# taz.de -- Freiräume auf Flachdächern: Aufs Dach gestiegen
       
       > Das Berliner Projekt „Operation Himmelblick“ will Dächer als Freiräume
       > für die Nachbarschaft erschließen. Die Idee könnte Vorbildcharakter
       > haben.
       
 (IMG) Bild: Die „Operation Himmelblick“ präsentiert der Nachbarschaft, das zukünftige Dach aussehen könnte
       
       BERLIN taz | Der Himmel über Berlin ist in Zeiten von Wohnraummangel,
       Nachverdichtung und Bebauung einer der wenigen verbliebenen Freiräume über
       der Stadt. Vom Flachdach eines Mehrfamilienhauses, eines vielstöckigen
       Plattenbaus oder Hochhauses aus hat man einen wunderbaren Blick bis zum
       Horizont.
       
       Doch auch in diesen Freiräumen bahnt sich das Kapital seinen Weg:
       Angesichts steigender Bodenpreise lohnt sich immer häufiger die
       kommerzielle Nutzung von Dächern. Hausbesitzer*innen haben längst
       begonnen, Dachgeschosse auszubauen, Penthouses auf Flachdächer zu setzen
       oder betonwüstige Parkhausdecks in kommerzielle und instagramtaugliche
       Dachgärten für Aperol-Spritz-Publikum umzuwandeln.
       
       Ein Berliner Projekt hat sich entschlossen, dem etwas entgegenzusetzen. Das
       stadtpolitische Kollektiv Stadtgewitter e. V. hat die [1][„Operation
       Himmelblick“] gestartet. Mit dem Konzept nichtkommerzieller Dachnutzungen
       haben in dem Verein organisierte Künstler*innen von der Universität der
       Künste UdK und der Kunsthochschule Weißensee sowie Architekt*innen aus
       dem Urbanistikbereich eine Förderung über 50.000 Euro vom Senat bekommen
       und sich viele Gedanken gemacht über Dachflächen in der nachverdichteten
       Stadt. Seit anderthalb Jahren arbeiten sie dafür, ein Nutzungskonzept für
       Dächer von Plattenbauten zu erarbeiten, wie es sie in Berlin Zehntausende
       gibt.
       
       Ein erster Versuchsballon für einen solchen Nachbarschaftsdachgarten
       startet nun in der Leipziger Straße in Mitte – auf einem Plattenbau mit 180
       Wohnungen unweit vom Alexanderplatz. Letzte Statikprüfungen und
       Baugenehmigungen stehen zwar noch aus, einen Vorgeschmack gibt es schon:
       Die Künstler*innengruppe hat ein begehbares Modell im Innenhof des
       riesigen Gebäudekomplexes installiert, das verdeutlichen soll, wie die
       Nutzung des Daches aussehen könnte.
       
       ## Hochbeete, Teeküche, ökologisches Begrünungskonzept
       
       Der Boden dieser kleinen Aussichtsplattform besteht aus Holzpolygonen, die
       sich modular und flexibel zusammenschrauben lassen, wie die Künstlerin Zora
       Hünermann vor Ort interessierten Nachbar*innen erklärt, die vor Kurzem
       zu einer Konzeptvorstellung des Projekts gekommen sind. Aus den Aufbauten
       in organischen Formen könnten etwa Hochbeete, Sitzpodeste oder Liegeflächen
       entstehen, ebenso finden sich in den Entwürfen eine zentrale Teeküche und
       ein kleiner Pavillon.
       
       Es sei allerdings alles variabel: Die Polygone seien „eine flexible
       Möglichkeit, Fläche zu erschließen“, sagt Hünermann. Auseinandergeschraubt
       passen die Elemente in einen Fahrstuhl, man brauche also keine Baustelle,
       um solche Plattformen auf dem Dach zu errichten.
       
       Wie genau die Plattform später auf dem Dach ausgestaltet wird, soll im
       Austausch mit der Nachbarschaft geplant werden. Dass dabei ein bereits
       vorhandenes ökologisches Begrünungskonzept zum Tragen kommen soll, versteht
       sich von selbst. Auf der Plattform hängen bunte Entwürfe, die zusammen mit
       dem begehbaren Modell für eine recht konkrete Vorstellung sorgen.
       
       [2][Jakob Wirth], einer der Initiator*innen des Projekts, sagt der taz:
       „Unsere Kernfrage war: Wie ist es möglich, dass Bewohner*innen die
       letzten ungenutzten Flächen der Stadt zugänglich gemacht werden können?“
       Noch seien Dachflächen in Berlin ökonomisch nicht stark verwertet, deswegen
       sei es noch möglich, diese gemeinwohlorientiert zu nutzen. Aus der Idee
       soll ein Pilotprojekt werden – im besten Falle mit dem Ergebnis, dass
       Dachnutzung für die Nachbarschaft möglich wird.
       
