# taz.de -- Neuwahlen in Kanada: Trudeau zittert um seinen Posten
       
       > Kanadas Premier Justin Trudeau ließ die Wahlen vorverlegen, um mit
       > absoluter Mehrheit weiterregieren zu können. Genau das nehmen ihm viele
       > übel.
       
 (IMG) Bild: Zumindest ein erfolgreicher Wahlkämpfer: Premier Trudeau mit Anhängern in Montreal
       
       VANCOUVER taz | Es ist ein regnerischer Herbstabend in einem Autokino in
       Oakville, einer Vorortgemeinde im Speckgürtel von Toronto. Justin Trudeau
       ist mit seinem roten Wahlkampfbus vorgefahren zu einer Rallye unter
       Coronabedingungen: Dutzende Parteianhänger des kanadischen Premierministers
       sind mit ihren Autos gekommen, blinken mit den Scheinwerfern und hupen, als
       Trudeau die Bühne vor der Kinoleinwand betritt.
       
       „Lasst uns den Kampf gegen Corona erfolgreich beenden. Lasst uns an einer
       besseren Zukunft arbeiten, in der niemand zurückgelassen wird“, ruft er und
       verweist auf seine Erfolge: Dank hoher Impfquote und großzügiger
       Sozialleistungen sei Kanada besser durch die Krise gekommen als viele
       andere Länder. 95 Prozent aller Jobs, die wegen Corona gefährdet waren,
       habe man retten können, sagt er.
       
       Es ist eine Bilanz, von der Trudeau profitieren will. Zwei Jahre [1][vor
       Ablauf der Legislaturperiode] hatte der Premier vorzeitig Neuwahlen
       ausrufen lassen mit dem Kalkül, die Kanadier würden seinen Krisenkurs
       belohnen.
       
       Statt wie derzeit als Chef einer Minderheitsregierung, die auf Stimmen aus
       der Opposition angewiesen ist, möchte er mit absoluter Mehrheit
       weiterregieren. Doch der Plan könnte nach hinten losgehen. Am Montag wird
       zwischen Halifax und Vancouver gewählt, und glaubt man Umfragen, muss der
       einstige politische Shooting-Star im ungünstigsten Fall sogar mit seiner
       Abwahl rechnen. Die meisten Demoskopen sagen ein Kopf-an-Kopf-Rennen
       zwischen Trudeaus liberaler Partei und der konservativen Opposition voraus
       – Ausgang ungewiss.
       
       ## Erfolgreiche Coronapolitik
       
       Trudeaus größtes Problem: Drei von vier Kanadiern nehmen ihm den Machtpoker
       übel. Kanada steckt derzeit in der vierten Welle der Pandemie, muss sich
       mit den Folgen der verheerenden [2][Waldbrände im Westen des Landes]
       befassen und die Niederlage im Afghanistankrieg verdauen, an dem 40.000
       kanadische Soldatinnen und Soldaten beteiligt waren. Nach Neuwahlen ist
       kaum jemand zumute.
       
       Wo immer Trudeau dieser Tage auftritt, muss er sich rechtfertigen. „Kanada
       steht an einem Wendepunkt“, erklärt er bei seinem Auftritt in Oakville und
       fügt hinzu: Die Kanadier hätten jetzt ein Recht zu entscheiden, wie das
       Land aus der Pandemie und wirtschaftlich in die Zukunft geführt werden
       solle. Es ist ein Argument, das nur wenige Kanadier wirklich überzeugt.
       
       Wie schwierig die Lage ist, zeigt die Tatsache, dass Trudeau überhaupt nach
       Oakville kommen muss. Denn eigentlich sollte seine liberale Partei den
       Wahlkreis im Süden von Toronto sicher in der Tasche haben. Immerhin bewirbt
       sich in Oakville seine für die Beschaffung der Corona-Impfungen zuständige
       Ministerin um ein Mandat – die dabei nachweislich einen guten Job gemacht
       hat.
       
