# taz.de -- Pastorin über Inklusion in der Kirche: „Sie muss dauerhaft gelebt werden“
       
       > Dr. Christina Ernst ist Pfarrerin und blind. Ein Gespräch über den
       > Kirchentag, Ableismus in der Bibel und gegenseitiges Lernen in der
       > Gemeindearbeit.
       
 (IMG) Bild: Ich bekam schnell positive Rückmeldung von Menschen aus der Gemeinde, die mir sagten: „Wir fühlen uns von dir gesehen“
       
       taz: Frau Ernst, Sie sind Pastorin und blind. Hatten Sie Barrieren? 
       
       Dr. Christina Ernst: Als ich 2003 das Theologie-Studium begonnen habe, war
       für mich nicht sofort klar, dass ich Pastorin werde. Ich war zunächst
       getrieben von einer Neugier auf die Welt. Während meines Studiums war es
       lange ein Thema, ob ich als blinde Pastorin überhaupt in der Kirche
       arbeiten kann und alle Bereiche des Gemeindelebens mitgestalten kann.
       Besonders war da die Frage: Wird mir das zugetraut? Immer wieder begegneten
       mir Sätze wie: „Wir können uns das gar nicht vorstellen, wie Sie als blinde
       Pastorin arbeiten wollen – das müssen Sie uns erklären.“ Aber wie sollte
       ich als Studentin erklären, wie ich später arbeiten will?
       
       Als ich 2013 mit dem Vikariat anfing, hatte sich die Haltung in der
       Gesellschaft und auch in der Kirche durch die Inklusionsdebatte stark
       verändert. Inzwischen ging man mehr davon aus, dass jede Person
       unterschiedliche Ressourcen und Stärken hat, die sie einbringen kann.
       Pastor*innen hatten nun zum Beispiel Migrationshintergründe und auch
       eine Behinderung wurde als ein Punkt von Vielfalt angesehen.
       
       Sie haben vier Jahren als Pastorin im niedersächsischen Twistringen
       gearbeitet. Was wurde Ihnen dabei zunächst nicht zugetraut? 
       
       Zu Beginn kamen Fragen, wie ich mich bei Gemeindemitgliedern in einer
       fremden Wohnung zurechtfinden will, wie ich Jugendarbeit gestalten möchte.
       Mein Eindruck war, dass die Sorgen mehr diffus als konkret waren. Es war
       mehr die Grundhaltung, dass sich einige Menschen zunächst nicht vorstellen
       konnten, wie das gehen soll.
       
       Begegnungen mit Menschen mit einer Behinderung sind vielen erst mal fremd.
       Für mich ist dann wichtig, ob Menschen offen dafür sind, es mit mir zu
       erleben, sich darauf einzulassen und Wege zu finden oder ob sie
       verschlossen sind und mir auch keine Chance geben wollen. Da habe ich
       bisher aber in der Kirche immer die Erfahrung gemacht, dass mir mit
       Offenheit begegnet wurde. Menschen hatten Lust, sich auf ungewöhnliche und
       unbekannte Lösungen mit mir einzulassen und haben dadurch, denke ich, auch
       viel Positives entdeckt.
       
       Der Pastorinnenberuf ist für mich sowieso ein gegenseitiges Lernen. Man
       geht immer wieder mit der Gemeinde in den Austausch darüber, wie man
       miteinander umgeht, wo man handeln möchte, wo man hin möchte. Das genau ist
       Inklusion: Dinge nicht so zu machen, wie sie immer gemacht wurden, sondern
       sie so zu verändern, dass alle daran teilhaben können.
       
       Das klappte dann auch in Ihrer Gemeinde? 
       
       Meine Behinderung war vor allem zu Beginn ein Thema, etwa wie man mich
       anspricht, ohne dass man den Blickkontakt herstellen kann oder wie ich mich
       im Ort bewege. Es ging dann aber schnell darum, dass sie mich als Menschen
       kennenlernen wollten und auch mussten und darum, wie ich arbeite. Dass ich
       blind bin, war eher ein kleiner Punkt. Ich bekam schnell positive
       Rückmeldung von Menschen aus der Gemeinde, die mir sagten: „Wir fühlen uns
       von dir gesehen.“
       
       Ist die Kirche im Hinblick auf Inklusion ein Vorbild? 
       
       Die Kirche sollte der Inklusion nicht gegenüberstehen, sondern sollte sich
       inklusiv gestalten. Es geht darum, sich auf Augenhöhe zu begegnen und nicht
       zu sagen „Wir betreiben Inklusion – für andere“, sondern sich selbst als
       Teil des Prozesses zu sehen, selbst die Veränderung zu leben. Bei Inklusion
       kann man auch nie sagen „Das haben wir jetzt erreicht“, sondern es muss
       dauerhaft gelebt und gefordert werden, sonst gerät es auch schnell wieder
       in Vergessenheit.
       
       Mein Eindruck ist, dass die Kirche jetzt stärker die Vielfalt wahrnimmt,
       die es in der Gesellschaft schon lange gibt. Das betrifft junge und alte
       Menschen, Menschen mit unterschiedlichen kulturellen Hintergründen,
       sexueller Orientierung oder Menschen mit Behinderung. Da merke ich
       vonseiten der evangelischen Kirche eine große Veränderung in der
       Wertschätzung für die Unterschiedlichkeiten.
       
