# taz.de -- Die Wahrheit: Tausendsassa Ophioiulus nigrofuscus
       
       > Die lustige Tierwelt und ihre ernste Erforschung (128): Die wurmigen
       > Tausendfüßer haben mitnichten unzählige Füße – da irrte die BRD.
       
 (IMG) Bild: Der Körper der Tausendfüßer besteht aus paarweise verschmolzenen Körperringen
       
       Die Tausendfüßer gehören zum Stamm der Gliederfüßer (Arthropoda), und dort
       zum Unterstamm Tracheentiere. Sie sind meist wurmförmig, zwischen zwei und
       28 Zentimeter lang und wegen ihrer vielen Beine manchmal ziemlich schnell.
       Die Tiere leben fast durchweg an Land – unter feuchten Steinen, Blättern,
       Baumrinden oder in Kellern. Sie besitzen stets ein Paar Fühler und zum
       Atmen verzweigte Luftröhren, die Tracheen.
       
       So weit ist ihre Beschreibung und Einordnung in die Systematik
       gesamtdeutsch – doch ihre Klassenzugehörigkeit wurde und wird in West und
       Ost unterschiedlich gefasst. In „Grzimeks Tierleben“ gehören sie zu den
       Myriapoda, im „Urania Tierreich“ der DDR zu den Diplopoda. Im famosen
       US-„Leitfaden“ der Zellbiologinnen Lynn Margulis und Karlene V. Schwartz
       „Die fünf Reiche der Organismen“ gehören die Tausendfüßer als Gliederfüßer
       zur Überklasse der Uniramia, auch Tracheata genannt, in der sie als
       Diplopodia eine von fünf Klassen darstellen.
       
       Die anderen vier Tracheata-Klassen sind „die Hundertfüßer, die Wenigfüßer,
       die nur neun oder zehn Beinpaare und verzweigte Antennen aufweisen, die
       Zwergfüßer, mit zehn bis zwölf Beinpaaren, und – als bei weitem
       artenreichste Gruppe – die Insekten.“ Holla, die Waldfee! Die westdeutschen
       Myriapoden gibt es nämlich bei Margulis/Schwartz ebensowenig wie in der
       DDR. Den BRD-Übersetzern ihres „Leitfadens“ gelang es jedoch, das Wort noch
       schnell im Index unterzubringen, wo es nun Verwirrung stiftet.
       
       Die DDR-Philologen und -Systematiker waren im Zweifelsfalle genauer als die
       der BRD – und das ist auch hier der Fall, denn die etwa 11.000 bis 12.000
       Diplopoda-Arten haben alle mindestens 13 Beinpaare, im Höchstfall jedoch
       nur 340, etwa die in den Tropen lebende Art Siphonophorella progressor.
       Unter den europäischen Formen erreichen Weibchen der in den Alpen lebenden
       Art Ophioiulus nigrofuscus mit 121 Beinpaaren die höchste Extremitätenzahl.
       Der Klassenbegriff Myriapoda (unzählige Füße) ist also übertrieben, während
       Diplopoda (Paarbeinige) es besser trifft.
       
       ## Schwankende Zahl der Beinpaare
       
       Der Körper der sogenannten Tausendfüßer besteht nämlich aus paarweise
       verschmolzenen Körperringen, an denen sich jeweils zwei Beinpaare befinden
       – bis auf das vordere Segment, das extremitätenlos ist. Manchmal schwankt
       die Zahl der Beinpaare auch innerhalb einer Art, bei den geschlechtsreifen
       Männchen der heimischen Leptophyllum nanum etwa zwischen 67 und 111.
       Generell gilt, dass die Zahl der „Doppelringe“ sich von Häutung zu Häutung
       vermehrt – und damit auch die der Doppelbeinpaare. Die „Schwankungsbreite“
       zwischen den Arten könnte laut „Grzimeks Tierleben“ darauf hindeuten, „dass
       die Tausendfüßer keine stammesgeschichtliche Einheit darstellen.“
       
       Die Keimdrüsen der Tausendfüßer befinden sich im Bereich der Hüften des
       zweiten Beinpaares. Das Männchen nimmt den Samen mit zu diesem Zweck
       umgestalteten „Begattungsfüßen“ auf und übergibt ihn dem Weibchen. Einige
       Arten leben nur ein Jahr, bei vielen stirbt das Männchen nach der
       Begattung. Bei den „Schnurfüßern“ häutet sich das Männchen danach jedoch
       und hat dann erst einmal nur noch rückgebildete, lediglich durch Knospen
       angedeutete Fortpflanzungsorgane. Es gleicht damit erneut einem vor der
       ersten Reifehäutung stehendem Tier. Durch eine zweite Häutung ist es dann
       wieder begattungsfähig.
       
