# taz.de -- Abbau von Autoritäten: Vom Aufstieg des Starprinzips
       
       > Die Autorität fällt, wenn ihr obszönes Gesicht publik wird. Das
       > Starprinzip aber ist resistent gegen Entzauberungen, wie Sebastian Kurz
       > zeigt.
       
 (IMG) Bild: Die Autorität fällt, das Starprinzip von Sebastian Kurz scheint aber resistent gegen Entzauberung
       
       Der Umgang mit Fehlverhalten von öffentlichen Personen erfährt einen
       massiven Wandel. Derzeit kann man diesen Wandel in seiner ganzen
       Widersprüchlichkeit beobachten.
       
       Auf der einen Seite gibt es eine erhöhte Sensibilität für Missstände – ob
       Korruption [1][oder Machtmissbrauch], vornehmlich sexualisierten. Ob in der
       Filmwelt, [2][im Sport], in [3][der Kirche]. Ob nun [4][im Theater] oder in
       [5][der Medienwelt, wie jüngst in Österreich].
       
       All diese Institutionen haben neben ihrem öffentlichen Gesicht noch eine
       Kehrseite. Dort herrschen die ungeschriebenen Gesetze, die geheimen Regeln,
       die diskreten Rituale. Ein Doppelsystem im Dienste der starken Figuren (in
       der Mehrheit Männer). All diese Institutionen sind gespalten: in eine
       offizielle Ordnung und in eine inoffizielle Überschreitung ebendieser
       Ordnung.
       
       Die guten Sitten legen also nicht nur fest, was man darf und was nicht.
       Jeder neue Skandal zeigt, dass es neben erlaubt und verboten noch ein
       Drittes gibt: das tolerierte verbotene Verhalten. Der Sittenkodex hat
       gewissermaßen eine Vorder- und eine Hinterbühne. Auf der großen Bühne steht
       das offizielle, das ehrenwerte, das explizite Gesetz.
       
       ## Die obszöne Kehrseite der Moralordnung
       
       Auf der Schattenbühne aber vollzieht sich das, was [6][der Philosoph Slavoj
       Žižek] das „obszöne Gesetz“ nennt. Das sind jene ungeschriebenen, aber
       geduldeten Überschreitungen – die obszöne Kehrseite der Moralordnung. Die
       Gesellschaft definiert also, welches obszöne Verhalten sie im Verborgenen
       „toleriert“. Welche ihrer Schattenseiten erlaubt-verboten sind.
       
       Lange Zeit störte der Missbrauch nicht das ehrenwerte Gesicht der
       Institutionen. Aber das war die Welt von gestern. Denn die Zeit dieser
       Figuren, die sich das Recht der tolerierten Übertretung anmaßen, scheint
       abgelaufen. Das hat einen generellen Abbau von Autoritäten zur Folge. Deren
       alte Unantastbarkeit schwindet. Jede Autorität kann, darf und wird in Frage
       gestellt.
       
       Deren Fehlverhalten wird nicht mehr so leicht toleriert. Sonst würden die
       Stimmen der Opfer nicht gehört werden. Der obszönen Schattenseite wurde
       also ein Resonanzraum eröffnet, in dem sich das bisher stillschweigend
       Akzeptierte als Anklage vernehmbar machen kann.
       
       Auf der anderen Seite aber haben wir gleichzeitig nahezu das Gegenteil. So
       gibt es etwa in Österreich den unerhörten Vorgang, dass gegen einen
       amtierenden Kanzler ermittelt wird. Kurz ist der achte Beschuldigte aus den
       Reihen seiner Partei, gegen den derzeit Ermittlungen durchgeführt werden.
       Der achte! In den meisten Fällen geht es um Korruption.
       
       ## Unempfindlichkeit gegen Verfehlungen
       
       Bei Kurz geht es um den Verdacht der Falschaussage vor einem
       parlamentarischen Untersuchungsausschuss. Man sollte denken, diese türkise
       ÖVP-Truppe habe sich restlos entzaubert. Auch und vor allem für jene, die
       ihrem „Zauber“ erlegen sind. Man sollte denken, die Zustimmungswerte
       stürzen ins Bodenlose. Aber weit gefehlt.
       
       Denn neben der erhöhten Sensibilität gibt es – zugleich – auch eine völlige
       Unempfindlichkeit gegen Verfehlungen, eine Gleichgültigkeit gegen Verstöße
       – allerdings nur bei bestimmten Personen. Bei jenen [7][Personen nämlich,
       denen es gelingt, sich in der Öffentlichkeit als Ausnahmefiguren], als
       Stars durchzusetzen.
       
       Diesen verzeiht ihr Publikum vieles. Wenn sich einer als solch ein
       Einzelner durchgesetzt hat, wenn er von einem Teil des Publikums als ein
       solcher akzeptiert und akklamiert wird, dann können ihn auch Enthüllungen
       nicht entblößen.
       
       Wir haben also einen Abbau von Autoritäten, der mit dem gleichzeitigen
       Aufstieg des Starprinzips einhergeht. Das Schrumpfen der Autorität qua Amt,
       qua Kompetenz (ein demokratischer Fortschritt) geht einher mit der Stärkung
       „herausragender“ Einzelner, mit einer Personalisierung also (ein
       antidemokratisches Prinzip schlechthin).
       
       Die Autorität fällt, wenn ihr obszönes Gesicht publik wird. Das Starprinzip
       aber ist äußerst resistent gegen Entzauberungen. Wäre Kanzler Kurz eine
       Autorität (und mit ihm sein Kabinett) – er und sie alle könnten kaum
       unbeschädigt aus der Sache herauskommen. [8][Das Starprinzip aber kann es
       im Falle einer Anklage ermöglichen, als Phoenix aus der Gerichtsasche
       aufzusteigen.]
       
       26 May 2021
       
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