# taz.de -- Gendern als Ausschlusskriterium: Symbolkämpfe in der Sackgasse
       
       > Die Idee, mit dem Gendersternchen eine diskriminierungsfreie Gesellschaft
       > zu erzwingen, ist gescheitert. Die Gendersprache schließt zu viele aus.
       
 (IMG) Bild: Der Widerstand gegen das Gendern richtet sich gegen die aufgezwungene Sprachpolitik
       
       Das Gendern soll einerseits alle Geschlechter sprachlich „sichtbar machen“,
       andererseits geschlechtsspezifische Ausdrücke vermeiden. Das Ziel der Übung
       ist eine diskriminierungsfreie Sprache – oder das, was berufene Geister
       dafür halten. Die Frage ist: Halten die Annahmen der [1][gendergerechten
       Sprache] einer Überprüfung stand?
       
       Solange es nur darum ging, als Geste der Gleichbehandlung anstelle des
       generischen Maskulinums (wie in „Mitbürger“) stets die weibliche und
       männliche Form einzeln zu nennen, erfuhr das Gendern zumindest im
       professionellen Kontext eine hohe Akzeptanz.
       
       Die zweite Gender-Welle hat das „dritte Geschlecht“ in die Sprache
       eingeführt und bringt neben der Diversität einen verstörenden
       Absolutheitsanspruch mit sich. Genderstern und kuriose Wortneuschöpfungen
       machen Kommunikation zum Hürdenlauf. Die Befürworter des Genderns nehmen
       die sprachlichen Hürden sportlich, und wollen durch das gelegentliche
       Stolpern Aufmerksamkeit erzeugen. Die Gegner zeigen weniger sportlichen
       Ehrgeiz, sie haben einfach keine Lust, sich ihre natürlich gewachsene
       Sprache zergendern zu lassen.
       
       Die Gegner des Genderns sollen vorwiegend männliche, konservative
       Privilegierte sein. Im Umkehrschluss müssten die Befürworter tendenziell
       weiblich oder divers, progressiv und unterprivilegiert sein.
       
       Zumindest Letzteres ist unwahrscheinlich. Immerhin sind sie in der Lage,
       maskuline Substantive durch Synonyme oder Partizipien zu ersetzen und sich
       einen Sprachduktus mit hörbarer Gendersensibilität anzutrainieren. Gendern
       kostet Zeit und Hirnschmalz. Demnach scheinen gendernde Menschen
       hochgebildet und unterbeschäftigt zu sein, also durchaus privilegiert.
       
       Dazu passt, dass die treibenden Kräfte vor allem an Universitäten und in
       Behörden zu finden sind. Sie geben Leitfäden zur geschlechtergerechten,
       diskriminierungsfreien Sprache heraus, die einen angemessenen Umgang
       empfehlen, in der Konsequenz aber aufgrund ihrer Vormachtstellung anordnen
       – man denke nur an den Duden, der seinen Ratgeber ungeniert [2][„Richtiges
       Gendern“ betitelt.]
       
       Bedenkenlose Progressive 
       
       Es hat in der Geschichte sowohl fiktive als auch reale Versuche gegeben,
       Sprache von oben zu manipulieren, um dadurch Menschen zu beeinflussen und
       ihre Eigenständigkeit zu unterdrücken. Es verwundert, wie bedenkenlos sich
       angeblich progressive Institutionen hier einreihen.
       
       Der bürokratische Umgang mit der Sprache beim Thema Gendern erzeugt
       Unbehagen. Die Sprachentwicklung im Deutschen ist partizipativ, sie
       vollzieht sich unkontrolliert im lebendigen Dialog der Sprachgemeinschaft.
       Das ist ein hoher freiheitlicher Wert.
       
       Der Widerstand gegen das Gendern richtet sich gegen die aufgezwungene
       Sprachpolitik und ist nicht gleichzusetzen mit der Ablehnung von
       Diversität, Gleichstellung und Diskriminierungsfreiheit. Diese Werte sind
       mittlerweile über ein breites politisches Spektrum konsensfähig in einer
       aufgeklärten, egalitären Gesellschaft. Die Gender-Befürworter vertreten sie
       nicht exklusiv.
       
