# taz.de -- Abrechnung mit linker Identitätspolitik: Überall Opfer
       
       > Judith Sevinç Basads Buch „Schäm dich“ ist eine polemische Abrechnung mit
       > der neuen Wokeness – und ihrer Teilung der Welt in Gut und Böse.
       
 (IMG) Bild: Hat als Kind selbst Ausgrenzung erlebt: Autorin Judith Sevinç Basad
       
       Wer sich heute zu Identitätspolitik und Antirassismus äußert, kann aufs
       Glatteis geraten. Zumindest dann, wenn die Person nicht auf den ersten
       Blick als diskriminiert „gelesen“ wird. Wenn sie also keinen
       offensichtlichen Migrationshintergrund hat, nicht schwarz, zumindest nicht
       reinweiß und/oder eine Transperson ist.
       
       Dann hören jene „Nichtbetroffenen“ von den migrantisch geprägten und
       rassismuserfahrenen Aktivist:innen nicht selten Sätze wie „Dazu darfst
       du nicht sprechen“ oder „Du hast keine Ahnung, weil du weiß bist“. Das
       führt mitunter zu fragwürdigen Rollenverständnissen, Zuschreibungen und
       Selbstwahrnehmungen.
       
       So weigert sich die österreichisch-bosnische und diskriminierungserfahrene
       Autorin [1][Melisa Erkurt, sich als Person of Color] zu bezeichnen. Sie sei
       zwar muslimisch und migrantisch, habe aber eine weiße Haut, schrieb sie
       kürzlich in der taz. Und da ist Ijoma Mangold, Literaturkritiker der Zeit
       mit nigerianischem Vater, der äußerlich so sehr Person of Color ist, dass
       sich Antirassismusaktivist:innen immer wieder wundern, wenn
       Mangold sich selbst als einen Richard Wagner liebenden „Gesinnungspreußen“
       bezeichnet.
       
       Und da ist Judith Sevinç Basad. Germanistin, Philosophin und Autorin des
       gerade erschienenen Buchs „Schäm dich!“ Sevinç Basad ist weiß und
       dunkelblond, aber sie hat einen türkischen Migrationshintergrund und als
       Kind Ausgrenzung erfahren. Darf sie nun sprechen oder nicht?
       
       ## Sie wehrt sich gegen Sprechverbote
       
       Sie tut es einfach. Ihr Buch, das den Untertitel „Wie Ideologinnen und
       Ideologen bestimmen, was gut und böse ist“ trägt, ist eine wütende und
       polemische Abrechnung mit den sogenannten Woken, den „Aufgewachten“, mit
       jenen Menschen also, die sich antirassistisch und queerfeministisch
       engagieren und vorgeben, so Basad, was gerecht und ungerecht sei. Oder um
       es mal in dem Tenor des Buches zu formulieren: die es damit übertreiben.
       
       Basads Stoßrichtung kommt nicht von ungefähr. Als Mitbegründerin der
       Initiative Liberaler Feminismus, der Frauen als leistungswillige und fähige
       Individuen definiert, hält sie nicht viel von einem Opferstatus, ob als
       Frau oder als Migrantin. Sie wehrt sich gegen Sprechverbote und -vorgaben
       und will sich nicht von den „Social-Justice-Warriors“ (den
       Gerechtigkeitskämpfer:innen) zurechtweisen lassen.
       
       Die Autorin spannt den Bogen von Denkverboten über Unschärfen im Diskurs
       (vor allem der „weiße Mann“ und „die Strukturen“ seien für das Leid von
       Migrant:innen verantwortlich) bis hin zu einer zum Teil vereinfachten
       Täter-Opfer-Relation, die die Welt in Gut und Böse einteilt. Sie verwendet
       Begriffe wie Totalitarismus, wenn etwa ein „woker“ Autor fordert, „den
       Privilegierten“ sollten die Jobs weggenommen werden. Sie kritisiert, dass
       aus Einzelpersonen Gesamtschicksale werden und Individualität dadurch
       abhanden komme.
       
       Das alles klingt nach einer großen Abrechnung mit einer linksliberalen
       Identitätspolitik, die eher spalten als integrieren will. Und das ist es
       auch. Damit ist Basad immer weniger allein. In jüngster Zeit mehren sich
       identitätspolitisch kritische Texte von Autor:innen wie jüngst etwa der
       [2][Französin Caroline Fourest], des Zeit-Chefredakteurs Giovanni di
       Lorenzo und der FAZ-Redakteurin Anna Prizkau. Sie geißeln Identitätspolitik
       als – zugespitzt formuliert – zwar gut gemeintes, aber eben doch Gebrüll,
       das mehr spaltet als zusammenführt.
       
       Basad nimmt die „Woken“ heftig auseinander: die amerikanische Soziologin,
       Aktivistin und Buchautorin Robin DiAngelo, die deutsche
       Antirassismustrainerin [3][Tupoka Ogette], die gerade [4][mit Morddrohungen
       überzogene Comedy-Autorin Jasmina Kuhnke], die deutsche Buchautorin und
       Podcasterin Alice Hasters. Auch mit der taz und ihren aktivistischen
       Autor:innen wie Hengameh Yaghoobifarah, Sibel Schick, Mohamed Amjahid
       geht Basad ins Gericht.
       
       Am kritischsten setzt sich Basad mit Amjahid auseinander und weist ihm
       nicht nur eine ausgrenzende Aggressivität nach, sondern falsche Aussagen.
       Dessen Rede „Wie Schwarze und PoC deutschen Journalismus retten können“ auf
       der Digitalkonferenz re:publica im Oktober 2020, deren Aussagen später
       in der taz erschienen sind, ist in Basads Augen so hanebüchen, dass sie das
       nur noch mit „unfassbar“ kommentieren kann.
       
