# taz.de -- Machtwechsel im Iran: Die Proteste sind ein Weckruf
       
       > Vor dem Amtsantritt des neuen Präsidenten im Iran demonstrieren Menschen
       > gegen Wassermangel, Stromausfall und Internetzensur.
       
 (IMG) Bild: Ein Grund zu protestieren: Im Juli 2021 in Teheran haben zwei Bäcker keinen Strom in ihrem Laden
       
       Bei 50 Grad Celsius kein fließendes Wasser aus den Leitungen – das war der
       Anstoß für Proteste im Iran, die sich diese Woche auf das ganze Land
       ausgeweitet haben. Seitdem die USA unter Trump das Atomabkommen
       aufgekündigt haben und der Iran vermehrt Uran anreichert, ist zudem die
       Wirtschaft eingebrochen. Hinzu kommen steigende Coronafallzahlen und
       Stromausfälle. Es gibt viele Probleme, die Ebrahim Raisi angehen müsste,
       wenn er am kommenden Donnerstag als Präsident antritt.
       
       Bereits im Mai forderten Arbeiter im Energiesektor höhere Gehälter und
       bessere Arbeitsbedingungen auf den Gasfeldern und in den Raffinerien. Als
       die Temperaturen stiegen und in der ölreichen Region Chusistan das Wasser
       ausging, protestierten [1][Mitte Juli] viele Menschen im Südwesten gegen
       die Wasserknappheit. Nach zwölf Tagen solidarisierten sich auch Leute in
       den Städten Karaj, Kermanschah, Isfahan, Buschehr sowie in der Hauptstadt
       Teheran.
       
       Videos, die Journalist*innen von der Teheraner Demonstration auf
       Twitter geteilt haben, zeigen einen Straßenzug mit hupenden Motorradfahrern
       und jungen Männern, die regierungskritische Parolen wie [2][“Tod dem
       Diktator“] rufen. Einige sind es leid, dass ihre Regierung aus
       Propagandagründen Millionen an militante Organisationen überweist, während
       sie im Dunkeln und auf dem Trockenen sitzen. „[3][Weder Gaza, noch
       Libanon], unser Leben opfern wir nur für den Iran“ ist auf dem Video von
       Protestierenden zu hören. Die halbamtliche Nachrichtenagentur Farsi
       berichtete, die Proteste in Teheran fingen nach einem Stromausfall in einer
       Einkaufspassage an.
       
       Seit Anfang Juli fällt der Strom landesweit über Stunden aus.
       Kritiker*innen werfen der Regierung vor, das Stromnetz sei veraltet und
       schlecht verwaltet. Die Behörden gaben Kryptomining die Schuld: Die vielen
       Computerserver benötigten Unmengen Strom, um digitale Bitcoin-Transaktionen
       zu prüfen. Außerdem würden zu viele Klimaanlagen genutzt.
       
       Das Land erlebt zudem die schwerste Dürre seit 15 Jahren. Menschen im
       südwestlichen Chusistan versuchten sogar, Wasser selbst zu entsalzen, so
       die 27-jährige Mina, die angibt, in der Provinzhauptstadt Ahwas zu leben.
       „Um ehrlich zu sein, ist die Wassersituation in Chusistan absurd. Wir haben
       drei große Flüsse in der Nähe und es sollte keinen Mangel geben. Den gibt
       es nur aufgrund des Missbrauchs der Regierung.“ Die stehle das Wasser für
       Geschäfte der Revolutionsgarden. Tatsächlich beherrscht die Militärmacht
       die wichtigsten Wirtschaftszweige wie Energie, Bau, Telekommunikation,
       Medien, Elektronik, Banken und die Nuklearindustrie. Auch
       Umweltschützer*innen sagen, das Wasser werde für Industrieprojekte
       genutzt.
       
       Nach Angaben der Nachrichtenagentur Reuters zündeten die Menschen in
       Chusistan Reifen an, die Sicherheitskräfte reagierten mit Tränengas,
       Wasserwerfern sowie Schüssen. [4][Amnesty International zufolge] waren die
       Demonstrierenden unbewaffnet, während die Staatskräfte mit scharfer
       Munition und Schrotflinten auf sie schossen. In sieben Städten seien acht
       Demonstrierende oder Passant*innen getötet und Dutzende durch „wahllos
       abgefeuertes Vogelschrot“ verletzt worden.
       
       Informationen über die Proteste sind schwer zu verifizieren. In der Provinz
       ist das Internet seit Tagen ausgeschaltet oder kaum zu empfangen. Selbst
       internationalen Nachrichtenagenturen oder Medien wie der ARD ist es nicht
       gestattet, in die Region zu reisen.
       