       ## Männlein, Weiblein oder Sternchen
       
       Das generische Maskulinum ist die abstrahierte, geschlechtsübergreifende
       Verwendung maskuliner Substantive oder Pronomen. Gemeint sind damit jeweils
       alle, die die bezeichnete Eigenschaft aufweisen – egal ob Männlein,
       Weiblein oder Sternchen. Ein generisches Femininum (z. B. die Koryphäe) und
       Neutrum (z. B. das Mitglied) existiert ebenfalls im Deutschen, kommt aber
       seltener vor. Die generische wird von der spezifischen Form durch den
       Kontext und bestimmte Indikatoren unterschieden.
       
       In „Alle Bäcker“ erkennen wir die übergreifende Form, neudeutsch
       „Backende“. „Der Bäcker Heinz“ dagegen bezeichnet einen bestimmten,
       männlichen Bäcker. Dasselbe Wort kann je nach Zusammenhang
       geschlechtsneutral oder geschlechtsspezifisch sein. Im Prinzip liegt die
       Grammatik damit voll im Trend. Sie verfügt schon längst über ein fluides
       grammatisches Geschlecht.
       
       Ob man zum Bäcker geht oder zur Bäckerin, zum Arzt, zur Ärztin oder zu*
       A/Ärzt*in, ist gemeinhin irrelevant. Doch die zunehmende Verdrängung des
       generischen Maskulinums durch die geschlechtergerechte Sprache zwingt zur
       Präzisierung und stellt das Geschlecht in den Vordergrund – auch da, wo es
       eigentlich keine Rolle spielen sollte. Die generische Form ist demgegenüber
       nicht nur praktischer, sondern auch weniger sexistisch.
       
       ## Wenig wissenschaftlich
       
       Die feministische Linguistik setzt das grammatische Geschlecht mit dem
       biologischen gleich, was grammatikalisch falsch und sprachhistorisch
       umstritten ist, und lädt die Sprache symbolisch auf: die Frau sei in der
       Sprache nicht sichtbar, sondern nur mitgemeint. Die Schreibweise /-in
       reduziere die Frau auf die Endsilbe. Das große Binnen-I zeige
       Gleichwertigkeit. Die Queer-Theorie fügt hinzu: Der Unterstrich schaffe
       Platz für alle Geschlechter. Erstaunlicherweise erfreut sich diese wenig
       wissenschaftliche Sichtweise ausgerechnet in akademischen Kreisen größter
       Popularität.
       
       Studien belegen, dass mit der geschlechtsübergreifenden Standardform im
       Deutschen, dem generischen Maskulinum, eher Männer als Frauen assoziiert
       werden. Doch Bedeutung entsteht im Kontext, und zwar nicht nur im
       Satzzusammenhang, sondern auch im außersprachlichen Kontext unserer
       Erfahrungen und Denkmuster.
       
       So zeigten Vergleichsstudien nur geringfügig verbesserte Quoten beim
       Gebrauch geschlechtsneutraler Ersatzbegriffe – Studenten durch Studierende
       und Mitarbeiter durch Mitarbeitende zu ersetzen löst das Problem nicht.
       Doppelnennung der männlichen und weiblichen Form verschieben unsere
       Wahrnehmung zugunsten der übersehenen weiblichen Protagonisten, neutrale
       Bezeichnungen heben den Effekt auf. Insofern ist der Gebrauch neutraler
       Ersatzbegriffe durchaus antifeministisch.
       
       ## Das Sternchen als doorkeeper
       
       Aber es kommt noch schlimmer: Die angeblich diskriminierungsfreie Sprache
       ist nicht nur antifeministisch und sexistisch, sie ist auch
       diskriminierend. Die Sprache absichtlich zu verkomplizieren bedeutet
       zwangsläufig auch, die Hürde höher zu legen und Andere aus dem Diskurs
       auszuschließen.
       
       Schon der Durchschnittsleser stolpert durch gegenderte Texte, für
       Nichtmuttersprachler sowie Menschen mit Leseschwäche, Hörbehinderung oder
       kognitiver Einschränkung ist die Herausforderung umso größer, denn
       gendergerechte Sprache und leichte Sprache folgen gegensätzlichen Regeln.
       Barrierefreiheit war gestern.
       
