# taz.de -- Konservative in Großbritannien: Donnergrollen in Downing Street
       
       > Kaum ist die Pandemie eingedämmt, fliegen in London die Fetzen. Im
       > Zentrum: Premier Johnson und sein Ex-Vertrauter Cummings.
       
 (IMG) Bild: Einst arbeiteten sie zusammen, jetzt feinden sie sich an: Boris Johnson (re.) und Dominic Cummings
       
       BERLIN taz | „Keine verfickten Lockdowns mehr. Sollen sich die Leichen zu
       Tausenden stapeln.“ Hat der britische Premierminister Boris Johnson
       wirklich vor einem halben Jahr diesen Satz gesagt, der geeignet wäre, seine
       Karriere zu beenden? Diese Frage erregt das politische London dieser Tage –
       kurz vor dem 6. Mai, an dem zwei Drittel Großbritanniens neue Regional- und
       Kommunalvertretungen wählen, im ersten großen Stimmungstest seit dem Brexit
       und der [1][Bändigung des Coronavirus].
       
       Woher könnte die größte britische Tageszeitung, der konservative Daily
       Mail, dieses angebliche Zitat erfahren haben, das Johnson als „völligen
       Blödsinn“ dementiert? Es soll am Abend des 30. Oktober 2020 gefallen sein,
       als der britische Coronakrisenstab einen zweiten Lockdown beriet, um die
       Fehler des Frühjahrs nicht zu wiederholen, als Großbritannien zu spät
       reagiert hatte. Alle waren für einen neuen Lockdown – außer Johnson. Aber
       er war isoliert und fügte sich. Am nächsten Tag steckte jemand den
       Beschluss den Medien, und Johnson musste ihn vorziehen. Eine peinliche
       Blöße.
       
       Wer die „Ratte“ war, die aus dem Krisenstab plauderte, ist nicht bekannt –
       eine Untersuchung unter dem Titel „Chatty rat“ läuft. Anwesend waren neben
       Johnson drei Minister, zwei Wissenschaftler und Johnsons Chefberater
       Dominic Cummings. Zwei Wochen später [2][war Cummings seinen Job los].
       
       Cummings war überzeugt, dass Johnsons 33-jährige Lebensgefährtin Carrie
       Symonds ihn hinausgeekelt hatte. Symonds, die 2018 als Jungstar der
       Presseabteilung der Konservativen in Johnsons Leben stieß, steht für eine
       familienorientierte, ökologische Politik und mehr Versöhnlichkeit als die
       Scharfmacher rund um Cummings, das einstige Hirn der „Vote Leave“-Kampagne
       vom Brexit-Referendum 2016.
       
       ## Berüchtigt und dreist
       
       Als Johnson 2019 Premierminister wurde, rückte der für seine schräge
       Genialität berüchtigte Cummings zum mächtigen Strippenzieher auf. Er setzte
       auf Englands Abgehängte und steuerte damit die Konservativen im Dezember
       2019 zum größten Wahlsieg seit 32 Jahren. Danach bastelte er an einem
       quasipräsidialen Schaltzentrum, in dem ihm alle Ministerialberater
       persönlich unterstehen und der Beamtenapparat nichts zu sagen haben sollte.
       Aber mitten im ersten Coronalockdown zu Ostern 2020 [3][brach er dreist die
       Regeln] und seine Zeit war vorbei.
       
       Seit Cummings’ Abgang im November 2020 hat sich das öffentliche Bild der
       Regierung Johnson gewandelt. Sie agiert überlegt statt erratisch, die
       Kombination von Entschlossenheit beim Impfen und Übervorsicht beim Lockern
       funktioniert. Aber gerade die Überwindung der Pandemie lenkt den Blick der
       britischen Politik wieder auf andere Probleme. Der [4][Zusammenbruch der
       Greensill-Bank] wegen fauler Kredite im März hat in Großbritannien
       politische Schockwellen hervorgerufen, die als Erstes den gemeinsamen
       Hauptgegner von Johnson und Cummings trafen: den ehemaligen konservativen
       Premierminister David Cameron.
       