       Gerade läuft der [1][3. Ökumenische Kirchentag]. Ist Inklusion dort ein
       Thema? 
       
       Ja, ich habe das Gefühl, dass dort versucht wird, Inklusion von einem
       Randthema zu einem Querschnittsthema zu machen. [2][Inklusion findet in
       Gemeinden] sonst sehr lokal statt, es betrifft immer konkrete Leute und ist
       immer unterschiedlich, je nachdem, um wen es geht. Pastor*innen mit
       Behinderung sind zum Beispiel nicht organisiert als Gruppe und werden daher
       auch nur vereinzelt wahrgenommen. Auf dem Kirchentag gibt es dann
       einerseits die Möglichkeit, ein Forum zu haben für inklusionspolitische
       Belange, sich zu vernetzen und sich zu beraten. Andererseits sorgt die
       Etablierung als Querschnittsthema auch dafür, dass es zwar überall präsent
       ist, auf [3][vielen Podien] mitgedacht wird, aber die politische
       Organisierung als Gruppe, zum Beispiel von Menschen mit Behinderung, geht
       dadurch auch zurück.
       
       Unter Inklusionsaktivist*innen wird auch Ableismus in der Bibel
       diskutiert. Etwa Sätze wie „Lass keinen Blinden und Lahmen ins Haus“ aus
       dem zweiten Buch Samuel oder aber auch, dass Menschen mit Behinderung in
       christlichen Beschreibungen als ‚die Schwächsten‘ oder ‚Schutzbedürftige‘
       vorkommen. 
       
       Das ist auch eine hermeneutische Frage. Man kann Bibeltexte nicht 1 zu 1
       übernehmen. Dafür ist es auch wichtig, mit welcher Absicht man selbst als
       lesende Person an die Bibeltexte herantritt. Was möchte ich da drin finden?
       Ich finde in vielen Bibeltexten auch die Ermutigung, Menschen nicht auf
       etwas festzuschreiben, was sie körperlich sind oder zu sein scheinen. Da
       wäre zum einen die Figur Moses. Er kann nicht gut sprechen und Gott sagt zu
       ihm, sein Bruder Aaron sei sein Mund, er spreche für ihn. Oder auch Paulus,
       der beschreibt, dass er schwach und kein guter Redner ist. Er erreicht aber
       viele Menschen und führt das zurück auf die Gotteskraft. Das wären zwei
       Beispiele von zwei großen und einflussreichen Gestalten aus der Bibel, die
       aber nicht als behindert oder defizitär dargestellt werden. In Diskursen um
       Ableismus geht es meistens nur um Heilungserzählungen oder
       Wundererzählungen.
       
       Menschen mit einer sichtbaren Behinderung, die nichts mit der Kirche zu tun
       haben, kritisieren, dass sie einfach so den Satz „Ich bete für Sie/dich“
       hören. Wie geht es Ihnen damit? 
       
       Das habe ich selber auch erlebt. Nicht unbedingt, wenn ich als Pastorin
       aufgetaucht bin, sondern eher, wenn Menschen nicht wussten, was ich tue.
       Für mich kommt es auch da auf die Augenhöhe und auf die Motive an. Wenn es
       wirkliche Anteilnahme ist, ist das ein sehr schöner, unterstützender Satz.
       Es kann aber auch übergriffig sein, wenn mir das aufgezwungen wird, was das
       Ergebnis davon sein soll. Etwa: Ich bete für Sie, damit Sie wieder sehen
       können oder damit sich Ihr Leben in einer bestimmten Art verändert. Ich
       würde so einen Satz aber als Impuls sehen, um ins Gespräch zu kommen. Man
       kann die Person fragen: Warum beten Sie für mich? Das kann ein Aufhänger
       sein, um mehr von einander kennenzulernen.
       
       Das Leitwort des dritten ökumenischen Kirchentags lautet „schaut hin.“ Was
       verbinden Sie damit? 
       
       Ich fand es gut, dass das bei dem Leitwort direkt ergänzt wurde, dass es
       nicht nur um das visuelle geht, sondern das gegenseitige Wahrnehmen gemeint
       ist, das Aufeinander-Zugehen. Das ist besonders in Coronazeiten wichtig,
       weil eine gewisse Vereinzelung stattfindet und man sich anders bemühen muss
       um Gemeinschaft. Die Gefahr ist sehr groß, dass bestimmte Menschen aus dem
       Blickfeld geraten. Schön wäre, wenn dieses Leitwort nicht nur für bestimmte
       Gruppen gilt, sondern eine Grundhaltung für Menschen ist, dass man
       aufeinander achten möchte.
       
       Was muss Kirche in diesen Zeiten leisten? 
       
       Insbesondere gesellschaftlichen Zusammenhalt und Solidarität. Den Willen
       zeigen, miteinander im Gespräch zu bleiben. Damit die Gesellschaft nicht
       zunehmend in verschiedene Gruppen auseinanderbricht, die sich gar nicht
       mehr bemühen, die anderen zu verstehen. Das ist für mich auch die Grundlage
       von Inklusion und inklusiven Denken und auch in meinem Leben eine
       persönliche Konstante. Ich versuche immer mich anderen verständlich zu
       machen und sie zu verstehen. Verschiedene Perspektiven möchte ich zunächst
       als positiv wahrnehmen.
       
       15 May 2021
       
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