       Die verfügbaren Statistiken zeigen, dass der Kreis derjenigen, denen das
       Gendern potenziell Verständnisschwierigkeiten bereitet, einige Millionen
       Menschen umfasst, während die Anzahl der nichtbinären oder
       intergeschlechtlichen Menschen sich prozentual im niedrigen
       Nachkomma-Bereich bewegt. Zudem ist fraglich, ob ihnen das Gendern
       überhaupt nützt, während die erschwerte Teilhabe konkrete negative
       Auswirkungen hat.
       
       ## Wem Gendern schadet
       
       Für [3][blinde und sehbehinderte Menschen] ist insbesondere das
       Sternchen-Gendern problematisch, mit maschineller Lesehilfe klingt das etwa
       so: „Liebe Leser Stern Innen, unser Autor Stern Innen Team freut sich …“
       Etwas weniger holprig ist der Doppelpunkt als Gendermarker, er wird als
       Pause gelesen.
       
       Der Deutsche Blinden- und Sehbehindertenverband empfiehlt jedoch, auf das
       Gendern durch Satz- und Sonderzeichen generell zu verzichten und
       stattdessen neutrale Begriffe oder Doppelnennung zu verwenden, um die
       Vorlesbarkeit zu gewährleisten.
       
       Der Widerspruch zwischen der gleichstellungspolitischen Willenserklärung
       der Deutschen und der tatsächlichen Umsetzung springt ins Auge. Weder
       neutrale Bezeichnungen wie Abgeordnete (der Frauenanteil im Bundestag
       beträgt 30,7 Prozent) noch gewagt gegenderte Vorständ*innen (der
       Frauenanteil bei den top 200 Unternehmen beträgt 11,5 Prozent) ändern etwas
       an der anhaltenden Ungleichheit.
       
       ## Lieber um Macht als um Zeichen kämpfen
       
       Im Gender-Pay-Gap-Ranking der Europäischen Union belegte Deutschland 2018
       Platz 27 von 28, nur Estland war noch schlechter. Soziale Probleme lassen
       sich nicht symbolisch lösen, das ist Augenwischerei. Die
       spitzenverdienenden männlichen Führungskräfte lehnen sich im Sessel zurück
       und lachen sich ins Fäustchen, wenn wir für das große I und das
       Gendersternchen kämpfen anstatt für Macht und Geld.
       
       Schauen wir uns zum Vergleich den genderneutralen Idealzustand an. In der
       türkischen Sprache gibt es gar kein grammatisches Geschlecht. In puncto
       Gleichstellung gilt die Türkei trotzdem nicht als Vorbild. Sie hat eben
       erst das internationale Abkommen zum Schutz von Frauen vor Gewalt
       verlassen.
       
       Unterm Strich fällt die Kosten-Nutzen-Rechnung für das Gendern nicht
       positiv aus. Zurück zum generischen Maskulinum können wir aber auch nicht.
       Nachdem wir jahrzehntelang Wählerinnen und Wähler, Kolleginnen und Kollegen
       waren, wäre es irritierend, die doppelte Sichtbarkeit wieder abzuschaffen.
       
       Andererseits hält sich das generische Maskulinum ungeachtet aller
       Bemühungen hartnäckig. Ein beachtlicher Teil der Sprachgemeinschaft ist vom
       Gendern gänzlich unberührt bis genervt, empfindet es als Unsinn oder ist
       einfach zu bequem dafür. Eine pragmatische Handhabung ist nach wie vor
       verbreitet und vielleicht eine Überlegung wert: Gendern in der Anrede und
       da, wo es kontextbezogen darauf ankommt, zum Beispiel bei
       Stellenausschreibungen – sonst nicht.
       
       3 Jul 2021
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] https://www.quarks.de/gesellschaft/psychologie/was-gendern-bringt-und-was-nicht/
 (DIR) [2] https://shop.duden.de/products/richtig-gendern
 (DIR) [3] https://www.dbsv.org/gendern.html
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Dörte Stein
       
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