe von Krankenhäusern und Angehörigen, die dringend Sauerstoff
       brauchen, nicht ab. Für sie geht die Suche weiter.
       
       2 May 2021
       
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