# taz.de -- Buch über das Alleinsein: Depressiv in Wanderschuhen
       
       > Daniel Schreibers Essay „Allein“ erkundet Einsamkeit in der Pandemie. Das
       > Persönliche verwebt er geschickt mit dem Gesellschaftspolitischen.
       
 (IMG) Bild: Der Autor Daniel Schreiber: seine literarische Methode ist die Selbstentblößung
       
       Es wird Herbst in Deutschland und der Würgegriff der Pandemie beginnt sich
       zu lockern. Zeit, zurückzuschauen und sich zu fragen, welchen Abdruck in
       der Psyche die letzten anderthalb Jahre hinterlassen haben. Was haben der
       Wegfall gemeinsamer Erlebnisse, das Im-eigenen-Saft-Schmoren im
       kernfamiliären Kreis- oder das Zurückgeworfen-Sein auf das eigene
       Singleleben, mit uns gemacht?
       
       [1][Daniel Schreibers] Essay „Allein“ ist eine seelische Bestandsaufnahme,
       und zwar eine radikal persönliche. Wie in seinen vorherigen Reflexionen
       über das Trinken und das Zuhause, kreist auch diese Erkundung zunächst um
       den Autor selbst: Die Leserin begleitet den Berliner Mittvierziger dabei,
       wie er mit Freunden in Brandenburg einen Garten anlegt, leicht depressiv
       einen Schreibaufenthalt in Luzern antritt und sich dort ein Paar
       Wanderschuhe kauft, um wieder Tritt zu fassen. Um dann in der Pandemie den
       Mut zu verlieren.
       
       „Es gab Tage, an denen ich kaum wahrnahm, wie einsam ich mich fühlte. An
       anderen Tagen überwältigte mich das Gefühl. Ich musste mir bewusstmachen,
       dass es Sinn ergab, meinen täglichen Betätigungen nachzugehen.
       
       Immer wenn ich irgendwo las, wie viel Zeit die meisten Leute jetzt hatten,
       wie sie die Pandemie nutzten, um neu zu sich zu finden, das eigene Leben zu
       überdenken, um sportlicher zu werden oder neue Sprachen zu lernen, spürte
       ich einen gewissen Neid, manchmal sogar eine unterschwellige Wut. Ich war
       so sensibel und fragil geworden, dass alles an mir rühren, mich alles
       erschüttern konnte.“
       
       ## Selbstentblößung als Methode
       
       Schreibers literarische Methode ist die Selbstentblößung. Dabei zu sein,
       wie ihm der Schutzmantel des kosmopolitischen
       Großstadtintellektuellen fortgerissen wird, unter dem Einsamkeit und
       schwuler Selbsthass lauern, lässt Unbehagen aufkommen. Auch weil das
       beschriebene Elend zwar ein reales sein mag, doch auch recht privilegiert:
       Wer hätte nicht gern ein paar Monate auf Lanzarote verbracht, um den Kopf
       frei zu bekommen?
       
       Doch der Autor, der schon für verschiedene Publikationen wie Monopol,
       Cicero und die [2][taz arbeitete], belässt es nicht bei der Nabelschau. Und
       reflektiert seine Privilegien als kinderloser, weißer
       Mittelschichtsakademiker ebenso mit wie die bürgerliche Tradition von deren
       literarischer Verarbeitung.
       
       Das Persönliche verwebt er geschickt – und so unverkrampft, wie es sonst
       nur angloamerikanische Essayistinnen von Hannah Arendt bis Rebecca Solnit
       vermögen – mit kulturhistorischen Reflexionen und aktuellen
       wissenschaftlichen Erkenntnissen aus Psychologie, Sozialforschung, Queer
       Studies und Medizinwissenschaft. Wie in dieser Passage über die Entfremdung
       von Freunden: „Der Mensch, der einem einmal so nahestand, ist zwar noch da,
       zugleich aber auch nicht.
       
       In mancher Hinsicht kommt das einem ‚uneindeutigen Verlust‘ gleich. Dieses
       Konzept geht auf die Psychologin Pauline Boss zurück und beschreibt einen
       Verlust, bei dem unklar bleibt, was genau man verloren hat. Einige der
       bekanntesten und am besten erforschten Beispiele sind die Trauer um
       Menschen mit Demenz, deren Persönlichkeit immer mehr verschwindet, oder die
       Trauer um Vermisste, von denen man annehmen muss, dass sie tot sind.“
       
       ## Unreal estates bewohnen
       
       Obwohl der Text nur so sprudelt vor Querverweisen von Sitcoms bis Roland
       Barthes, und immer wieder vom Privaten ins Gesellschaftspolitische
       springt, bleibt er strukturiert, tastet sich methodisch am Thema
       Einsamkeit/Alleinsein entlang, mit interessanten Referenzen, vor allem zu
       Texten weiblicher Autorinnen von Olivia Laing bis Audre Lorde.
       
       Anregend sind die Einladungen zum Weiter-Nachdenken: Über den Wert der
       Freundlichkeit, die Ambivalenz freundschaftlicher Beziehungen, das Konzept
       der queeren Scham oder das neoliberale Versprechen von „Self Care“. Bis hin
       zu der Frage, wie viele „unreal estates“, also konsuminspirierte
       Traumschlösser von einem guten Leben, man selbst so bewohnt.
       
       24 Sep 2021
       
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