       ## Kein Hineindenken möglich?
       
       Amjahid zufolge sind in den deutschen Medien „rein homogene, weiß
       cismännliche und heteronormative Führungsfiguren“ für „die Medienkrise“
       verantwortlich. Denn ein „weißer Ressortleiter aus einem gutbürgerlichen
       Haus“ könne sich nicht in „gewisse Lebensrealitäten“ beispielsweise eines
       Arbeiterkindes oder eines PoC hineindenken. Was zu „langweiligem Content“
       und zu einem schlechten Produkt führe.
       
       Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass deutsche Medienhäuser vor allem
       mit Weißen besetzt sind und kaum proaktiv gegen Rassismus vorgehen. Aber
       das ändert sich gerade grundlegend. „Alte weiße Kommentatoren wie Heribert
       Prantl oder Patrick Bahners werden nicht müde, in ihren Texten die eigene
       Männlichkeit und das eigene Weißsein in Frage zu stellen“, schreibt Basad.
       Zudem würden in deren Blättern die Bücher von Ogette und Hasters „als
       Bestseller gefeiert“.
       
       Natürlich darf und sollte man kritikwürdige Zustände weiterhin hart
       anprangern. Aber haben die einschlägigen Autoren und Autorinnen sich „die
       Medien“ eigentlich einmal etwas genauer angesehen? Ob taz, Zeit, der
       Deutschlandfunk, die Süddeutsche Zeitung oder Spiegel Online – sie alle
       befassen sich regelmäßig und ausführlich mit Antirassismusthemen. Was
       richtig und wichtig ist. Die lange Marginalisierten und Ausgegrenzten
       müssen zu Wort kommen, „die Weißen“ sollten ihnen genau zuhören.
       
       ## Ständiges Aushandeln
       
       Deutschland ist längst ein Einwander:innenland – mit Erfolgs- und
       Misserfolgsgeschichten migrantischer Menschen. Die Debatte über
       Identitätspolitik ist mehr als ein Kulturkampf, nämlich ein ständiges
       Aushandeln von Macht und Hinterfragen von Privilegien aller Beteiligter.
       Das Ziel sollte nicht nur der Abbau von Diskriminierungen sein, sondern
       auch ein fruchtbares Nebeneinander verschiedener Kulturen.
       
       Auf nicht mehr oder weniger versucht Basad hinzuweisen. Ihr Buch ist nicht
       in jedem Fall tiefgründig oder erschließt neue Denkräume. Aber es dürfte
       nicht das letzte Werk zu diesem Komplex bleiben.
       
       3 May 2021
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] /Als-Muslima-in-Oesterreich/!5760727
 (DIR) [2] /Islamismus-Charlie-Hebdo-und-die-Linke/!5723540
 (DIR) [3] /30-Jahre-Friedliche-Revolution/!5639332
 (DIR) [4] /Doxing-von-Autorin-Jasmina-Kuhnke/!5760862
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Simone Schmollack
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Identitätspolitik
 (DIR) Aktivismus
 (DIR) Ausgrenzung
 (DIR) People of Color
 (DIR) Feminismus
 (DIR) Repräsentation
 (DIR) Empathie
 (DIR) Lesestück Interview
 (DIR) Wissenschaftsfreiheit
 (DIR) Schwerpunkt Rassismus
 (DIR) Identitätspolitik
 (DIR) Schwerpunkt Gender und Sexualitäten
 (DIR) Annalena Baerbock
 (DIR) Black Lives Matter
 (DIR) Frankreich
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Autorin Alice Hasters über Rassismus: „Man könnte effizienter streiten“
       
       In ihrem neuen Buch beschäftigt sich Alice Hasters mit Identitätskrisen.
       Ein Gespräch über komplexe Menschlichkeit und Festhalten an der eigenen
       Erzählung.
       
 (DIR) Bewegung gegen Wokeness in Forschung: Im Namen der Wissenschaft
       
       Freiheit ist immer Freiheit der Andersforschenden. Der Rückschlag der Elite
       gegenüber diverseren Ansätzen ist nur vermeintlich unideologisch.
       
 (DIR) „Selbstporträt in Schwarz und Weiß“: Gegen Tribalismus jeder Couleur
       
       Rassisten und einige Antirassisten reduzierten Menschen auf abstrakte
       Kategorien, schreibt der Autor Thomas Chatterton Williams in seinem
       Sachbuch.
       
 (DIR) Identitätspolitik und Wissenschaft: „Jede Generation hat ihre Agenda“
       
       Der Soziologe Steffen Mau wirft im Gespräch einen differenzierten Blick auf
       die Debatte um Identitätspolitik.
       
 (DIR) Genealogie der Frauen: Von diesem Leben
       
       Christina von Braun verknüpft in „Geschlecht“ biografisches Erzählen mit
       sozialen Entwicklungen. In großem Bogen erzählt sie ihre Selbstwerdung.
       
 (DIR) Interviews mit Annalena Baerbock: Nicht zu fragen ist sexistisch
       
       Ist es sexistisch, junge Politikerinnen kritisch nach ihrer Kompetenz zu
       befragen? Keineswegs. Umgekehrt wird ein Schuh draus.
       
 (DIR) Identitätspolitik und Kritik: Propagandistische Totalverblödung
       
       Der Autor und Dramaturg Bernd Stegemann legt sich mit der Cancel Culture an
       und stolpert in seinem neuen Buch über die eigenen Thesen.
       
 (DIR) Islamismus, Charlie Hebdo und die Linke: Die beleidigte Generation
       
       Die Publizistin Caroline Fourest ist Frankreichs radikale Anwältin der
       Meinungsfreiheit. Ein Gespräch über die Leberwurstigkeit der Linken.