       ## „Die Umkehrung der Penthouse-Logik“
       
       „Wir wollen die Forderung aufstellen: Die Dächer denen, die drunter
       wohnen!“, sagt Wirth, „es soll keine hippe Rooftop-Bar mit Konsumzwang
       entstehen, sondern ein Freiraum auch für Menschen, die mit oder ohne
       Wohnberechtigungsschein hier wohnen. Wir wollen privilegierte Räume für
       Nicht-Privilegierte nutzbar machen – die Umkehrung der Penthouse-Logik.“
       
       Bei allen schönen Visionen gibt es allerdings auch Fallstricke: „Der
       französische Architekt Le Corbusier hat in den Sechzigern in Marseille
       schon mal ein ähnliches Projekt für gemeinschaftliche Dachnutzung in
       Sozialbauten gemacht. Aber die Dachnutzung scheiterte letztlich, weil dort
       Angsträume entstanden sind und es verwahrloste – bis die Dächer irgendwann
       wieder geschlossen wurden“, so Wirth.
       
       Um das in der Gegenwart zu verhindern, sei ein „Community Building-Prozess“
       in der Nachbarschaft wichtig, wie Wirth sagt – die Nachbarschaft müsse die
       Verantwortung für ihr Dach übernehmen und kollektiv regeln, wie die Nutzung
       aussehen soll. Für die Öffentlichkeit soll das Dach zunächst nur punktuell
       zugänglich sein.
       
       Das Stadtgewitter-Kollektiv will sich in anderthalb Jahren so „überflüssig
       machen“ und einer selbst organisierten Hausgemeinschaft ein selbst
       verwaltetes Dach überlassen. Letztlich sei der Plan, dass das Projekt ein
       Modellprojekt werde, das mit modularer Bauweise und günstigen Mitteln auf
       viele Häuserdächer passe. Damit das klappt, muss die Nachbarschaft
       mitmachen, sagt Wirth. Zur Vernetzung organisiert das Kollektiv kleine
       Konzerte, Veranstaltungen und Plattform-Dinner für alle Nachbar*innen,
       ebenso gab es bereits eine kleine Feier zur Einweihung.
       
       Zu der vor Kurzem vermutlich für viele eher drögen Konzeptvorstellung sind
       nicht viele gekommen. Aber doch diejenigen, die Multiplikatoren in ihrer
       Hausgemeinschaft sind: So sind zwei Frauen vom bereits im Haus vorhandenen
       Mieterbeirat da. Sie finden die Idee prima und wollen die Informationen in
       ihre Kreise weitergeben. Auch ein Rentner-Ehepaar ist gekommen und wirkt
       begeistert. Ein anderer älterer Herr meldet sich nach einer Weile und sagt:
       „Ihr macht das alles ganz prima, lasst euch bloß nicht zu viel reinreden.
       Irgendwer hat schließlich immer was zu meckern!“
       
       Dass es angesichts vieler Plattenbauten in Berlin viele nutzbare Dächer
       geben müsste, ist unstrittig. Wie viele es genau sind, kann die Verwaltung
       für Stadtentwicklung und Wohnen auf Nachfrage nicht sagen.
       
       ## Eine Idee auch für andere Plattenbauen?
       
       Wirth ist sich allerdings sicher, dass auf Berlins Flachdächern viel zu
       holen ist: In stadtpolitischen Initiativen, die sich europaweit mit dem
       Thema beschäftigen, werde die Zahl der Dachflächen für Mitteleuropa im
       Durchschnitt auf 15 bis 30 Prozent der Stadtfläche beziffert – in Berlin
       mit weiträumiger Bebauung dürfte dieser Wert allerdings eher am unteren
       Ende liegen. In der Regel seien rund zwei Prozent der Dächer nutzbar,
       schätzt Wirth. Für das Dach in der Leipziger Straße fehlt bislang
       allerdings noch die Baugenehmigung. Wenn alles reibungslos klappt, könnte
       das Flachdach im nächsten Sommer für die Nachbarschaft öffnen.
       
       Ein bisschen auf die Euphoriebremse tritt derzeit noch Stephan Lang von der
       kommunalen Wohnungsbaugesellschaft Mitte (WBM), der die Immobilie in der
       Leipziger Straße gehört. „Wir sind noch ganz am Anfang“, sagt Lang. Nach
       der Evaluierung einer möglichen Pilotphase im kommenden Jahr, werde man
       schauen, ob das Projekt möglicherweise auch etwas für andere Häuser sein
       könne. „Deswegen ist es jetzt auch zu früh, über Potenzialflächen in
       unserem Bestand zu spekulieren. Oft sind die Dächer nicht begehbar, die
       Nutzung wegen Mobilfunkantennen oder anderer Aufbauten schwierig oder
       unmöglich“, sagt Lang.
       
       Aber die Idee des Stadtgewitter-Kollektivs sei zweifelsohne sehr charmant,
       sagt Lang – die Kooperation mit „Himmelblick“ sei man eingegangen, weil die
       WBM immer daran interessiert sei, für ihre Mieter*innen – zumal in der
       dicht besiedelten Innenstadt – Freiräume und Orte der Begegnung zu
       schaffen. Man praktiziere das bereits sehr erfolgreich mit Mietergärten und
       grünen Innenhöfen. Lang sagt: „Mit der Kooperation wollen wir herausfinden,
       ob Dächer ebenfalls eine Option sein könnten.“
       
       20 Aug 2021
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] http://www.operation-himmelblick.org/
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