# taz.de -- Flucht aus Tschetschenien: Endlich sicher, oder?
       
       > Wer wie Albika aus Tschetschenien nach Deutschland flieht, lebt in zwei
       > Welten: Nicht nur weil es zu gefährlich wäre, nach Hause zurückzukehren.
       
 (IMG) Bild: Albika flieht erst von Tschetschenien nach Polen und dann hochschwanger nach Deutschland
       
       Albikas Leben war ein einziges Risiko. Eigentlich heißt sie anders. Zu
       ihrem Schutz nennt sie sich Albika. Zweimal wurde sie als Minderjährige in
       Tschetschenien entführt und zwangsverheiratet. Es ist mehr als zehn Jahre
       her, dass sie von dort geflüchtet ist. Jetzt ist sie endlich deutsche
       Staatsbürgerin. Angst vor Abschiebung muss sie nicht mehr haben. Ein neues
       Gefühl.
       
       „In Berlin interessiert sich niemand für mich“, sagt sie und es klingt
       nicht deprimiert. Im Gegenteil. „Niemand verdächtigt oder verfolgt mich. Es
       ist ein tolles Gefühl. Ich bin frei von dieser böswilligen sozialen
       Kontrolle.“ Auch ihr Kopftuch hat sie abgelegt. Dabei ist sie gläubige
       Muslimin und betet fünfmal am Tag. Sie sagt: „Die Moral und der Koran sind
       wichtiger als äußerliche Symbole.“
       
       Doch wirklich sicher lebt sie immer noch nicht. Albika ist heute Mitte
       dreißig. In Tschetschenien ist sie nur fünf Jahre zur Schule gegangen. Ihre
       Tochter aber soll die beste Ausbildung in Deutschland bekommen, die es
       gibt. Dafür schuftet sie, und zwar, da sie nicht gut Deutsch spricht, als
       Putzfrau illegal in russischen Haushalten in Berlin.
       
       Ihre Tochter ist hier in Deutschland geboren, erzählt Albika. Gern würde
       sie ihr auch Tschetschenien zeigen, Albikas Heimat. Doch solange sie
       minderjährig ist, soll sie das Land am Kaukasus nicht betreten. Wovor hat
       sie Angst? „Ich müsste wieder mit der Familie meines Mannes zusammenleben“,
       erklärt sie. Und wenn nicht? „Dann müsste ich mich von meiner Tochter
       verabschieden und sie dort zurücklassen.“ Das bestimme die Tradition.
       
       ## Eingriff in die Privatsphäre – zum Nachteil der Frauen
       
       Marit Cremer ist mit diesen Traditionen vertraut. Sie ist Kultur- und
       Migrationssoziologin bei Memorial Deutschland und forscht seit 18 Jahren
       über Tschetschenien und die tschetschenische Diaspora in Deutschland. „Die
       Frau wird immer über die Beziehung zu einem Mann definiert“, sagt sie. „Ein
       selbstbestimmtes Leben ist für sie nicht vorgesehen. Kinder aus einer Ehe
       gehören dem Mann, niemals der Frau. Auch deswegen sollen tschetschenische
       Frauen nur tschetschenische Männer heiraten. Sonst gehen die Kinder dem
       tschetschenischen Volk verloren.“
       
       Das Regime des [1][tschetschenischen Präsidenten Ramsan Kadyrov]
       unterstützt diese archaische Praxis. Es setzt geschiedene Paare unter
       Druck, damit sie wieder zusammenleben. Eine der Behauptungen lautet: Kinder
       von Geschiedenen würden sich radikalisieren und Terroristen anschließen.
       Deswegen müssten sich Imame „intensiver um die [2][Stärkung der
       Familienwerte“] kümmern. Im Klartext – sie sollen noch kräftiger in die
       Privatsphäre eingreifen, zum Nachteil der Frauen.
       
