# taz.de -- Bilder aus Afghanistan: Was wir sehen und was nicht
       
       > Der Krieg in Afghanistan produziert schockierende Bilder. Wir müssen auch
       > darauf achten, was und wen sie nicht abbilden.
       
 (IMG) Bild: Entstelle Frauengesichter in Werbeplakaten eines Schönheitssalons. Kabul am 20. August
       
       Als ich diese Woche an meinem Handy klebte, um die Nachrichten aus
       Afghanistan zu verfolgen, musste ich an Susan Sontags Essay [1][„Das Leiden
       der anderen betrachten“] denken. Sie schreibt darin über das Privileg
       derer, die einen Krieg nicht selbst erleben, sondern durch Bilder erfahren.
       Der Text ist von 2003. Inzwischen, 18 Jahre später, kommen die Bilder viel
       schneller, aus mehr Perspektiven. Aber auch heute gilt, worauf Sontag
       damals hinwies: Die Drastik der Kriegsbilder darf nicht davon ablenken, was
       wir nicht sehen. Wessen Leid nicht dokumentiert wird.
       
       Wir sehen Menschenmassen am Kabuler Flughafen, kaum Individuen. Wir sehen
       Männer, kaum Frauen. Wir sehen Jugendliche, die lieber von einem Flugzeug
       aus in den sicheren Tod stürzen, als in Afghanistan zu bleiben. Zwei
       schwarze Punkte am Himmel. [2][Brüder, 16 und 17 Jahre alt, wird vermutet.]
       Was wir nicht sehen: Die, die zurückgelassen wurden. Die zu Hause blieben,
       weil sie zu alt oder krank sind. Die zu große Angst hatten, die sich
       verstecken und in ihren Wohnzimmern verzweifeln. In den Nachrichten spricht
       manchmal einer oder eine von ihnen, das Gesicht zum eigenen Schutz
       verpixelt.
       
       Wir sehen Menschen in Evakuierungsflugzeugen. Auch hier vor allem junge
       Männer. Braune Haut, schwarze Haare. Wie viele in Europa erkennen in ihnen
       nicht mehr als eine Bedrohung? Und wie schamlos sind die, die ihnen
       vorwerfen, sich nicht in den Kampf gegen die Taliban zu stürzen, den die
       Nato selbst als aussichtslos ansah?
       
       ## Mauern der Bürokratie und tödliches Versagen
       
       In den Flugzeugen sitzen die wenigen Glücklichen. Vom Schicksal der
       allermeisten, die es nicht herausgeschafft haben, werden wir nie erfahren.
       Und auch die Gesichter derjenigen, die in ein paar Wochen oder Monaten auf
       dem Mittelmeer von Frontex zurückgedrängt werden oder für Jahre in
       Flüchtlingslagern festhängen, werden wir kaum sehen. Es wird wieder die
       Rede von einer Welle sein. Als hätte das Meer das alles zu verschulden.
       
       Wir sehen Talibankämpfer mit Kalaschnikows im Präsidentenpalast, in den
       Straßen von Kabul. Wir sehen ihren Versuch, eine Normalität zu
       etablieren, der Welt zu zeigen, dass sie in der Lage sind, ein Land zu
       regieren. Und die ersten Zuschauer*innen dieses Krieges fallen darauf
       rein, schauen weg, wird schon gut gehen. Wir sehen Straßenaufnahmen ohne
       weibliche Gesichter. Burkas, wenn überhaupt. Und dann, plötzlich, eine
       mutige Demonstration, am Tag der Unabhängigkeit. Wann waren die
       Afghan*innen zuletzt unabhängig?
       
       Susan Sontag schreibt in ihrem Essay, dass „wir“ nicht vergessen dürfen,
       dass auch „sie“ sehen. Was sehen sie? Die Mauern der Bürokratie, tödliches
       Versagen, das inzwischen „Managementfehler“ genannt wird. Die USA und
       Europa, die sie verraten haben und über Nacht abgezogen sind. China und
       Russland, die sich bereit machen.
       
       ## Mitgefühl kann einlullen
       
       Mitleid ist ein volatiles Gefühl, schreibt Sontag. Ist ein Krieg zu
       verworren, der Konflikt scheinbar nicht zu lösen, wenden sich viele ab.
       Wenn es nichts gibt, das „wir“ tun können, und nichts, das „sie“ tun
       können, werden wir zynisch, gelangweilt, apathisch. Passivität lässt
       abstumpfen und Nähe sich einzig über Mitgefühl herstellen. So lange wir
       mitfühlen, stehen wir auf der richtigen Seite, oder?
       
       Mitgefühl heißt Unschuld heißt Machtlosigkeit. Mitgefühl kann einlullen und
       davon ablenken, dass unser Wohl mit dem Leid der anderen verbunden ist.
       Viele Deutsche haben sich gerade erst wieder an den Krieg in Afghanistan
       erinnert. Dabei ist und war Deutschland beteiligt. Mitgefühl reicht nicht.
       Hinsehen, auch nachdem das letzte Evakuierungsflugzeug abgehoben ist, ist
       das Mindeste.
       
       21 Aug 2021
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] https://monoskop.org/File:Sontag_Susan_2003_Regarding_the_Pain_of_Others.pdf
 (DIR) [2] https://www.vice.com/en/article/jg84gg/afghan-fall-plane-kabul-teenager
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Viktoria Morasch
       
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