       ## Sylter Form der Tausendfüßer
       
       Diese Tausendfüßer-Art kann sich also durch Sexualität mehrmals verjüngen –
       und wird damit älter als die meisten anderen Arten (viele alte reiche Amis
       und Saudis setzen wohl noch auf diesen Trick). Bei den in Mitteleuropa
       vorkommendenden „Pinselfüßern“, die sich mittels Jungfernzeugung vermehren,
       hat sich daneben auf der Prominenteninsel Sylt eine von ihnen
       fortentwickelte zweigeschlechtliche Form herausgebildet.
       
       Die meisten Tausendfüßer ernähren sich von abgestorbenen Pflanzenteilen,
       die sie mit ihren Beißorganen (Mandibeln) zerkleinern. Einige sind sehr
       wehrhaft, ihr Biss kann beträchtliche Schmerzen verursachen. Zum Lichtsehen
       haben die Tiere am Kopf Anhäufungen von Einzelaugen (Ocellen), die ihnen
       jedoch kein Bild liefern, dafür können sie mit den Sinneszapfen und
       Sinneskegeln an den Fühlern chemisch wahrnehmen. Eine Unterordnung, die
       „Bandfüßer“, ist sogar stets blind, sie hat dafür in der hinteren
       Körperhälfte einen flügelartigen Fortsatz, auf dem Wehrdrüsenporen liegen.
       Damit scheiden sie Blausäure aus. Eine Zoologin, die diese Tiere einmal in
       Afrika in einem Plastiksack sammelte, machte die Erfahrung, dass sie sich
       damit im luftdichten Sack alle selbst vergiftet hatten.
       
       ## Stärkstes Gift wo gibt
       
       Die „Schnurfüßer“ produzieren sogar ein noch stärkeres Gift, eine
       Verbindung zweier Chinone, die stark schleimhautreizend wirkt. Bei den
       „Saftkuglern“ ist dies ein Alkaloid – das so bitter ist, dass eine Maus,
       die einmal ein solches Tier in den Mund genommen hat, es wohl nie wieder
       tun wird. Während die zu den „Schnurfüßern“ zählende Art Schizophyllum
       sablosum sich mit einer auffallend gelben „Warnfärbung“ begnügt.
       
       Die Nemaphotora besitzen Spinndrüsen, mit denen sie seidenartige Gespinste
       herstellen, die ihnen Schutz bieten, ebenso ihrem Eigelege. Bei den
       „Wehrhaften“ handelt es sich meist um Unterklassen und deren Ordnungen bzw.
       Überordnungen. Die meisten Tausendfüßer-Arten rollen sich bei Gefahr bloß
       spiralförmig ein und sind deswegen harmlos.
       
       Seit einigen Jahren werden die großen tropischen Arten zunehmend als
       Terrarientiere gehalten. Sie lernen, ihren Besitzer von anderen Menschen zu
       unterscheiden, wahrscheinlich über den Geruch. Im Netz gibt es eine
       informative Seite namens diplopoda.de, dort erfährt man alles über Haltung,
       Pflege, Fütterung und Nachzucht der „Wörmi“ beziehungsweise „Tausi“. Sie
       wird von zwei westdeutschen Terrarianern betreut.
       
       Im Osten gibt es seit 1992 das Magazin für Wirbellose im Terrarium –
       Arthropoda. Es wird von der Zentralen Arbeitsgemeinschaft Wirbellose im
       Terrarium (ZAG) herausgegeben. Die ZAG war früher einmal im Kulturbund der
       DDR, heute kooperiert sie gelegentlich mit den westdeutschen Zentralorganen
       der Terraristik, Reptilia, Draco und Terraria, in denen ebenfalls
       gelegentlich über Tausendfüßer berichtet wird.
       
       Ihr Weddinger Chefredakteur Heiko Werning meint: „Die DDR-Terraristik war
       sehr gut. Weil die Tiere Mangelware waren, da man sie nicht einfach im
       Laden neu kaufen konnte, wenn sie einem starben, hat man sich dort wohl
       mehr Mühe bei der Haltung, Pflege und Aufzucht gegeben als im Westen.“
       
       2014 führten Wissenschaftler des Senckenberg Forschungsinstituts in Görlitz
       eine Inventur der in deutschen Gewächshäusern lebenden Tausendfüßer durch.
       Dabei fanden sie 18 zugewanderte Arten, die bisher noch nicht in
       Deutschland entdeckt wurden. Zwei der Tausendfüßer wurden das erste Mal in
       Europa nachgewiesen.
       
       30 Aug 2021
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Helmut Höge
       
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