       „In Tschetschenien konkurrieren drei parallel angewandte Rechtsnormen
       miteinander – das säkulare russische Gesetz, die Scharia und das
       Gewohnheitsrecht Adat“, erklärt Marit Cremer. Wenn es um
       Familienangelegenheiten gehe, verwiesen die säkularen Gerichte in
       Tschetschenien häufig auf die islamische Scharia oder das jahrtausendealte
       Adat. „Meistens werden diese Rechtsnormen zugunsten des Mannes ausgelegt.“
       
       Albika war 16 Jahre alt, als ihr späterer Mann sie entführte. Albikas Vater
       verlangte die Tochter zurück. Ihr Mann entführte sie darauf zum zweiten
       Mal, erzählt Albika. Als die Männer schon ihre Waffen aufeinander
       richteten, habe ihre älteste Tante sie gezwungen zu lügen. Albika sollte
       einfach sagen, dass sie freiwillig mitgegangen sei. Denn wenn sich eine
       Familie in ihrer Ehre verletzt fühlt, bleibt nur die Blutrache, um den
       Konflikt beizulegen. Soziologin Cremer merkt an: „Zu Sowjetzeiten fand
       diese Praxis Eingang in das Strafgesetzbuch. Das Strafmaß für Mord aus
       Blutrache wurde gegenüber Mord aus anderen Gründen reduziert.“ Albika hält
       ihre damalige Entscheidung für richtig. „Ich habe mich geopfert für den
       Frieden.“ Sie weiß nur zu gut, dass Blutrache in der tschetschenischen
       Gesellschaft noch immer fest verankert ist.
       
       Bald aber sollte sie wieder fliehen, zusammen mit ihrem Ehemann. Nach dem
       zehn Jahre andauernden zweiten Tschetschenienkrieg flüchten ab 2009
       Zehntausende nach Europa. „Viele Familien wurden gezwungen, der einen oder
       anderen lokalen Gruppierung ihre Loyalität zu erweisen“, erzählt Albika. Es
       ging um Machtverteilung und um die Hierarchie bei den verschiedenen Clans.
       Die Familie ihres Mannes hatte Probleme mit dem lokalen Clanchef im Dorf.
       „Als Frau bekommst du nur sehr wenig Informationen“, sagt Albika. In einer
       Nacht bekam sie plötzlich einen Reisepass, um mit ihrem Mann nach Polen zu
       fliegen.
       
       ## Aufenthaltstitel nach zehn Jahren
       
       In Polen angekommen, findet Albika keine Ruhe. Ihr Mann wird drogensüchtig
       und verliert sich in Glückspielen. Albika macht sich allein auf den Weg
       nach Berlin. Da war sie bereits hochschwanger. In Berlin angekommen,
       beantragt Albika Asyl. Zehn Jahre lang kämpft sie mit allen Mitteln für
       ihren Aufenthaltstitel.
       
       Etwa 50.000 Menschen aus Tschetschenien leben aktuell in Deutschland.
       [3][2017 wurden 187 von ihnen abgeschoben], 2018 waren es 422, eine Zahl
       für das Jahr 2019 liegt noch nicht vor. Die deutschen Behörden begründen
       die Abschiebungen in der Regel mit der „inländischen Fluchtalternative“,
       also der Möglichkeit, sich in einem anderen Teil Russlands anzusiedeln.
       
       Marit Cremer kritisiert dies seit Langem. Sie kenne mehrere Fälle, bei
       denen diese „Fluchtalternative“ scheiterte. Die Gründe liegen auf der Hand.
       „Selbst wenn sich diese Menschen Tausende Kilometer entfernt in Kamtschatka
       oder irgendwo anders in der Russischen Föderation ansiedeln“, berichtet
       Cremer, „die tschetschenischen Behörden finden sie, sobald sie sich am
       neuen Wohnort bei der Behörde anmelden.“ Sie fügt hinzu: „Macht man das
       nicht, lebt man illegal. Ohne Anmeldung bekommt man keinen Job und keine
       Wohnung.“
       