       Jahrelang hatte sich die britische Öffentlichkeit gefragt, was [5][Cameron
       seit seinem Rücktritt nach dem Brexit-Referendum 2016] eigentlich macht.
       Jetzt weiß man: Er war als Lobbyist für Greensill tätig. Schon als er noch
       Premierminister war, hielt er sich Bankchef Lex Greensill als Berater.
       Ausgerechnet über die höchsten Spitzenbeamten warb dieser dafür, Zahlungen
       aus dem Staatshaushalt über seine Bank auf Vorkasse abzuwickeln. Am Ende
       war sogar der oberste Beschaffungsleiter der Cameron-Regierung zugleich
       Greensill-Angestellter.
       
       In diesem Skandal stimmen die Fronten wieder: ein korrupter Beamtenapparat
       unter dem EU-Befürworter Cameron, dessen Machenschaften jetzt endlich
       auffliegen. Noch zu Beginn der Coronapandemie drängte Cameron bei
       Finanzminister Sunak, man möge doch Corona-Unternehmenskredite über
       Greensill abwickeln – vergeblich, aber mit fatalen Folgen.
       
       Denn in der Debatte um Camerons privilegierten Zugang zu Ministern kam
       natürlich die Frage auf, wie zugänglich auch Premier Johnson für Lobbyisten
       ist. Manche Regierungsaufträge im Rahmen der Pandemiebekämpfung sind
       aufgrund privater Kontakte zustande gekommen. Als Schwachstelle haben
       Beamte identifiziert, dass der Premier seit zehn Jahren dieselbe
       Mobilnummer benutzt, über die ihn viel zu viele Leute direkt erreichen,
       statt den offiziellen Weg zu gehen.
       
       ## Kostspielige Renovierung mit Spendengeldern
       
       Eine weitere Schwachstelle: Carrie Symonds hat im Sommer 2020 mit großem
       Aufwand die [6][Dienstwohnung des Premierministers] im Gebäudekomplex um 10
       Downing Street renovieren lassen, weil sie die von Theresa May geerbte
       Einrichtung nicht mochte. Dafür hat sie viel zu viel Geld ausgegeben: bis
       zu 200.000 Pfund, war zeitweise zu lesen. Inzwischen sollen bloß 58.000
       bezahlt worden sein.
       
       Für Johnson stellte schon die Regierungsübernahme einen gigantischen
       Einkommensverlust dar, und seine Scheidung zugunsten seiner neuen
       Liebschaft im Februar 2020 soll ihn weitere vier Millionen Pfund gekostet
       haben. Offiziell stehen einem neuen Premier beim Einzug für Renovierungen
       bloß 30.000 Pfund zu. Für diese Renovierung suchte Johnson also private
       Spender, auch von einer zu gründenden Parteistiftung war die Rede.
       
       Für Konservative im Sinne von Genügsamkeit – also wie Theresa May und auch
       der Daily Mail – war das höchst suspekt, und für den von Äußerlichkeiten
       unbeeindruckten Cummings eine Steilvorlage. Als Johnsons Umfeld vergangene
       Woche den ehemaligen Chefberater für eine Enthüllung über privilegierte
       Unternehmerkontakte zu Johnson verantwortlich machte, ging er selbst auf
       seinem Blog in die Offensive.
       
       „Es ist traurig zu sehen, wie der Premierminister und sein Büro so tief
       hinter die Standards von Kompetenz und Integrität zurückfallen, die dieses
       Land verdient“, schrieb er. Zur Renovierung von Johnsons Dienstwohnung
       sagte er, dies über heimliche Spenden zu bezahlen, wäre „unethisch, dumm,
       möglicherweise illegal“. Er dementierte, die „Ratte“ aus dem Krisenstab im
       Oktober 2020 gewesen zu sein, und legte nahe, es sei tatsächlich der
       Berater Henry Newman gewesen, ein Veteran der Cameron-Ära, der mit Symonds
       befreundet ist.
       
       Jetzt fliegen die Fetzen. Medien trauen Cummings zu, dass er bei seinem
       Abgang die komplette digitale Kommunikation Johnsons mitgenommen haben
       könnte.
       
       28 Apr 2021
       
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