       Auch Minas vollständiger Name ist der taz nicht bekannt. Sie ist Mitglied
       der sogenannten Volksmudschaheddin, auch MEK genannt. Die oppositionelle
       Gruppe orientiert sich sowohl am Islam als auch am Kommunismus und strebt
       einen Regimewandel im Iran an. Die MEK hat eine gewaltsame Vergangenheit,
       war am Sturz des Schahs beteiligt, stellte sich aber dann gegen die
       Islamische Republik und wurde zeitweise von der EU als Terrororganisation
       eingestuft. MEK-Anhänger*innen verschweigen ihre Identität und
       kommunizieren nur über Sprachnachrichten. Gruppen wie die
       Volksmudschaheddin haben ein gesteigertes Interesse daran, die Aktivitäten
       prominent in die Öffentlichkeit zu bringen.
       
       ## Das Netz, ein Dorn im Auge des Regimes
       
       Sicherlich groß war der Widerstand gegen ein Gesetz zur verstärkten
       Internetzensur. Am Mittwoch stimmten 121 von 209 anwesenden
       Parlamentsmitgliedern dafür, das Internet zu nationalisieren. Offiziell
       sollen Alternativen zu amerikanischen Onlinediensten wie etwa Facebook
       entstehen. Praktisch könnte es jedoch bedeuten, dass noch mehr Plattformen
       geblockt werden. Soziale Medien wie Twitter oder Signal können nur mit
       Datentunneln, sogenannten VPNs, genutzt werden.
       
       Außerdem sind zahlreiche amerikanische Webseiten unzugänglich. Nun fürchten
       die Menschen, dass auch beliebte Dienste wie Whatsapp oder Instagram
       gesperrt werden könnten und die Nutzung von beispielsweise Telegram mit
       Haft geahndet wird. Rund 50 Millionen Iraner*innen nutzen Instagram –
       nicht nur, um sich zu vernetzen, sondern auch, um Geschäfte zu machen und
       Produkte zu vermarkten.
       
       Nutzer*innen und Geschäftsbesitzer*innen protestierten über
       Twitter, und auch aus den Reihen der Regierung hagelte es Kritik. „Dieses
       Gesetz spaltet die Gesellschaft wie ein Hackmesser“, [5][twitterte
       Kulturminister Abbas Salehi am Mittwoch]. Sogar das fürs Internet
       zuständige Kommunikationsministerium ist dagegen. Vizeminister Amir Nasemi
       nannte das neue Gesetz „irrational, illegitim und letztendlich zum
       Scheitern verurteilt“. Der Parlamentspräsident ruderte daraufhin etwas
       zurück und verkündete – über Instagram –, man wolle Instagram und Whatsapp
       nicht blockieren. Der sogenannte Wächterrat muss das Gesetz noch
       bestätigen.
       
       Dem Regime ist das freie Internet hinderlich, da es die Deutungshoheit der
       staatlichen Medien untergräbt. Auch als die Bevölkerung im Herbst 2019
       massenhaft gegen steigende Benzin- und Lebensmittelpreise sowie Korruption
       auf die Straße ging, kappte die Regierung das Internet. Bis heute ist
       unklar, wie viele Menschen verletzt und getötet wurden. Human Rights Watch
       spricht von 300 Menschen, die Nachrichtenagentur Reuters kam bei Recherchen
       auf 1.500 Tote. Für Aufsehen sorgte vor allem die Exekution des
       Star-Ringers Navid Afkari. Die Regierung warf ihm vor, bei einem Protest im
       November 2018 einen Mitarbeiter der staatlichen Wasserversorgung getötet zu
       haben. Obwohl Afkari seine Unschuld beteuerte, wurde er exekutiert.
       
       ## Umfang der Proteste unklar
       
       Dem neuen Präsidenten schlägt jetzt der Unmut entgegen. Vor seiner Wahl im
       Juni gaben bei einer Straßenumfrage der taz in Teheran Menschen an, sie
       gingen nicht wählen oder machten ihre Stimme unkenntlich. Entsprechend
       wurde Raisi mit einer historisch niedrigen Wahlbeteiligung ins Amt gehoben.
       Nur knapp 49 Prozent stimmten nach offiziellen Angaben für ihn, nachdem der
       Wächterrat schon vorher viele Kandidaten aussortiert hatte. Dem Wahlboykott
       auf Zetteln folgen nun Rufe nach Wasser und Strom auf den Straßen.
       
       Wie groß diese Proteste in ihrem Umfang sind, sei aus dem Ausland schwer
       abzuschätzen, sagt Adnan Tabatabai. „Ich würde zu diesem Zeitpunkt
       jedenfalls nicht von Massenprotesten sprechen.“ Tabatabai ist
       Geschäftsführer von Carpo, einem Forschungszentrum über Mittelost mit Sitz
       in Bonn, das sich aus öffentlichen Geldern der EU finanziert. Der
       Irananalyst gibt zu bedenken, dass „im Iran regelmäßig friedliche Proteste
       stattfinden. Da gibt es selten Zusammenstöße mit den Sicherheitskräften,
       und das ist mehrmals im Monat in verschiedenen Landesteilen zu beobachten.“
       Interessenverbände oder Syndikate organisierten in Fabriken Sitzstreiks,
       Lehrerverbände kämen vor dem Bildungsministerium zusammen.
       