       Einige sind diesen Weg trotzdem gegangen. Cremer kennt mehrere Fälle. Die,
       die nach Russland zurückgekehrt sind, leben ohne offizielle Anmeldung mit
       hohem Risiko. Ihr Arbeitgeber bezahlt sie schlechter und sie können ohne
       Mietvertrag jederzeit aus der Wohnung geworfen werden, weil sie nicht
       gemeldet sind. Oft fließt Schmiergeld, um Job und Wohnung trotzdem zu
       behalten, erzählt Cremer. „Irgendwann bekommen korrupte Polizeibeamte davon
       aber etwas mit und halten die Hand auf. In dieser prekären Situation sind
       die Menschen weitgehend schutzlos.“
       
       ## Dankbar, aber ohne Vertrauen
       
       Mit ihrem deutschen Pass lebt Albika heute in Sicherheit. Dafür sei sie
       Deutschland dankbar, erzählt sie, vor allem aber dem tschetschenischen
       Netzwerk in Berlin. Von Anfang an seien es Tschetschenen*innen gewesen,
       die ihr bei bürokratischen Anträgen, bei der Vermittlung von Jobs oder
       einer Unterkunft, aber auch bei der Geburt ihrer Tochter geholfen haben.
       „Meine Landsleute sind mein Zuhause. Sie sind mein Schutz und mein alles.“
       
       Wenig Vertrauen hat Albika auch nach zehn Jahren in den deutschen
       Rechtsstaat. Es war im Herbst 2020, so erzählt sie, da sei ihre Tochter auf
       dem Schulweg angegriffen worden. Ein junger Mann habe die Tasche ihrer
       Tochter geklaut. Ein anderes Mal wartete derselbe Junge vor ihrem
       Hauseingang. Er habe ihre Tochter so gestoßen, dass die gefallen sein. Die
       Polizei hat nichts unternommen, erzählt sie. „Sie waren langsam und
       unproduktiv.“
       
       Und da die Polizei ihnen beiden „keinen Schutz geben konnte“, engagierte
       Albika kurzerhand tschetschenische Netzwerke. „Unsere Männer haben eine
       Kette gebildet, von unsrem Haus bis zu der Schule und haben in Schichten
       patrouilliert“, erzählt Albika. „Ich war beruhigt und sicher.“ Seitdem habe
       sich der Verdächtige nicht mehr blicken lassen.
       
       Aus Tschetschenien vor einem Clan fliehen und in Berlin genau diese
       Netzwerke nutzen? [4][Klaus Ottomeyer] kennt diese für Außenstehende schwer
       nachvollziehbare Haltung und hat dafür eine Begründung. Er war Professor
       für Sozialpsychologie in Klagenfurt und ist Vorstand im Verein Aspis, der
       sich um Flüchtlinge unter anderem aus Tschetschenien kümmert. „In der
       tschetschenischen Tradition gibt es überhaupt kein Vertrauen in den
       Zentralstaat und in das staatliche Gewaltmonopol“, sagt er im Gespräch mit
       der taz. „Der Staat hat nie die Menschen schützen können.“ Es gebe eben
       Gesellschaften ohne Staat, und dazu gehöre Tschetschenien.
       
       Ottomeyer weiß, wie gut die tschetschenischen Clanstrukturen funktionieren,
       sowohl in der Heimat als auch in der Diaspora. Oft seien die Clans
       untereinander zerstritten. Es gehe jedoch dabei nicht immer gleich um
       mafiöse Strukturen. Menschen zählen sich zu Clans, ihre Existenz werde auch
       positiv gewertet als wichtige Ressource für ihr Leben. Es mögen
       konservative und patriarchalische Vorstellungen und Strukturen
       vorherrschen, dennoch fühle sich jede*r in der eigenen Großfamilie sicher
       und geehrt. „Ein Bruder verrät nie seine Geschwister. Das ist eine absolute
       Sünde“, sagt Ottomeyer. Und deshalb kann Albika auch sagen: „Würde mein
       Bruder mit mir hier in Berlin wohnen, ich wäre der mutigste und sicherste
       Mensch, den es überhaupt gibt.“
       
       13 Jun 2021
       
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