       Tatsächlich wird Trudeaus Regierung in Kanada eine erfolgreiche
       Coronapolitik nachgesagt. Rund 70 Prozent aller Kanadier sind mittlerweile
       voll geimpft und im internationalen Vergleich halten sich die
       Delta-Inzidenzen in weiten Teilen des Landes in Grenzen. Anfang September
       konnte Trudeau das Land nach über 17 Monaten wieder für internationale
       Besucher öffnen.
       
       Im Wahlkampf verspricht er mehr: Trudeau befürwortet eine Impfpflicht für
       den öffentlichen Dienst und will von allen Flug- und Bahnreisenden einen
       Impfausweis verlangen. Von radikalen Impfgegnern wird er deswegen
       beschimpft. Die Mehrheit der Kanadier dagegen unterstützt seinen Kurs.
       
       ## Trudeau – gar nicht mehr so beliebt
       
       Trotzdem muss Trudeau mit Verlusten rechnen. In Kanada werden Wahlen
       traditionell in den bevölkerungsreichen Vorstädten der Metropolen Toronto,
       Montréal und Vancouver entschieden. Dort sitzen viele jener
       liberal-gesinnten Wechselwähler aus der Mittelschicht, die Trudeau bei den
       letzten Urnengängen 2015 und 2019 zur Macht verhalfen.
       
       Doch dieses Mal dürften viele von ihnen aus Ärger über die Wahl zu Hause
       bleiben oder zur Opposition abwandern: zu den Konservativen, den
       Sozialdemokraten, den Separatisten in der Provinz Québec oder den
       Rechtspopulisten. Fast drei Viertel der Kanadier wünschen sich laut
       jüngsten Umfragen mehr oder weniger einen politischen Wechsel. Trudeaus
       persönliche Beliebtheitswerte befinden sich spätestens seit dem Ausrufen
       der Wahlen im negativen Bereich.
       
       Viele Wähler haben seine Fehltritte nicht vergessen: seinen Urlaubsflug auf
       die [3][Privatinsel des Aga Khan] in der Karibik etwa oder seine
       [4][Partynächte mit Blackfacing] aus Jugendzeiten. Nicht zu vergessen die
       [5][SNC-Lavalin-Affäre], bei der ihm vorgeworfen wurde, die Unabhängigkeit
       der Justiz zu gefährden.
       
       Dagegen konnte Oppositionsführer Erin O’Toole von den Konservativen mit
       einem geschickten Wahlkampf Punkte gutmachen. Der ehemalige
       Luftwaffenoffizier und gelernte Anwalt sitzt seit 2012 im Parlament und
       vertritt in gesellschaftlichen Fragen wie Abtreibung oder Homoehe
       persönlich moderate Positionen. Er hat versprochen, viele Reformen Trudeaus
       nicht zurückzudrehen.
       
       ## Hoffen auf den Wahlkampf
       
       Bei den drei Fernsehdebatten der Spitzenkandidaten agierte O’Toole
       unauffällig und bot Trudeau nur wenige Angriffsflächen. Dabei setzt er
       andere Prioritäten: O’Toole will den [6][Waffenbesitz liberalisieren], ist
       gegen verpflichtende Impfpässe und befürwortet einen zurückhaltenden Kurs
       beim Klimaschutz. Bislang konnte Trudeau von diesem Kontrast allerdings nur
       wenig profitieren.
       
       Am Ende des Abends verspricht Trudeau seinen Anhängern in Oakville, auf der
       Zielgeraden noch einmal alles zu versuchen. Ein guter Wahlkämpfer ist er,
       das hat er bewiesen: Bei der Wahl 2015 hatte er als Senkrechtstarter
       überraschend Ex- Premierminister Stephen Harper aus dem Amt gejagt. 2019,
       ebenfalls eine Zitterpartie, konnte er die [7][Wahl] trotz schlechter
       Umfragen auf den letzten Metern noch drehen. Ob es ihm noch einmal gelingt?
       
       19 Sep 2021
       
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       ## AUTOREN
       
 (DIR) Jörg Michel
       
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