       „Was man häufig aus den Augen verliert, ist die Verhältnismäßigkeit der
       Demonstrationen und der Menschen, die auf die Straße gehen im Vergleich zu
       der Gesamtbevölkerung“, sagt Tabatabai. Damit wolle er nicht sagen, dass
       eine kleine Demo keine Legitimität habe. „Doch wenn die Frage lautet: Ist
       das etwas, das die Strukturen der Islamischen Republik erschüttert? Dann
       sehe ich das Land weit davon entfernt, dass diese Proteste grundsätzlich zu
       einer Umbruchstimmung führen.“ Die Diskussion über das schlechte
       Wassermanagement, über den Bau von Staudämmen und die Umleitung von Flüssen
       gebe aber Hoffnung, dass sich die Wasserversorgung verbessere. „Die
       Proteste sind in dieser Form ein starker Weckruf.“
       
       31 Jul 2021
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] https://twitter.com/KianSharifi/status/1415927146992832514
 (DIR) [2] https://twitter.com/FareenAssemi/status/1419585221796761601
 (DIR) [3] https://twitter.com/NatalieAmiri/status/1419638725198364673
 (DIR) [4] https://www.amnesty.de/informieren/aktuell/iran-khuzestan-niederschlagung-proteste-waffengewalt
 (DIR) [5] https://twitter.com/S_A_Salehi/status/1420382515777445900
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Julia Neumann
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Wahlen im Iran
 (DIR) Wassermangel
 (DIR) Schwerpunkt Iran
 (DIR) Protest
 (DIR) GNS
 (DIR) Ebrahim Raisi
 (DIR) Stromausfall
 (DIR) Schwerpunkt Iran
 (DIR) Schwerpunkt Iran
 (DIR) Israelische Armee
 (DIR) Schwerpunkt Afghanistan
 (DIR) Schwerpunkt Iran
 (DIR) Atomabkommen mit Iran
 (DIR) Atomabkommen mit Iran
 (DIR) Lesestück Recherche und Reportage
 (DIR) Ebrahim Raisi
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Israelhass des iranischen Mullah-Regimes: Von Rohani zu Raisi
       
       Der Iran wird von korrupten Islamisten-Gangs regiert. Das Kabinett Raisi
       gleicht nun einer Ansammlung von Schwerverbrechern. Wie reagiert die EU?
       
 (DIR) Festival Tehran Contemporary Sounds: Wenn es Schriftzeichen prasselt
       
       Experimentierwille ohne Dogma: Eindrücke vom elektronischen Festival
       „Tehran Contemporary Sounds“ im Berliner Kunstquartier Bethanien.
       
 (DIR) Reaktion auf „Brandballons“: Israel greift Hamas-Ziele an
       
       Der Grenzzaun am Gazastreifen ist seit dem Wochenende wiederholt Schauplatz
       massiver Auseinandersetzungen zwischen den Hamas und Israel.
       
 (DIR) Menschenrechte im Iran: Ein mörderisches Regime
       
       Geht es um die Aufnahme von Afghanen, ist oft vom Iran die Rede. Dabei darf
       bei Gesprächen mit Teheran die Folter von Regimekritiker:innen dort
       nicht vergessen werden.
       
 (DIR) US-Strafmaßnahmen gegen Iran: Sanktionierte Gesundheit
       
       Irans Wirtschaft liegt am Boden, auch weil Trumps Sanktionen weiter gelten.
       Obwohl offiziell ausgenommen, ist auch der Gesundheitssektor betroffen.
       
 (DIR) Drohnenangriff auf Tanker: Israel beschuldigt Iran
       
       Der israelische Ministerpräsident Naftali Bennett macht Iran für den
       Drohnenangriff auf einen Tanker verantwortlich. Teheran weist die
       Beschuldigung zurück.
       
 (DIR) Atomverhandlungen mit Iran: „Spiel mit dem Feuer“
       
       Die Wiener Atomverhandlungen stocken, nun will Iran Uranmetall herstellen.
       Die USA warnen vor „provokativen Schritten“.
       
 (DIR) Alltag in Teheran: Tanz auf dem Vulkan
       
       Frauen tragen das Kopftuch nur um den Hals. Im Café wird Wodka
       ausgeschenkt. Regelbrüche sind normal. Aber die Konsequenzen
       unkalkulierbar.
       
 (DIR) Oppositionelle über Wahl im Iran: „Frauen selbst bringen den Wandel“
       
       Trump hatte recht und Irans Reformer sind machtlos, sagt die iranische
       Oppositionelle Faezeh Haschemi Rafsandschani. Sie hofft auf Druck von
       unten.